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Sarajevo sur Seine – was bleibt?

„Netzwerken“, „austauschen“, „voneinander lernen“. Formulierungen, die jeder politisch aktive Mensch schon oft gehört und auch selbst verwendet hat, und die auch in Förderanträgen oft auftauchen. Also: 1000-mal gehört, 1000-mal für wichtig befunden und 1000-mal das Gefühl gehabt, sie nur zum Teil zu verstehen. Ging zumindest mir so. Bis sich völlig unverhofft die Möglichkeit ergab, als Vertreterin der Amadeu Antonio Stiftung an einem Seminar des ‚European Grassroots Antiracist Movement‘ teilzunehmen. Das Programm klang vielversprechend: fünf Tage Workshops und gemeinsame Ausflüge, z.B. zum Shoah-Memorial, zum Einwanderungsmuseum und drei Tage „Sarajevo Sur-Seine“-Filmfestival. Ich packte also meinen Koffer, im Hinterkopf den Wunsch, diese Worthülsen für mich mit Inhalt zu füllen.

Ankommen, (kennen-)lernen, loslegen

Am Samstagabend kam ich in Paris an und war direkt mitten im Programm. Mit dabei Menschen aus Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kroatien, Italien, Spanien, Frankreich, Österreich, Großbritannien, der Ukraine, der Türkei, Griechenland, Russland, Ungarn, Rumänien, Litauen und Polen. Alle waren Aktivist_innen verschiedener Stiftungen und NGOs wie zum Beispiel SOS Racisme, YIHR Bosnien-Herzegowina, Open Republic aus Polen und Memorial aus Russland, um nur einige zu nennen. Allein einen Überblick über Namen und Länder zu bekommen, war nicht ganz leicht. Gemeinsam galt es ein acht-Tage-Programm zu bestreiten, das ebenso voll wie vielfältig war. Es gab Workshops zu Themen wie Erinnerungskultur, Diskriminierung und Antisemitismus in den jeweiligen Ländern, Terrorismus und Podiumsdiskussionen mit Teilnehmer_innen aus den Bereichen Geflüchtetenhilfe, Wissenschaft, Mitarbeiter_innen von Erinnerungsorten und Leuten, die Aufklärungsarbeit zu Genoziden, wie dem in Ruanda, betrieben hatten. Ab Donnerstag standen zudem mehrere Dokumentarfilme auf dem Plan.
Die begnadete Rednerin Nonna Mayer (Professorin der Science Po Universität) beeindruckte mich besonders, und ihr Vortrag über den Front National in Frankreich, den sie seit dessen Gründung erforscht, gehört zu meinen persönlichen Highlights der Reise. Unter anderem auch deshalb, weil sie ihre ungeheure Expertise ungemein gut teilen konnte, was mir die Informationen noch lange lebhaft in Erinnerung bleiben lassen wird. Mein bis dato rudimentäres Wissen zum FN wurde hier also ohne Frage nachhaltig aufgestockt.

Raus aus der Komfortzone

Und das war weder der erste noch der letzte Moment, in dem mir bewusst wurde, wie viel ich zu vermeintlich deutschen Problemen weiß und wie verhältnismäßig wenig zu den Problemlagen in anderen europäischen Ländern. Es zeigte sich auch in den intensiven Workshop-Diskussionen und persönlichen Unterhaltungen davor und danach, in einer Sprache, die nicht die Muttersprache war und notgedrungenen Wortschöpfungen enthielt. So ist zum Beispiel der Diskurs um innere Sicherheit in Deutschland und Frankreich vielleicht noch vergleichbar, in Serbien und Bosnien-Herzegowina ist er hingegen ein ganz anderer. Ebenso die Diskussion zu Fake News und Hate Speech, Themen, zu denen die Amadeu Antonio Stiftung (vor allem das Projekt debate//de:hate) viel arbeitet und zu denen auch andere Organisationen aktiv sind. Während es in Deutschland also eine Debatte dazu gibt und politische Arbeit legal ist und teilweise gefördert wird, geht in manchen Ländern Hate Speech von oberster Stelle aus. Diese und zahlreiche weitere Beispiele wurden vor allem durch die persönlichen Berichte sehr viel realer und ließen mich immer wieder vergegenwärtigen: Trotz Erfahrungen mit bürokratischen Hürden und polizeilicher Repression befinden sich die meisten politisch aktiven Menschen in Deutschland in einer vergleichsweise sehr privilegierten Lage. Diskussionen zwischen den Teilnehmer_innen fanden daher zwar auf Augenhöhe statt, aber die Ausgangsvoraussetzungen waren doch sehr verschieden.

