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Übersehen: Hetze gegen Roma

Wenn Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link in den letzten Wochen davon sprach, dass Sinti*ze und Rom*nja „ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen“, bedient er damit uralte antiziganistische Stereotype. Und die Berichterstattung macht mit.

Von Franziska Schindler

Uralte antiziganistische Stereotype werden wiederholt

Ausgangspunkt der Debatte ist der Anstieg der Personen, die Auslandskindergeld beziehen. Tatsächlich ist die Zahl derer von 232 189 im Jahr 2016 auf 268 336 im Juni 2018 gestiegen. Dass Städte, die mit Sozialbetrug konfrontiert sind, sich mit dessen Ursachen auseinandersetzen, ist berechtigt. Fraglich bleibt nur: wie. Und zutiefst problematisch ist, wenn – wie in den letzten Wochen durch Duisburg Oberbürgermeister geschehen – die Täterschaft auf Sinti*ze und Rom*nja reduziert wird. Damit bedient Link einerseits das uralte Narrativ der vermeintlich stehlenden Sinti*ze und Rom*nja. Wenn Link darüber hinaus davon spricht, dass Sinti*ze und Rom*nja „ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen“, schürt er damit Gewalt gegen die Minderheit: „Menschen über Abfall und Ratten zu charakterisieren, gehört zu den wirksamsten rhetorischen Mitteln, um sie zum Ziel von Herabsetzung und von körperlicher und psychischer Gewalt zu machen. Fäkal-Metaphorik stigmatisiert Menschen und unterstellt ihnen jenen außerzivilisatorischen Status, den die kolonialistische und totalitäre Rhetorik der Vergangenheit auf die Völker Afrikas, aber auch auf Juden, ‚Asoziale‘, Behinderte – und auf Roma und Sinti projizierte“ resümiert das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Dass Link mit seinen Aussagen an weit verbreiteten Antiziganismus anknüpft, belegt die Leipziger Mitte-Studie: im Jahr 2016 hatten 57% der Befragten angegeben, sie hätten ein Problem damit, wenn sich Sinti*ze und Rom*nija in ihrer Nachbarschaft aufhielten.

 

Europaweiter Antiziganismus: ein Jahresrückblick

Der Duisburger Oberbürgermeister reiht sich mit seinen Aussagen in einen europaweiten Reigen antiziganistischer Debatten und Gewalt ein. Bei einem Brandanschlag auf ein hauptsächlich von Rom*nja bewohntes Haus in Plauen Anfang Februar sterben zwei Menschen. Es ist bereits der dritte Anschlag auf von Rom*nja bewohnte Häuser in wenigen Wochen. Die Löscharbeiten der Feuerwehr wurden von umstehenden mit „Lasst sie verbrennen“-Rufen kommentiert. In der Ukraine wurde im Juni beim inzwischen fünften Angriff Roma-Camps binnen zwei Monaten ein 24-Jähriger mit 15 Messerstichen von Neonazis ermordet, vier weitere Personen wurden schwer verletzt. Wenig später schießt ein Geschäftsmann in Griechenland auf eine 13-jährige Romni und ihren Vater. Das Mädchen ist sofort tot. Ebenfalls im Juni fordert Italiens Innenminister Salvini, die dort lebenden Sinti*ze und Rom*nja zählen zu lassen, inzwischen hat das Regionalparlament der Lombardei die Zählung bereits beschlossen. Der Vorstoß erinnert an Volkszählungen von Minderheiten im Nationalsozialismus, die Grundlage für deren Deportation und anschließende Ermordung war. In Deutschland versucht die sächsische AfD, eine Zählung von Sinti*ze und Rom*nja per kleiner Anfrage zu veranlassen – und wird damit vom Innenministerium zurückgewiesen, denn „die Erhebung ethnischer Daten verbietet sich nach dem Grundgesetz“. Die einzig richtige Antwort auf einen dermaßen rassistischen Vorstoß.

