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Mecklenburg-Vorpommern: Echte Vielfalt für alle

In Mecklenburg-Vorpommern wird am 4. September 2016 ein neuer Landtag gewählt. Der Wahlkampf hat längst begonnen – zumindest vonseiten der AfD.

von Rachel Spicker
Bekannt ist die AfD in MV für ihre asylfeindliche Positionierung im Rahmen der aktuellen Debatten um die Aufnahme von Geflüchteten. Daneben und bisher wenig diskutiert vertritt die AfD sowohl auf Bundesebene als auch in MV diskriminierende Positionen in der Familien- und Geschlechterpolitik. Bei einem Einzug der AfD in den Schweriner Landtag werden schwerwiegende Folgen für die Gleichstellung von Frauen, (geflüchteten) Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*, Inter*(LSBT*I*) sowie ihren Selbstorganisationen befürchtet. Eine demokratische Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie Chancengleichheit und Gleichstellung für alle ermöglicht. Umso wichtiger ist es jetzt, die familien- und geschlechterpolitischen Positionen der AfD auf Bundes- und Landesebene zu beleuchten und mögliche Konsequenzen und Handlungsstrategien für Frauenverbände sowie die LSBT*I* Community und ihre Unterstützer_innen aufzuzeigen.

Lebensrealitäten von LSBT*I* in MV – aktuelle Entwicklungen

Noch immer finden unterschiedliche Perspektiven und Bedürfnisse von LSBT*I* in Mecklenburg-Vorpommern kaum Berücksichtigung. Im gesellschaftlichen Zusammenleben und auf politischer Ebene sehen sie sich mit individuellen, aber auch strukturellen Benachteiligungen gegenüber ihren Lebensentwürfen konfrontiert. Neben sozialer Ausgrenzung ist ihr Alltag geprägt von abfälligen Bemerkungen in der Schule oder auf der Arbeit, Beschimpfungen auf der Straße oder sogar körperlichen Angriffen. Dennoch ist im letzten Jahr einiges in MV in Bewegung gekommen, wie die folgenden drei Beispiele zeigen. Ende 2015 wurde von der Landesregierung ein Landesaktionsplan für die „Gleichstellung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in Mecklenburg-Vorpommern“ verabschiedet. Gemeinsam mit Selbstorganisationen und Verbänden soll darin die Diskriminierung von LSBT*I* sichtbar gemacht und Handlungsstrategien gegen individuelle und strukturelle Ausgrenzungsmechanismen erarbeitet werden. Beispielsweise soll sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Aus- und Weiterbildung von Polizei und Justiz mehr Berücksichtigung finden, professionelle Unterrichtsmaterialien für Lehrkräfte zu geschlechtlichen Identitäten und sexueller Selbstbestimmung erarbeitet werden und Kontakt- und Informationsangebote von Selbstorganisationen unterstützt werden. Darüber hinaus hat der Partnerverein der Amadeu Antonio Stiftung Lola für Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern e.V. mit Unterstützung der Stiftung und des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ das Modellprojekt „un_sichtbar“ ins Leben gerufen, um die Lebensrealitäten, Ausgrenzungserfahrungen und Widerständigkeiten von Lesben, Schwulen und Trans* in MV in Geschichte und Gegenwart zu erforschen. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit Schüler_innen, Studierenden und anderen Interessierten anhand von Archivrecherchen und Interviews erarbeitet. Aus den Ergebnissen entsteht eine Wanderausstellung, die in Mecklenburg-Vorpommern und anderen Bundesländern auf Reisen gehen wird. Ziel ist es, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sichtbar zu machen, die Erinnerungskultur vor Ort zu stärken und die Selbstorganisation von Schwulen, Lesben und Trans* zu unterstützen. Zusätzlich haben anlässlich des Internationalen Tages gegen Homo- und Trans*feindlichkeit am 17. Mai in Rostock erstmalig eine Bandbreite an Selbstorganisationen wie der Rat und Tat e.V. und die Redaktion des LOHRO Radios zusammengearbeitet, um die Öffentlichkeit für die Lebenswelten von LSBT*I* Bürger_innen und Geflüchteten in MV zu sensibilisieren und den Austausch der Selbstorganisationen untereinander zu fördern.

