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Interview

Beraten, begleiten, empowern – Praxisstelle ju:an im Interview

Das Projekt ju:an – Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit setzt Impulse für eine nachhaltige antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit. Im Interview erklärt das Projektteam, welcher Ansatz dahinter steckt, was die Herausforderungen in der Jugendabreit sind und auf welche Erfolge sie zurückschauen können.

»ju:an – Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit« – ein langer Projekttitel. Was verbirgt sich dahinter genau? Was ist euer Ansatz?

Die Praxisstelle unterstützt als innovatives und überregionales Modellprojekt Offene Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen dabei, wie sie Antisemitismus und Rassismus in Ihrem Praxisalltag präventiv und nachhaltig begegnen können. Hierfür bieten wir verschiedene Beratungen und Konzepte an. Dabei arbeiten wir zum einen mit Ansätzen, die Antisemitismus und Rassismus zusammendenken und bearbeiten, so dass die präventive Arbeit gegen diese menschenfeindlichen Ideologien verknüpfend ausgerichtet ist. Die Vernetzung mit anderen engagierten Akteur*innen aus Praxis, Wissenschaft, Politik und Verwaltung mit unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen spielt eine große Rolle für uns. Eines unserer wichtigen Themen sind außerdem die Beratungs- und Bildungsangebote zu Empowerment für Pädagog*innen und Jugendlichen mit eigenen Diskriminierungserfahrungen. Zusammen gefasst ist unser Ansatz, antisemitismus- und rassismuskritische Perspektiven als Querschnittsthema in der Jugendarbeit zu etablieren und zu festigen. In unserer Broschüre „Läuft bei dir!“ Konzepte, Instrumente und Ansätze der antisemitismus – und rassismuskritischen Jugendarbeit haben wir unsere vielfältige Arbeit näher beleuchtet.

Antisemitismus stellt ein gesamtgesellschaftliches Problem dar, wie jüngst der Antisemitismusbericht der Bundesregierung aus dem April 2017 herausstellte. Was ist in Hinblick darauf für die Jugendarbeit derzeit die größte Herausforderung?

Die größte Herausforderung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ist, dass Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen oftmals nicht direkt erkannt wird und daher ein grundlegendes Wissen der Fachpädagog*innen erfordert, um gezielt intervenieren zu können. Die Bearbeitung von Antisemitismus und speziell Israelbezogenem Antisemitismus kann nur erfolgreich sein, wenn pädagogische Fachkräfte sich einer selbstkritischen Reflexion eigener Deutungen und Sichtweisen stellen. Um diese Notwendigkeit an einem aktuellen Beispiel zu konkretisieren: Obwohl der Antisemitismusbericht klar formuliert, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt, beobachten wir gegenwärtig dass Antisemitismus vor allem Jugendlichen, die muslimisch markiert sind, zugeschrieben wird – auch durch Fachpädagog*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Antisemitismus auf eine scheinbar identifizierbare Gruppe auszulagern, verschleiert nicht nur Antisemitismus als ein gesamtgesellschaftliches Problem, sondern (re)produziert zudem rassistische Narrative und, auf das obige Beispiel bezogen – antimuslimische Ressentiments. Zugleich ist es erforderlich, antisemitische und weitere menschenfeindliche Äußerungen ernst zu nehmen und nicht etwa als „schlechten Witz oder unwichtigen Kommentar“ zu verharmlosen – ganz unabhängig davon, wer sie äußert. Nur so können wir wirkungsvoll Antisemitismus und weiteren menschenfeindlichen Ideologien entgegentreten. Umso wichtiger ist es deshalb, die Einrichtungen für das Thema Antisemitismus und Rassismus zu sensibilisieren und gemeinsam wirksame pädagogische Interventionen zu entwickeln.

Wie kann Antisemitismus in der Jugendarbeit rassismuskritisch bearbeitet werden?

Antisemitismus und Rassismus haben unterschiedliche historische Entstehungsgeschichten. Zugleich sind sie Ideologien der Ungleichwertigkeit, die durch eine Konstruktion eines „Wir“ versus „die Anderen“ geprägt sind. Um antisemitische Ressentiments, Vorurteile und Einstellungen in der pädagogischen Praxis wirksam bearbeiten zu können, ist ein grundlegendes Wissenüber die Gemeinsamkeiten undUnterschiede von Antisemitismus und Rassismus eine wichtige Voraussetzung – Dieses Wissen, die Verwobenheiten beider Ideologien miteinander zu verstehen und gleichzeitig zu verhindern, dass Rassismus in Kontexten der Antisemitismus-Prävention und Antisemitismus im Namen der rassismuskritischen Arbeit reproduziert werden. Mechanismen und Wirkweisen von Antisemitismus und Rassismus sind komplex und daher nicht immer leicht zu erkennen. Sie sind Teil eines tief verwurzelten gesellschaftlichen Selbstverständnisses, haben eine lange Geschichte und erfüllen bestimmte soziale Funktionen. Dadurch können sie mitunter entscheidend für Teilhabe an und Ausschluss von der Mehrheitsgesellschaft sein. Um zu verhindern, dass Menschen ausgeschlossen und diskriminiert werden, verfolgt antisemitismus- und rassismuskritische Bildungsarbeit deshalb das Ziel, sich dieser gesellschaftlichen Verhältnisse und der eigenen Verstrickungen bewusst zu werden und sie (selbst)kritisch zu reflektieren – allen voran in der Jugendarbeit.

