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Aktionswochen gegen Antisemitismus

[tacheles_4]: Israels Wunden vor und nach dem 7. Oktober

Merle Stöver beschreibt Erinnerungskultur in Israel nach dem 7. Oktober.

2025 feiert Deutschland den 80. Jahrestag der Kapitulation der Nationalsozialisten und somit das Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie erinnern, gedenken und reden wir heute über den Holocaust? Wer gestaltet das Erinnern? Wo kommen die verschiedenen Formen der Erinnerung zusammen? Um all das geht es in der vierten Ausgabe von [tacheles]. 

Das Pogrom vom 7. Oktober 2023 hat Israel ins Mark getroffen. Während Menschen sich um einen Alltag jenseits ihrer persönlichen Verluste, der politischen Kämpfe und dem anhaltenden Krieg in Gaza bemühen, legt eine Woche im Frühling die Wunden des Staates schonungslos offen. Ein Gedicht des israelischen Journalisten Tzur Ehrlich lässt sich wie folgt übersetzen: „Zwei aufeinanderfolgende Gedenktage jedes Jahr – für die allgemeine Kalkulation – wie viel kostet es uns, einen Staat zu haben – und wie viel kostet es uns, keinen zu haben?“

Wenn am Morgen des israelischen Holocaustgedenktags die Sirenen im ganzen Land ertönen, kommt für zwei Minuten alles zum Stillstand. Autos halten, Busfahrer*innen steigen aus, Menschen stehen mit geneigtem Kopf am Straßenrand, im Klassenzimmer, auf dem Markt. Es ist ein Moment, der mit dem alltäglichen Treiben bricht, eine kollektive Geste, mit der den Opfern der Shoa und der jüdischen Widerstandskämpfer*innen gedacht wird.

Während international seit einem Beschluss der UN-Generalversammlung im Jahr 2005 an die Opfer des Holocaust am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee, erinnert wird, verweist bereits das Datum des Gedenkens in Israel auf einen ganz grundsätzlichen Unterschied: Der israelische Yom haShoa, der in voller Länge „Tag des Gedenkens an die Shoa und das Heldentum“ heißt, richtet sich nach dem jüdischen Kalender und wird jährlich am 27. Nisan begangen. Er soll damit an den Aufstand im Warschauer Ghetto zwischen dem 19. April und dem 16. Mai 1943 erinnern. Im Mittelpunkt steht nicht die Errettung und Befreiung durch andere, so entschied die israelische Knesset bereits 1951, sondern ein Moment der jüdischen Selbstermächtigung, des bewaffneten Widerstandes im Angesicht des sicheren Todes. Widerständigkeit, Stolz und Selbstbehauptung sollten die Grundpfeiler der wahrgewordenen zionistischen Utopie des „neuen Juden“ sein.

Das Land hält inne

Mit dem Ertönen der Sirene am Yom haShoa beginnt eine aus drei nationalen Gedenk- und Feiertagen bestehende Woche, in der nicht nur Geschichte, Gegenwart und Gründungsmythos des Staates kulminieren, sondern seine Wunden offen zu liegen scheinen. Am Yom haShoa werden in der Gedenkstätte Yad Vashem sechs Fackeln entzündet, die symbolisch an die sechs Millionen jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie erinnern. Seit einigen Jahren werden daneben alternative, kleinere und persönlichere Gedenkveranstaltungen populärer. Menschen kommen zu Zikaron baSalon – „Erinnerung im Wohnzimmer“ – zusammen: Überlebende der Shoa und ihre Angehörigen erzählen im kleinen Rahmen, es wird gemeinsam abseits der offiziellen Zeremonien erinnert.

Eine Woche später, am 4. Ijjar, folgt der zweite Gedenktag: Am Yom haZikaron, dem „Tag des Gedenkens an die gefallenen israelischen Streitkräfte und die Opfer von Terror“, erklingt gleich zwei Mal die Sirene, erneut hält das Land inne. Dieser Gedenktag ist all jenen gewidmet, die im Militäreinsatz starben oder Opfer von Terror und Gewalt wurden. Im ganzen Land finden offizielle wie private Gedenkzeremonien statt, Menschen besuchen die Gräber von Angehörigen und Freund*innen, tauschen Erinnerungen aus.

Noch am Abend desselben Tages beginnt der dritte und letzte Feiertag: Am Yom haAtzmaut, dem Unabhängigkeitstag, wird die Staatsgründung Israels 1948 gefeiert. Während die offiziellen Feierlichkeiten aus militärischen Flugshows, Ehrungen, der Entzündung von zwölf Fackeln für die zwölf Stämme Israels und anderen Zeremonien bestehen, kommen die meisten Menschen zu Barbecue und Picknick zusammen. Eine Woche voller Innehalten und Trauer endet in einem freudigen Fest.

