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Vergessen verboten

2012 startete in Bremen das Projekt ‚Köfte Kosher‘. Jüdische und muslimische Jugendliche teilten ihre Diskriminierungserfahrungen, eigneten sich Wissen über verschiedene Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit an und gestalteten einen Erinnerungsort für Opfer rechtsmotivierter Gewalt. Was hat sich seitdem in der Hansestadt getan?

Von Vincent Weiler

Vor sechs Jahren rief die Künstlerin Elianna Renner das Projekt ,Köfte Kosher‘ ins Leben. Gemeinsam mit jeweils sechs jüdischen und muslimischen Jugendlichen gestaltete sie ein verwaistes Trafohäuschen im Bremer Viertel zu einem würdigen Gedenkpavillon für Todesopfer rechtsmotivierter Gewalt um. Es wurden – stellvertretend für die zwischen 1989 und 2017 offiziell gezählten 195 Opfer rechter Übergriffe mit Todesfolge – zwölf Konterfeis angebracht.

Inzwischen sind sechs Jahre vergangen. Den Gedenkportraits ist das heute deutlich anzusehen. Viele Bilder wurden beschmiert, einige gar mit eindeutig rassistischen Sprüchen. Der Hass ist nicht weniger geworden. Für Elianna Renner Anlass genug, ,Köfte Kosher‘ neuaufzulegen.

Biographische Parallelen
Was genau treibt die Kunstschaffende an? Ein Blick in ihre Biographie erklärt vieles: Elianna Renner wurde als Jüdin sowohl in ihrem Geburtsland Schweiz, als auch in ihrer Wahlheimat Deutschland wiederholt mit Antisemitismus konfrontiert. Nachhaltig schockiert war sie insbesondere von den antisemitischen Denkmustern und Vorurteilen in Teilen ihrer Schülerschaft während ihrer Lehrtätigkeit als Kunstlehrerin an Bremer Schulen.

Marwa El-Sherbini zog 2005 zusammen mit ihrem Mann, dem Genforscher Elwy Ali Okaz, von Ägypten an die Waterkant. 2008 folgte der Umzug nach Dresden. 2009 wurde die Ägypterin in der sächsischen Landeshauptstadt von einem antimuslimischen Rassisten ermordet. Beschämend war, dass die grausame Tat im Landgericht geschah. Mindestens genauso beschämend war die quasi non-existente Aufarbeitung in den deutschen Medien. Eine Muslima, die durch einen Rassisten getötet wurde, so schien es, sei keine Erwähnung wert.

Das Projektziel: Solidarisierung und Sichtbarmachung menschenfeindlicher Angriffe
Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten wie Marwa El-Sherbini und Elianna Renner sind häufig von rechtsextremer Gewalt betroffen. Überall in Deutschland. Auch in Bremen. Vernetzung zwischen und Solidarisierung mit Betroffenen ist deshalb essentiell. Genau das wollte die Schweizerin 2012 mit ihrem Projekt ,Köfte Kosher‘ erreichen. Damals hatten sich zwölf jugendliche Bremer*innen in einem ersten Schritt mit ihren eigenen – antisemitischen bzw. muslimfeindlichen – Diskriminierungserfahrungen auseinandergesetzt, ehe sie sich grundsätzlich mit den verschiedenen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit befasst hatten. Anschließend hatten sich die Teenager intensiv mit den Biographien von Opfern rechter Gewalt beschäftigt, bevor sie zum Abschluss des Projekts den Gedenkort gestalteten.

2018: Neuauflage von ,Köfte Kosher‘
Sechs Jahre später sind Idee und Organisatorin dieselbe, aber diesmal gibt es neue Teilnehmer*innen. Insgesamt beteiligten sich 18 Schüler*innen des beruflichen Gymnasiums Wilhelm Wagefeld Schule im Bremer Stadtteil Huchting. Ihr Lehrer, Christian Meier-Kahrweg, unterrichtet Gestaltung und Kunstgeschichte und sieht in dem Projekt auch die Chance, den Schüler*innen sowohl eigenständiges Arbeiten als auch Teamarbeit beizubringen.

Von Februar bis Ende Mai 2018 haben die Schüler*innen des Leistungskurses Gestaltung sechs Schulstunden pro Woche damit verbracht, zunächst die Lebensläufe der zwölf Opfer rechter Gewalt zu erforschen und anschließend Entwürfe zu gestalten. Entstanden sind Gedenktafeln mit Kurzbiographien der Todesopfer. So auch eine von Marwa El-Sherbini. Dieses Mal haben Renner und ihr Team die Langlebigkeit bedacht und graffitiabweisende Tafeln aus Acrylglas verwendet. Im Rahmen der Renovierung wurde dem ehemaligen Trafohäuschen ein frischer Anstrich verpasst. Des Weiteren hat sich Can Sezer, Virtual Reality-Programmierer, ein besonderes Highlight einfallen lassen: Auf sein Geheiß wurden QR-Codes angebracht, wodurch Interessierte bequem weitere Informationen zu den Opfern per Smartphone erhalten. Darüberhinaus können vorort 3D-Brillen ausgeliehen werden, die einen virtuellen Rundgang an den jeweiligen Tatorten ermöglichen.

Ein Platz schafft Bewusstsein
Die Wiedereinweihung des Gedenkortes wird verknüpft mit der Umbenennung des bisher namenlosen Platzes. Er heißt seit Mitte Oktober offiziell Marwa-El-Sherbini-Platz. Auf diese Weise wird rechtsextreme Gewalt ins Bewusstsein der Bremer*innen gerückt und zugleich einem Opfer jener Gewalt dauerhaft gedacht.

Wegen dieser zwei Anlässe versammelten sich am 18. Oktober ca. 200 Gäste. Initiatorin Renner ist überaus zufrieden: „Es herrscht gute Stimmung für so einen traurigen Anlass.“ Lehrer Meier-Kahrweg pflichtet ihr bei: „Es ist sehr gut gefüllt und die Resonanz positiv.“

,Köfte Kosher‘: Ein Herzensprojekt der Amadeu Antonio Stiftung
Die Rede von Meier-Kahrwegs Schüler Kevin Z. ist rührend. Er spricht über die durch ,Köfte Kosher‘ angeregte eigene Auseinandersetzung mit seinen angeborenen Privilegien und der daraus resultierenden Verantwortung: „Mir ist durch das Projekt bewusst geworden, was ich als weißer Europäer mit Rassismus zu tun habe.“ Bewusstsein für menschenfeindliche Behandlung bei Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft zu schaffen und gleichzeitig die Solidarisierung mit den Betroffenen voranzutreiben, dafür stand und steht ,Köfte Kosher‘. Kiana Ghaffarizad, Bildungsreferentin der Amadeu Antonio Stiftung, nennt ,Köfte Kosher‘ in ihrer Rede „ein Herzensprojekt der Stiftung und ein herausragendes Beispiel dafür, was lokales Engagement bewegen kann“. Das stimmt. Marwa El-Sherbini darf nicht vergessen werden. Gleichermaßen gilt das für alle anderen Opfer rechter Gewalt.

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