Wie können besonders Jugendliche und Sozialarbeiter_innen, die von Rassismus betroffen sind, gestärkt werden? Welche praktische Unterstützung könnt ihr leisten?

Das Stichwort ist ganz klar: Empowerment – die Selbst-Ermächtigung der Betroffenen. So vielfältige Ansätze von Empowerment es mittlerweile gibt: Als emanzipatorisches Strategie- und Handlungskonzept stellen sie sich alle gegen „Defizit-Ansätze“ und Defizit-Perspektiven auf Menschen, die von Antisemitismus und Rassismus betroffen sind. Auf der Basis geteilter Erfahrungen stehen die Ressourcen und Potenziale von Einzelnen und/oder Gruppen im Zentrum. Die ju:an Praxisstelle bietet beispielsweise Empowerment Workshops an, sowohl für Jugendliche als auch Fachpädagog*innen aus der Offen Kinder- und Jugendarbeit. Außerdem begleiten und beraten die Praxisstellen in Berlin und Hannover Einrichtungen bei der Entwicklung von Empowermentprojekten. Eines unserer Highlights in der Vergangenheit war der Hotspot of Power im November 2016 in Hannover – eine Empowermentkonferenz von und für Jugendliche und junge Erwachsene mit Rassismuserfahrungen. Hier hat ein Netzwerk von zehn jungen Menschen of Color in einem dreiviertel Jahr ehrenamtlicher Arbeit eine Empowermentkonferenz für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 27 Jahren, die von Rassismus betroffen sind, auf die Beine gestellt. Unterstützt wurden sie dabei von ju:an und dem Mädchenhaus zwei13 e.V. Im Mittelpunkt der Konferenz stand der Wunsch der Jugendlichen nach einem stärkenden Austausch ohne Vorverurteilung und Stigmatisierung. Ausgehend von der Frage „Was bedeutet es für mich als junger Mensch of Color in Deutschland zu leben“ haben sich die ca. 70 Teilnehmer*innen der Konferenz mit Themen und Inhalten rund um Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Empowerment und politischer Partizipation auseinandergesetzt. Zudem haben wir die Broschüre „Einen Gleichwertigkeitszauber wirken lassen … – Empowerment in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit verstehen“ entwickelt, in der jüdische, schwarze und Expert_innen of Color interviewt werden und ihre Perspektiven auf Empowerment in der Kinder- und Jugendarbeit mit uns teilen.

Ihr seid mit dem Projekt nun schon seit einigen Jahren aktiv – was habt ihr dabei selbst gelernt und welche Erfahrungen habt ihr gemacht?

Das Vorgängerprojekt hieß »ju:an – Jugendarbeit gegen Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsideologien«  und existierte 3 Jahre. Daraus hat sich das überregionale Modellprojekt »ju:an – Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit« entwickelt und besteht seit 2015 in Hannover und Berlin. Seitdem konnte die Arbeit der Praxisstelle als kompetenter Ansprechpartner und zentraler Akteur für eine antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit bekannt gemacht werden. Am Anfang unseres Projekts haben wir vor allem mit Jugendlichen zusammen gearbeitet. Uns wurde jedoch schnell klar, dass nicht nur die Jugendlichen in den Offen Jugendeinrichtungen für Antisemitismus und Rassismus sensibilisiert für werden müssen, sondern auch die Fachpädagog*innen selbst. Seitdem arbeiten wir übergreifend sowohl mit Jugendlichen, als auch mit Multiplikator*innen der Offen Kinder- und Jugendarbeit zusammen. Viele Einrichtungen konnten auch durch die Durchführung von Einzelmaßnahmen, Projektvorstellungen, Workshops und Kooperationsveranstaltungen für antisemitismus- und rassismuskritische Perspektiven sensibilisiert werden. Dennoch beobachten wir nach wie vor den hohen Bedarf unserer Arbeit in der Offene Kinder- und Jugendarbeit und verfolgen weiterhin das Ziel innovative Instrumente, Strategien und Methoden gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus und für Diversität, Empowerment und Inklusion strukturell zu implementieren.

Was sind eure nächsten Projekthighlights?

Dieses Jahr wird es in Hannover einen Hotspot of Power 2.0 „Summerbreak“ geben, in der die Jugendlichen sich weiterhin selbst organisieren mit Filmen, Musik und einfach auch nettem Zusammensein beim Grillen. Zudem wird es auch einen Film über die Empowermentkonferenz Hotspot of Power geben, der gerade geschnitten wird und in einem Showing mit Musik, Interviews und Texten der Beteiligten vorgestellt wird. Alles selbstverständlich DIY – Do ityourself! In Berlin bereiten wir ein partizipatives Jugendprojekt zum Thema Bildungsarbeit nach dem NSU vor, die in einer Fachveranstaltung im Herbst vorgestellt wird. Darüber hinaus veranstalten wir zwei weitere Praxiswerkstätten, in denen es um die zentrale Frage geht, wie Postkoloniale Theorie dafür genutzt werden kann, um antisemitismus- und rassismuskritische Perspektiven in der Jugendarbeit zu entwickeln. Und natürlich sind wir immer wieder auf unterschiedlichen Veranstaltungen und Tagungen bundesweit unterwegs, in denen wir unsere Arbeit vorstellen und neue Impulse für eine nachhaltige, präventive, antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit zu geben!

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