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GENDERDINGS // INTERVIEW

Genderdings // Interview

Genderdings klärt online über Themen rund um Sexualität und Geschlecht auf. Als Teil der Initiative Social Media Interventions setzt sich das Projekt für eine Gesellschaft ein, in der Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gleichberechtigt miteinander leben können. Wir haben mit Ulla darüber gesprochen.

 

 

1. Ihr informiert über dieses ‚Genderdings‘. Was meint das eigentlich?

Ulla: Um „Gender“ wird seit einiger Zeit viel Wirbel gemacht. Egal ob es um vielfältige Familienformen geht, die Thematisierung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Schulunterricht oder um staatliche Gleichstellungspolitiken: unter dem Begriff „Gender“ (oder auch „Genderwahn, -ideologie, -ismus“) ist es Rechtspopulist_innen sehr erfolgreich gelungen, Menschen gegen queer-feministische Politiken zu mobilisieren. Dabei wird der Begriff und auch das Konzept „Gender“ meistens falsch verstanden oder absichtlich falsch verwendet.
Wir wollen deshalb darüber informieren und in Austausch kommen, was sich hinter diesem Genderdings verbirgt. Mit einer Online Kampagne auf Facebook und Instagram und mit einer Website , auf der zu vielen Themen kurze Texte und Definitionen, ein Wörterbuch und Argumentationen zu finden sind (https://genderdings.de).
Wir beantworten: Was heißt „Gender“ eigentlich? Warum beschäftigen sich so viele damit? Und warum ist das wichtig? Es geht um Themen, die damit zusammenhängen, oder oft damit zusammengeworfen werden: Um Geschlecht, um Liebe, um Körper, um Familie, um Sexualität. Und darum, was wir wollen: Das schöne Leben für alle! Egal welches Geschlecht sie haben, welche Familienform sie leben, auf wen sie stehen und wie sie sich kleiden wollen.


2. Was bedeutet es, einem Geschlecht zugeordnet zu werden?

Ulla: Bei (oder noch vor) der Geburt wird Menschen aufgrund von körperlichen Merkmalen ein Geschlecht zugeordnet. Bis vor kurzem gab es da nur die zwei Optionen „männlich“ und „weiblich“. Seit 2018 ist auch ein dritter Geschlechtseintrag „divers“ möglich. Hinter diesen Zuordnungen steht die Idee, dass sich das Geschlecht eines Menschen am Körper ablesen ließe. Wichtig ist aber eigentlich die Geschlechtsidentität, also das innere Wissen, welches Geschlecht ich habe.
Für viele Leute stimmt das zugewiesene mit dem eigentlichen Geschlecht überein (sie sind cisgeschlechtlich). Für andere aber nicht (sie sind transgeschlechtlich oder trans*). Letztere sind mit großen Hürden konfrontiert ihr eigentliches Geschlecht anerkannt zu bekommen, erleben Ausgrenzung, Gewalt und Diskriminierung.
Für alle (also auch für cis Menschen) bedeutet die Zuordnung Druck. Mit der Kategorisierung gehen nämlich Erwartungen und Anforderungen einher, bestimmte Geschlechterrollen zu erfüllen. Also bestimmte „geschlechtstypische“ Dinge zu mögen und gut zu können. Menschen werden aber nicht einfach mit bestimmten Eigenschaften und Verhaltensweisen geboren. Diese Verhaltensweisen entwickeln sich, unter anderem weil es in unserer Gesellschaft Geschlechterrollen gibt.
Wenn sich Leute aus den Rollenbildern herausbewegen, erfahren sie dafür häufig Abwertung. Zum Beispiel werden Jungen/Männer, die weinen als „Weichei“ oder „unmännlich“ beleidigt, Mädchen/Frauen, die keine Kinder wollen als „Emanzen“ oder „keine echten Frauen“. Ihr Geschlecht wird ihnen also abgesprochen, nur weil sie sich nicht konform an die gesellschaftlichen Schubladen anpassen.


3. Wie kann ich selbst vermeiden, andere in Schubladen zu stecken?

Ulla: Ganz vermeiden lässt sich das nicht. Wir alle haben Kategorien im Kopf. Es geht eher darum sich die immer wieder klar zu machen. Das ermöglicht uns, sie zu hinterfragen und darüber hinaus blicken zu können.
Tatsächlich kategorisieren und labeln wir Personen die ganze Zeit. Mann, Frau, hetero, homo, Frauen=Emotionen, Männer=Muskelmasse usw. Diese Schubladen sind für viele „normal“ und fühlen sich für einige auch richtig an. Für andere passen sie aber eben nicht. Hierfür ist es wichtig neue und andere Begriffe aufzumachen und die Bilder, die wir uns von Menschen machen zu erweitern.
Ein erster Schritt ist also mehr und vielfältigere Schubladen. Und immer wieder fragen: Warum denke ich das? Wo kommt das Bild her? Und was hat das für Konsequenzen z.B. für meinen Umgang mit der Person?
Wenn wir in einer utopischen Zukunft mal alle gar keine Label mehr haben und uns gegenseitig nicht in Schubladen stecken oder in Kategorien denken, wow, das wird bestimmt super!