Ein Eindruck, der bleibt

Gleichzeitig bot das Zusammenkommen von Aktivist_innen aus insgesamt 15 verschiedenen Ländern reichlich Gelegenheit, über die jeweilige politische Situation zu reden und viel über regionale Geschichte zu lernen. Auch die Gespräche mit den Direktor_innen der gezeigten Filme waren teilweise sehr emotional. Vor allem der Film „My own private war“ über das Ringen der Filmproduzentin mit ihrer Vergangenheit und der Geschichte des Jugoslawienkriegs bot einen sehr persönlichen Einblick in ihre Geschichte und ihre Welt.
Die direkten Gespräche mit den Direktor_innen und Seminarteilnehmer_innen haben mich eben doch ganz anders erreicht, als es Texte zum Thema oder eine Doku schaffen würden. Es ist ein Eindruck, der bleibt. Zudem war es möglich, an jeder Stelle nachzufragen und tiefer zu gehen. Ein wichtiger Nebeneffekt dieser Gespräche war, dass ich mit der bisweilen überraschenden Außenperspektive auf Deutschland konfrontiert wurden. Eine Sicht, die ich innerhalb meiner üblichen Kreise und der eigenen Arbeit so nicht kannte. So viel also zum Voneinander-lernen. Und Netzwerken?
Netzwerken beginnt schon mit dem oben beschriebenen Austausch – z.B. zu den Themen Erinnerungskultur, Antisemitismus, rechte Parteien, Wahlkämpfe – und geht da weiter, wo aus den Einzelperspektiven eine gemeinsame geformt wird: wenn man überlegt, wie man Projekte auf zusammen umsetzen könnte. So zum Beispiel der Vorschlag, länderübergreifend an die Genozide in Ruanda und Armenien zu erinnern oder gemeinsam Orte von Genoziden wie z.B. Lety in Tschechien zu besuchen.

Und nun?

Was nehme ich nun also mit aus neun Tagen intensiven Programms, zahlreichen Debatten in manchmal holprigem Englisch, den Filmen aus dem angeschlossenen „Sarajevo Sur-Seine“-Festival, den Workshops und den Inputs?
Zum einen ein besseres Verständnis davon, dass in den auf dem Workshop vertretenen Ländern viel wichtige und beeindruckende politische Arbeit geleistet wird, die zum Teil durch erhebliche Repression von Engagierten viel abverlangt. Und ja, natürlich wusste ich auch vorher schon, dass es in anderen Regionen coole Projekte gibt, aber die Leute aus diesen Projekten kennenzulernen und ihre Geschichten zu hören, verlieh der bis dato grauen Vorstellung von ihrer Arbeit Farbe.
Zudem ist mir einmal mehr bewusst geworden, dass ich trotz meines Interesses an anderen Ländern stark vom westeuropäisch zentrierten Politikdiskurs beeinflusst bin. Vor allem der Blick nach Südosteuropa fehlte mir bislang ziemlich. Im Austausch mit Leuten aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien wurden meine Wissenslücken deutlich, aber auch meine Lust geweckt, die Region kennenzulernen und mich weiter mit ihrer Geschichte zu befassen.

Und zu guter Letzt wurde mir klarer, dass Problemlagen hier in Deutschland natürlich wichtig sind, und mindestens genauso wichtig ist das Engagement dagegen. Aber ich habe einmal mehr verstanden, dass Engagement und Problembewusstsein nicht an den nationalen Grenzen aufhören darf. In diesem Sinne: Thanks, Merci, Spaciba und vielen Dank an das Team von EGAM für die Erinnerung daran, dass es sich lohnt – auch für die Amadeu Antonio Stiftung –, auch in Zukunft „Austausch“, „Netzwerken“ und „Voneinander-lernen“ im Rahmen von Konferenzen, Vorträgen und vielen anderen Veranstaltungen zu unterstützen.
Von Anne Gehrmann

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