Die Frage, was unter Antisemitismus zu verstehen ist und wie dieser einzuordnen sei, beschäftigt Jüdinnen*Juden in Deutschland nicht erst seit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 und der Welle antisemitischer Proteste in dessen Nachgang. Der 7. Oktober markiert gleichwohl einen Bruch, der auch die Deutungen von Antisemitismus nicht unberührt lässt. In meinem Vortrag werde ich die Verschränkung von Kontinuität und Bruch anhand dreier zentraler Dimensionen rekonstruieren:
- Erkennen und Verstehen von Antisemitismus: Die seit Langem bestehende Kritik, dass die nichtjüdische deutsche Gesellschaft Antisemitismus zu selten erkenne und verstehe, bleibt zentral. Angesichts der jüngsten antisemitischen Proteste, Bedrohungen und Gewalttaten hat sie jedoch an Eindringlichkeit gewonnen.
- Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem: Auch das Verständnis von Antisemitismus als einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen, das Jüdinnen:Juden von verschiedenen Seiten treffen kann, hat sich seit dem 7. Oktober verschoben. Jüdinnen:Juden betonen verstärkt die Gefahren aus Teilen linker und muslimischer Milieus, während Antisemitismus aus der Rechten wie auch aus der „gesellschaftlichen Mitte“ fortbesteht. Ich lege hier einen besonderen Fokus auf die Kontroversen um den sogenannten „importierten Antisemitismus“. Jüdinnen:Juden kritisieren, dass diese Debatte häufig vor allem der moralischen Selbstvergewisserung diene und ihre eigenen Perspektiven dabei kaum berücksichtigt würden. Sowohl der „Fingerzeig“ auf Muslime zur Exkulpation antisemitischer Kontinuitäten in Deutschland als auch das Verkennen von Antisemitismus unter (zugewanderten) Muslimen – nicht erst, aber besonders seit dem 7. Oktober – müssen kritisch hinterfragt werden.
- Solidarität: Der 7. Oktober hat für Jüdinnen:Juden schließlich die Unabdingbarkeit von Solidarität unterstrichen – einer Solidarität, die sich nicht in leeren Worten erschöpfen darf, jedoch selbst angesichts der gegenwärtigen Gräueltaten oftmals ausbleibt.
Niklas Herrberg: Studium der Sozialwissenschaften in Düsseldorf. In seiner 2025 abgeschlossenen Promotion beschäftigte er sich mit dem Erleben und Ausdeuten von Antisemitismus unter Jüdinnen*Juden in Deutschland. Von 2020 bis 2025 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit November 2025 arbeitet Niklas Herrberg als Postdoc in der Forschungsgruppe Antisemitismus an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Antisemitismus, Verschwörungstheorien, die extreme Rechte sowie qualitative Forschungsmethoden.
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