Obgleich bereits von den frühen Vertreter*innen des Anarchismus antisemitische Äußerungen überliefert sind, übte dieser als Idee im 19. und 20. Jahrhundert eine starke Anziehungskraft auf säkulare Jüdinnen*Juden aus.
Trotz immer wieder aufkommender antisemitischer Eklats im anarchistischen Mikrokosmos, stellten sich die Anarchist*innen seit jeher in breiter Front gegen antisemitische Ressentiments und die antisemitischen Pogrome im Europa des frühen 20. Jahrhunderts. Dabei stellte es für sie keinen Widerspruch dar, sich für den Schutz jüdischer Gemeinschaften einzusetzen und gleichzeitig das Judentum im Rahmen ihrer Ablehnung von religiöser Herrschaft harsch zu kritisieren – die schärfste Kritik kam hierbei von jüdischen Anarchist*innen.
Nach dem zweiten Weltkrieg und der Shoa war das europäische Judentum durch die Deutschen und ihre Vasallen nahezu vollständig vernichtet oder vertrieben. Nach den Jahren des Krieges und der Verfolgung (selbstredend in einem anderen Ausmaß) war auch der Anarchismus als Bewegung weltweit faktisch ausgelöscht – die Anhänger*innen waren zumeist entweder tot oder resigniert. Nur wenige konnten und wollten die politische Arbeit wieder aufnehmen. Eine Renaissance erfuhr der Anarchismus erst im Rahmen der 68er-Bewegung, als sich weltweit wieder junge Menschen für freiheitliche Ideen begeisterten. Allerdings konnten sie nur sporadisch an die Vorstellungen und Traditionen des historischen Anarchismus anknüpfen und es folgte eine sich fortsetzende Annäherungen an linke Ideen. Damit schwand zunehmend die besondere Beziehung zwischen Judentum und Anarchismus und es wurden positive Bezugnahmen auf nationale Befreiungsbewegungen und das Volk als politische Kategorie in die anarchistische Ideenwelt integriert. Dies bot einen Türöffner für antisemitische Ressentiments, den die Bewegung bis dahin nicht kannte. So stehen wir heute vor einem organisierten Anarchismus der nicht in der Lage ist, sich auf die eigene Geschichte zu besinnen und Solidarität mit Jüdinnen*Juden zu üben, wenn diese Opfer von antisemitischer Gewalt werden.
Der Referent Frederik Fuß ist Sozialarbeiter, publizierte u.a. zu Antisemitismus im US Hip-Hop, anarchistischem Antifeminismus und war Mitherausgeber der anarchistischen Theorizeitschrift Tsveyfl.
Die Veranstaltung findet in der freien Bibliothek konte[:x]t in Potsdam (Hermann-Elflein-Straße 32) statt.
Die Räumlichkeiten sind bedingt barrierearm. Für weitere Informationen zu bestehenden Barrieren im Raum, schreiben Sie bitte eine E-Mail an: kontext-potsdam@riseup.net.
Für andere Rückfragen: gegen-jeden-antisemitismus@riseup.net
Die Veranstaltung wird durch die Amadeu Antonio Stiftung gefördert.