4. Schubladendenken betrifft nicht nur Verhalten und Identitäten. Oft bereden und bewerten andere ganz konkret den eigenen Körper. Das kann nahe gehen…

Ulla: Ja, das ist oft schmerzhaft und gewaltvoll. Unsere Körper werden bei (oder noch vor) Geburt und von da an immer wieder eingeteilt und kategorisiert: in männlich und weiblich, gesund und krank, behindert und nicht behindert, schön und nicht schön. Diese Einteilungen erscheinen uns meistens selbstverständlich, sie sorgen aber auch für Druck und Überforderung.
Außerdem können wir häufig nicht selbstbestimmt darüber entscheiden, was mit unseren Körpern geschieht. Zum Beispiel wenn Schwangeren Abbrüche erschwert werden oder an inter* Kindern Operationen durchgeführt werden, über die sie nicht selbst entscheiden können. Das muss aufhören!
Feminist_innen kämpfen schon lange dafür, dass vielfältige Körper als gleichwertig anerkannt werden und Menschen das Recht bekommen selbst über ihre Körper zu bestimmen, aber auch dafür, dass normierende und einengende Schönheitsideale sich ändern.


5. Apropos Feminismus: Ist Feminismus auch für Männer interessant?
Ulla:
Ja klar! Erstmal ganz wichtig: es gibt nicht den einen Feminismus. Es gibt viele verschiedene Bewegungen und Theorien, die sich für unterschiedliche Themen stark machen und sich teilweise sogar widersprechen. Trotzdem gibt es einen Kern, der wohl alle Feminismen verbindet. Feminismus setzt sich für die Gleichstellung aller Menschen, gegen Sexismus und gegen die Diskriminierung von Frauen ein.
Feminist_innen kritisieren, dass auch heute noch die meiste Macht in den Händen von Männern liegt. Das Ziel von Feminismus ist aber nicht, statt Männern Frauen an die Macht zu bringen. Es geht um gerechte Verteilung und mehr Selbstbestimmung für alle.
Das bedeutet auch für Männer eine Befreiung und Erweiterung ihrer Möglichkeiten. Starre Rollenbilder, in denen Männer immer stark sein müssen, keine Gefühle haben dürfen oder immer die Verantwortung tragen müssen, schränken Männer ein. Das soll sich ändern: Männer sollen auch weinen dürfen, mal keinen Bock auf Sex haben dürfen, schwul sein können ohne diskriminiert zu werden, Röcke tragen dürfen und ein gewaltfreies Leben haben.
Abgesehen davon geht es um eine Haltung und darum, dass sich alle für Gleichberechtigung einsetzen. Das heißt auch, dass Männer mehr teilen müssen. Aber eine Welt, in der wir uns unabhängig von unserem Geschlecht auf Augenhöhe begegnen können, sollte alle interessieren!

 

6. Über Sexualität zu sprechen fällt oft besonders schwer. Warum ist reden aber wichtig?
Ulla:
Sexualität ist für viele (nicht alle) ein wichtiger Teil des Lebens. Und um mit diesem Bereich gut umgehen zu können brauchen wir Wissen und Worte: Wissen, was eigentlich alles Sex sein kann; wie Sexualität und Liebe (nicht) zusammenhängen. Wissen über den Körper, über Verhütung, Pubertät, eigene Grenzen und die Grenzen anderer. Und wir müssen Lernen darüber zu sprechen.
Denn nur so können wir anderen gegenüber formulieren, was wir wollen und nicht wollen. Guter Sex ist nicht für jede_n das gleiche und es geht nicht so sehr darum, was gemacht wird, sondern darum, wie es sich anfühlt. Und was für unsere Sexpartner_innen guter Sex ist, finden wir am besten raus, indem wir darüber reden.
Reden ist aber auch wichtig um sexuelle Übergriffe zu verhindern und aufzudecken. Wir brauchen Worte, um über Sexualität, Körper und sexuelle Übergriffe zu sprechen. Nur so können wir sagen, wenn uns Gewalt angetan wurde.
Über Sex zu reden ist auch im Unterricht notwendig: Kinder und Jugendliche werden sehr früh mit Sex konfrontiert: in Pornos, Filmen, Werbung usw. Die sind meistens voller Stereotypen und ziemlich realitätsfern. Um damit einen Umgang zu finden, braucht es einen Ort, um Fragen stellen zu können und auf achtsame Weise etwas über Sexualität zu lernen. Auch darüber, dass man sich nicht für Sex interessieren muss!