Für die Familie als „Keimzelle der Nation“ – gegen „Gleichstellungsjakobiner“

Sowohl das Grundsatzprogramm der AfD als auch das Wahlprogramm des Landesverbandes der AfD in MV verdeutlichen familien- und geschlechterpolitische Ansichten, die von traditionellen Familienbildern, heterosexuellen Beziehungskonzepten sowie homo- und transfeindlichen Einstellungen geprägt sind. Die AfD bezeichnet die Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ und propagiert ein traditionelles Familienbild bestehend aus Vater, Mutter und Kind. Die Ehe und die traditionelle Familie sollen geschützt und finanziell besser gestellt werden. Im Landeswahlprogramm der AfD in MV heißt es, dass zwar andere Lebensgemeinschaften akzeptiert werden, sie aber keine vergleichbare Verankerung und Schutz wie der Status der traditionellen Familie und Ehe im Grundgesetz erhalten sollen. Alternative Lebensformen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden nicht als Familie anerkannt und somit politisch und strukturell diskriminiert.

Auf geschlechterpolitischer Ebene sind Gender Mainstreaming und Gender Studies die zentralen Feindbilder der AfD und auch NPD. Das Konzept Gender Mainstreaming wurde entwickelt, um in politischen Entscheidungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen die unterschiedlichen Lebensrealitäten und Bedürfnisse von Frauen und Männern zu berücksichtigen. Ziel ist es, eine Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, sodass Frauen beispielsweise für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten wie Männer. Auf Bundes- und Landesebene vertritt die AfD die Ansicht, dass Gender Mainstreaming das traditionelle Familienkonzept bedrohe, traditionelle Geschlechterrollen stigmatisiere und vermeintlich natürliche Unterschiede zwischen Mann und Frau negiere. Die Umsetzung geschlechterreflektierender Maßnahmen soll nicht weiter gefördert, sondern unterbunden werden. Zusätzlich werden Quotenregelungen wie die Frauenquote und die Verwendung geschlechtersensibler Sprache abgelehnt. Im bildungspolitischen Bereich wird die Aufklärung über sexuelle Vielfalt und geschlechtliche Identitäten als Teil des Lehrplans in Schulen abgelehnt. Im Landeswahlprogramm der AfD in MV heißt es, dass sich die Unterrichtsinhalte an den Lebensrealitäten von Mehrheiten zu orientieren habe.

Gender Studies erforschen die Entwicklungen von Geschlechterverhältnissen und dessen Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft unter Berücksichtigung zentraler Kategorien wie Macht und Ungleichheit. Der AfD-Landesverband in MV fordert „ideologiefreie Hochschulen“ und bezeichnet die Gender Studies als unwissenschaftliche, politisch motivierte Forschung. Sowohl im Bundesprogramm als auch im Landeswahlprogramm will die AfD, dass die staatliche Förderung von Gender Studies Professuren und geschlechterreflektierender Forschung eingestellt und der Forschungsbereich gänzlich abgeschafft wird. Dass sie im selben Atemzug für eine freie Lehre und Forschung wirbt, scheint nicht als Widerspruch wahrgenommen zu werden.

Die Lebensrealitäten von Schwulen, Lesben, Bisexuellen sowie Trans* und Inter* werden von der AfD weder anerkannt noch akzeptiert. Sexuelle Vielfalt und geschlechtliche Identitäten jenseits heterosexueller Vorstellungen bleiben in allen politischen Bereichen unberücksichtigt und werden benachteiligt. Darüber hinaus sollen bestehende geschlechterreflektierende Maßnahmen und Programme zur Förderung eingestellt werden. Auch werden mögliche Zusammenhänge verschiedener Diskriminierungsformen aufgrund unterschiedlicher Herkunft, geschlechtlicher Identitäten, sexueller Orientierungen und weiteren Aspekten innerhalb der politischen Agenda ignoriert. Beide Wahlprogramme knüpfen an gängige in der Gesellschaft vorherrschende Feindlichkeiten gegenüber LSBT*I* an und treten dafür ein, diese Feindlichkeiten politisch zu legitimieren und zu zementieren.