Solange Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland leben, werden sie diskriminiert

Antiziganismus hat in Deutschland eine lange Tradition: seit Sinti*ze vor ca. 800 Jahren nach Deutschland einwanderten, werden sie diskriminiert. Wer sich einmal mit Volksliedern beschäftigt, kommt an den antiziganistischen Texten der Romantik kaum vorbei. Als die Idee des Nationalstaats in Deutschland Fuß fasste, wurden Sinti*ze und Rom*nja als Gegenbild der fleißigen deutschen Arbeiter*innen konstruiert. Der Völkermord an 500 000 Sinti*ze und Rom*nja wurde über Jahrzehnte aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt, auf Entschädigungszahlungen warten Überlebende und deren Angehörige bis heute. In den 90er Jahren werden Kinder der Minderheit, deren Familien im Zuge der Jugoslawien-Kriege nach Deutschland geflohen waren, zur effektiven Abschiebung  in die zerstörten Herkunftsländer direkt von der Schule abgeholt. Die Praxis weckt schmerzliche Erinnerungen an den Nationalsozialismus, wo Kinder aus der Schule abgeholt und in Konzentrationslager deportiert wurden. Gleichzeitig hält sich das Klischee der Bildungsferne von Sinti*ze und Rom*nja hartnäckig – der Zynismus der Geschichte ist kaum zu überbieten.

Medien machen mit

Die Rolle der Medien in den letzten Monaten ist nicht gerade rühmlich. Der Kinderfilm „Nelly’s Abenteuer“, der im Herbst 2017 im Kinderkanal ausgestrahlt wurde, reproduzierte hemmungslos den Stereotyp des goldzahnigen Romaboss mit Hut, der auszog, um das blonde Mädchen zu entführen. Weder Filmschaffende noch Filmfördernde – immerhin umfasste die staatliche Förderung 900 000 € – zeigten Verständnis für die Problematik. Die mehrfachen Brandanschläge gegen Rom*njafamilien in Plauen wurden von den überregionalen Medien erst zur Kenntnis genommen, nachdem zwei Menschen ums Leben gekommen waren. Die Berichterstattung über Kindergeldzahlungen reproduziert unkritisch die Stereotype des Duisburger Oberbürgermeisters.

 

Wiederholt sich gerade die Geschichte?

Auf eine gesellschaftliche Debatte zu warten, die endlich Antiziganismus zum Thema macht, scheint vergeblich. Dass antiziganistische Gewalt erst dann als solche erkannt und diskutiert wird, nachdem zwei Menschen zu Tode kamen, zeigt, wie gering die gesellschaftliche Sensibilisierung für Antiziganismus in Deutschland ist. Während Deutschland sich der Aufarbeitung des Nationalsozialismus rühmt, findet der Genozid an 500 000 Sinti*ze und Rom*nja wenig Beachtung. Die Erinnerung daran ist aber mehr als notwendig: die historische Kontinuität antiziganistischer Gewalt anzuerkennen, ist ein erster Schritt, um der systematischen Täter-Opfer-Umkehr ein Ende zu setzen.

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Sinti*zze und Rom*nja sind eine seit mehreren hundert Jahren in Europa lebende Bevölkerungsgruppe und die größte Minderheit Europas. Ihre Geschichte ist auch eine jahrhundertelange Erfahrung von Ausgrenzung, Abwertung und Diskriminierung – und genauso langer Kämpfe um Gleichberechtigung und Anerkennung. Der Internationale Tag der Roma erinnert an die Anfänge der Bürgerrechtsbewegung mit dem ersten Welt-Roma-Kongress, der am 8. April 1971 in London stattfand.

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„Erinnern heißt verändern“

Über ein Modellprojekt der Amadeu Antonio Stiftung erhalten seit Mitte 2023 elf Initiativen von Betroffene und Angehörige von rechten, rassistischen und antisemitischen Anschlägen sowie das gesamte Netzwerk Unterstützung für eine selbstbestimmte Erinnerungskultur. Gefördert wird das Projekt „Selbstbestimmt vernetzen, erinnern und bilden“ durch die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus.

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