Kollektiver Schmerz

Trotz dieses Gegensatzes sind diese drei Gedenk- und Feiertage nicht ohneeinander zu denken. Sie bilden eine Abfolge, die das kollektive Selbstverständnis Israels formt: Das Gedenken an die Opfer der Shoa erinnert an die tiefe Wunde der Vernichtung des europäischen Judentums und daran, was es bedeutet, über keinen Staat und Schutzraum zu verfügen. Das Gedenken an die Opfer von Krieg und Terror steht in einem beinahe dialektischen Verhältnis dazu, erinnert es doch an die Kosten dieses Staates und seiner Wehrhaftigkeit. Die Feier der Unabhängigkeit symbolisiert am Ende dieser Woche gewissermaßen eine Antwort.

War die Überlegung der Dramaturgie dieser Gedenk- und Feiertage bereits bei dem Beschluss der Knesset in den 1950er Jahren mit dem konkreten nationalpolitischen Interesse der Vermittlung einer kollektiven nationalen Identität verbunden, so ist es nie ausschließlich dabei geblieben. Denn, und das ist elementar für das Verständnis: Für die meisten Menschen in Israel ist weder die Erinnerung an die Shoa und die mit ihr verbundenen Pogrome in Nordafrika und im Nahen Osten noch der Verlust von Angehörigen und Freund*innen durch Krieg und Terror abstrakt, fern und unpersönlich. Nahezu alle kennen jemanden, der oder die etwa den terroristischen Anschlägen der Zweiten Intifada in den 1990er Jahren zum Opfer fiel oder in Kampfhandlungen ums Leben kam. Es sind persönliche und schmerzhafte Verluste. Gerade deshalb ist das Gedenken auch kein performativer und einstudierter Akt, sondern eine tatsächliche Zäsur, eine Auseinandersetzung mit einer kollektiven wie individuellen Wunde, die nicht so recht verheilen kann.

Neue Wunden

Seit dem 7. Oktober 2023 ringen die Menschen in Israel um ihre Fassung. Auch jetzt, mehr als eineinhalb Jahre nach dem größten Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Shoa, vermag nichts die Wunde zu schließen: Noch immer befinden sich 58 Geiseln in den Fängen der Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad, ein Ende des Krieges scheint in weite Ferne gerückt, Soldat*innen sterben im Einsatz oder kehren mit bleibenden physischen und psychischen Verletzungen zurück.

Die Rückschau auf das Gedenken im Jahr 2025 offenbart diesen Schmerz, die Gleichzeitigkeiten und Reminiszenzen wie unter einem Brennglas. So ist einerseits die Verbindung der Gedenktage deutlicher geworden, als sie es vermutlich je war. Man denke nur an Shlomo Mantzur, der 1941 als Kind das Farhud-Pogrom in Bagdad überlebte und von der Hamas am 7. Oktober nach Gaza verschleppt und ermordet wurde. Oder an Asaf Cafri, der am 25. April diesen Jahres als IDF-Soldat in Gaza getötet wurde, während seine Urgroßmutter Magda Beretz zur selben Zeit der Gedenkzeremonie der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen beiwohnte, welches sie als Kind überlebt hatte. Am 9. Mai verstarb Magda Baratz nur zwei Wochen nach ihrem Urenkel im Alter von 96 Jahren.

Andererseits scheinen die Brüche in der israelischen Gesellschaft derzeit nahezu unversöhnlich. Positionen, die sich zwischen Auslöschungsfantasien und einer erneuten Besatzung Gazas einerseits und der Forderung nach Hilfslieferungen, einem Deal und der Rettung der Geiseln andererseits unversöhnlich gegenüberstehen, kulminieren in einem Vorfall am Yom haZikaron selbst: Standing Together und andere israelische und palästinensische Aktivist*innen hatten zum wiederholten Mal zu einer gemeinsamen Gedenkzeremonie in einer liberalen Gemeinde in Raanana eingeladen. Die Veranstaltung wurde von etwa 200 rechten Demonstrant*innen angegriffen, während die Polizei unvorbereitet zu sein schien und lediglich drei der Angreifer festnahm.

Am Yom haAtzmaut, der Feier der Unabhängigkeit Israels, klafft nun eine neue Wunde. Während in den Straßen Fahnen geschwenkt wurden und die Nationalhymne Israels, die HaTikwa, ertönte, scheint die Sicherheit eines jüdischen Schutzraumes so brüchig wie nie zuvor. Niemand macht das so deutlich wie einige ehemalige Geiseln und Angehörige derjenigen, die noch immer in Gaza festgehalten werden. Auf Schildern schrieben sie: „Es gibt keine Unabhängigkeit, solange sie noch immer in Gaza sind.

Merle Stöver ist Sozialarbeiterin, Antisemitismusforscherin und promoviert am Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Als freie Journalistin und politische Bildnerin arbeitet sie vor allem zu Antisemitismus, Antiziganismus und Sozialchauvinismus.

https://www.timesofisrael.com/liveblog_entry/great-grandmother-of-slain-idf-soldier-was-at-bergen-belsen-which-she-survived-in-her-youth-for-remembrance-day-ceremony-at-time-of-his-death/

https://www.timesofisrael.com/holocaust-survivor-dies-2-weeks-after-great-grandson-killed-in-gaza-as-she-visited-nazi-camp/

https://www.timesofisrael.com/rioters-attack-synagogue-hosting-screening-of-israeli-palestinian-memorial-event/

https://www.ynet.co.il/news/article/hk8snmajgx

 

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