 

7. Kommen Debatten über Geschlecht und Sexualität immer gut an?

Ulla: Sehr unterschiedlich. Gerade im Moment erleben wir starke Angriffe auf Leute und Organisationen, die sich mit Geschlecht oder Sexualität auseinandersetzen. Begriffe wie „Genderismus“, „Genderideologie“ oder „Genderwahn“ werden benutzt um alle Bemühungen um Geschlechtergerechtigkeit abzuwerten oder lächerlich zu machen. Gemeint sind die unterschiedlichsten Themen und Bewegungen: Gender Mainstreaming, Gender Studies, Sexualpädagogik, Pädagogik der Vielfalt, Feminismus, Queere Bewegungen, Vielfältige Beziehungen und Familien…
Ich denke eigentlich geht es um gesellschaftliche Hegemonie. Es ist eben nicht mehr das einzig „normale“ in heterosexuellen cis Kleinfamilien zu leben. Wir erleben Vielfalt und Auspluralisierung von Lebens- und Liebensentwürfen. Und das macht einigen, die ihre Lebensweise bisher für „normal“ und einzig richtig verstanden haben, Angst. Dabei gibt es nichts zu verlieren! Wer heterosexuell leben möchte, kann das ja auch weiterhin tun. Das ändert sich nicht dadurch, dass andere Menschen homo-, pan- oder asexuell sind oder jetzt auch homosexuelle Paare heiraten dürfen.
Gerade weil es so viel Unsicherheit und Abwehr gibt ist die Debatte aber wichtig. Wir müssen weiter reden und unsere Positionen für Vielfalt und gleiche Rechte stark machen!


8. Wie können Debatten online funktionieren?

Ulla: Das kommt sehr darauf an, mit wem ich spreche oder sprechen will. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht souverän und klar zu bleiben und Leute ernst zu nehmen, auch wenn sie erstmal einen angreifenden oder abwertenden Ton wählen. Das gilt selbstverständlich nicht für Beleidigungen und Drohungen. Die tragen in keinem Fall zu irgendeiner Debatte bei und ich habe kein Interesse mich an den Leuten dahinter abzuarbeiten.
Es gibt auch sehr positive und empowernde Debatten im Netz. Zur Zeit wird über Soziale Medien vor allem als Orte, die voller Hass sind, berichtet. Daneben gibt es aber auch tolle Formate und Räume für Auseinandersetzungen! Soziale Medien können Orte des Austauschs und der Wissensbeschaffung sein gerade für Leute, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen (wollen).


9. Helfen im Netz Argumente gegen Hass?

Ulla: Ich habe ein Problem mit dem Begriff Hass. Ich finde den irreführend. Hinter den Begriffen Hass im Netz und Hassrede stellen sich die meisten Leute emotional aufgeladene Personen vor, die ihrem Gefühl unkontrolliert Luft machen. Klar, das gibt es auch. Aber häufig geht es nicht darum, dass Leute aus der Emotion Hass heraus Beleidigen und Drohen.
Hassrede beruht auf und speist sich aus den realen Macht- und Diskriminierungsverhältnissen unserer Gesellschaft. Zum Beispiel Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Homofeindlichkeit, Ableismus (Behindertenfeindlichkeit) und Klassismus (Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und sozialem Status). Hassrede kann also auch höflich und eloquent erscheinen. Diskriminierung ist nicht immer geifernd und laut.
Wenn die Frage also ist: Helfen Argumente gegen Emotionen? Kommt darauf an, wie sie vorgebracht werden. Leute müssen auf einer emotionalen Ebene abgeholt werden um sich dann auch einer argumentativen Ebene zuwenden zu können.
Ist die Frage: Helfen Argumente gegen Diskriminierung? Bei Personen, die ein geschlossenes Weltbild haben wird es vermutlich nicht leicht (aber trotzdem möglich) sein, sie online argumentativ zu erreichen. Wir machen unsere Arbeit aber in erster Linie für die, die tatsächlich Fragen haben oder ein Interesse an Auseinandersetzung. Und da sind gute Argumente und Wissensvermittlung definitiv wichtig! Besonders wichtig ist aber auch immer wieder eigene Themen zu setzen, die eigene Weltsicht und die eigenen Utopien stark zu machen!

 

Genderdings: https://genderdings.de/

Social Media Interventions: https://somi.dissens.de/

Interview geführt von der Debate//De:hate Redaktion

Bild: Genderdings

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