Was jetzt zu tun ist – mögliche Konsequenzen und Handlungsstrategien

Eckhard Brickenkamp, Vorstandsmitglied beim Rat und Tat e.V. in Rostock, befürchtet schwerwiegende Folgen für die LSBT*I* Community bei einem Einzug der AfD: „Ich geh davon aus, dass der Landesaktionsplan nicht weiter umgesetzt wird und wir mit Kürzungen im Präventions- und Aufklärungsbereich rechnen müssen“. Seine Befürchtungen sind nicht unberechtigt. Der AfD-Landtagskandidat Holger Arppe, erstinstanzlich wegen Volksverhetzung verurteilt, ließ zum Landesaktionsplan verlautbaren, dass „eine mächtige Minderheit von Berufshomosexuellen und selbsternannten Minderheitenlobbyisten“ den Landesaktionsplan erarbeitet hätten und angetreten seien, um den Machterhalt der jetzigen Landesregierung zu sichern. Seiner Meinung nach liege es an der AfD, die Umsetzung des Landesaktionsplans zu verhindern. Eckhard Brickenkamp warnt, dass ein Wahlerfolg der AfD die Unterstützung von Selbstorganisationen, welche größtenteils unterfinanziert sind, behindern und somit die Arbeit zusätzlich erschweren könnte. Betroffen wären auch Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt werden und in Mecklenburg-Vorpommern Asyl beantragen. Schon lange fordern Berater_innen von verschiedenen Initiativen die Erlaubnis zur Begleitung von LSBT*I*-Geflüchteten zur Anhörung im Asylverfahren, um sie zu unterstützen und die Behörden für eine geschlechterreflektierte Anhörung zu sensibilisieren. Diese Forderung könnte ebenfalls abgelehnt werden. Claudia Kajatin, Geschäftsführerin des Landesfrauenrates in MV, teilt die Sorgen von Eckard Brickenkamp: „Wir könnten Gleichstellungsthemen nicht mehr in politische Prozesse einspeisen. Und damit nicht mehr eine Stimme der Vielfalt im Land sein, die die unterschiedlichsten Interessen von Frauen und Männern in ihren ganz individuellen und bunten Lebenslagen und -modellen vertritt.“

Bereits im September 2015 verabschiedete die AfD als erste Partei ihr Landeswahlprogramm. So konnte der Wahlkampf frühzeitig starten: Mit aktuell 84 angemeldeten Wahlkampfveranstaltungen allein in Rostock ist der Terminkalender bis zur Wahl mehr als voll. Das Ziel des AfD-Landesverbandes ist es, als stärkste Kraft in den Schweriner Landtag einzuziehen. Aktuelle Umfragewerte des Wahlforschungsinstituts infratest dimap sagen der rechtspopulistischen Partei 18 Prozent voraus (Stand: 28.04.2016). Die anderen Parteien veröffentlichten ihre Wahlprogramme rund acht Monate später als die AfD – erst vier Monate vor den Landtagswahlen. Inhaltlich und organisatorisch haben sie der AfD im bisherigen Wahlkampf zu wenig entgegengesetzt.

„Deshalb müssen wir noch vor der Landtagswahl über die politischen Ziele der AfD aufklären, konkrete Forderungen zum Landtagswahlkampf formulieren und deutlich machen, welche Parteien sich für unsere Rechte einsetzen und wählbar sind“, betont Brickenkamp. Er schlägt vor, dass die Forderungen gemeinsam auf dem Christopher Street Day am 16. Juli in Rostock präsentiert werden könnten, der im Rahmen der „Hansegay Kulturwochen“ unter dem Motto „Echte Liebe – Echte Vielfalt – Echte Akzeptanz – Echt für Alle“ stattfindet. Dazu ist es notwendig, die Netzwerke innerhalb der Community stärker auszubauen und enger zusammenzuarbeiten. Zusätzlich müssen die anderen Parteien mit ihren Vorschlägen zur Geschlechter- und Familienpolitik konkrete Gegenentwürfe präsentieren und sich für die Bereitstellung von Haushaltsmitteln zur Umsetzung des Landesaktionsplans einsetzen. Auch Claudia Kajatin fordert gemeinsame Aufklärungskampagnen für eine breitere Öffentlichkeit „weil die AfD unsere Themen besetzt, diese aber wie beispielsweise bei der Hetze gegen Gender Mainstreaming völlig falsch darstellt.“ Gerade jetzt braucht Mecklenburg-Vorpommern mehr Kooperationspartner_innen wie die Amadeu Antonio Stiftung, die sich mit den Selbstorganisationen und ihren Forderungen solidarisieren und sie langfristig unterstützen.

Foto: Hans Schlechtenberg

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