Weiter zum Inhalt

Staatliche Einordnung rechter Gewalttaten

Rechte Gewalt und staatliche Anerkennung

Hinsehen, dranbleiben, aufpassen – das muss das Motto der Strafverfolgungsbehörden, der politischen Verantwortlichen und der Gesellschaft als Ganze sein“, fordert die Politikwissenschaftlerin Anna Brausam. Seit der Einführung neuer Erfassungskriterien für rechte Straftaten, reißt die Kritik an dem polizeilichen Meldewesen „Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ nicht ab.

 

Im Jahre 2001 wurde das Meldesystem rechter Straftaten durch die Innenministerkonferenz mit dem Meldewesen der „Politisch motivierten Kriminalität –rechts“ erneuert. Dahinter lag die Intention, dass nicht mehr nur Taten, die sich gegen die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ richten und eine „Systemüberwindung“ zum Ziel haben, in die Statistik einfließen. So wurde das enge Kriterium „extremistisch“ zugunsten neuer Kriterien aufgebrochen. Von nun an sollte bei Tötungsdelikten und allgemeinen Straf- und Gewalttaten im Zentrum der polizeilichen Einschätzungen, vor allem auch eine rassistische, antisemitische oder sozialdarwinistische Motivation des*der Täter*in ausreichend berücksichtigt und dem Phänomenbereich rechtsextremer Gewalt zugerechnet werden. Trotz dieser Reformierung vor über zehn Jahren, stehen die amtlichen Statistiken weiter in der Kritik. Zu hoch bleibt die die Diskrepanz zwischen der Zählung von Todesopfern rechter Gewalt durch die staatlichen Behörden und durch unabhängige Organisationen und Journalist:innen. Anna Brausam erläutert, wie eine derart hohe Abweichung zu Stande kommt.

 

Wie ist es zu erklären, dass die Amadeu Antonio Stiftung in ihrer Liste Todesopfer rechter Gewalt deutlich mehr Opfer zählt als die offizielle Statistik der Bundesregierung?

 

Anna Brausam: Eines der Hauptprobleme des Meldewesens PMK-rechts ist die Tatsache, dass es sich hier lediglich um eine Eingangsstatistik handelt. Das hat zur Folge, dass dem*der Polizist*in am Tatort eine große Verantwortung zukommt. Er oder sie beurteilt vor Ort, ob einer Straftat eine politische Motivation zugrunde liegt oder nicht. Wenn diese Ersteinschätzung negativ ausfällt, erfolgt eine spätere Korrektur aufgrund von abweichenden Erkenntnissen und Entscheidungen der Staatsanwaltschaft oder eines abweichenden Gerichtsbeschlusses „nur ausnahmsweise“. Dieses Defizit gibt die Bundesregierung in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen selbst zu, sieht jedoch trotzdem keinen Handlungsbedarf.

 

Es kann also sein, dass ein Gericht bei einem Tötungsdelikt eine rechtsextreme Motivation erkannte, aber es trotzdem nicht in die Statistik PMK-rechts aufgenommen wurde?

 

Ja, es gibt eine Reihe von Tötungsdelikten, bei denen ein*e Richter*in eine rechtsextreme Motivation attestierte, die Tat aber trotzdem nicht in der offiziellen Statistik auftaucht. Ein schockierendes Beispiel ist hier der Dreifach-Mord an einer Familie im Jahre 2003 in Nordrhein-Westfalen. Der bekennende Rechtsextremist Thomas A., der bei der Tat ein Hemd mit SS-Runen am Kragen trug, stürmte zusammen mit seiner 19-jährigen Freundin Jennifer D. das Haus des Rechtsanwalts Hartmut Nickel in Overath. Dort erschoss er zuerst Nickels Ehefrau Mechthild, dann fesselte Jennifer D. den Rechtsanwalt und seine Tochter Alja, ehe Thomas A. sie durch Kopfschüsse aus nächster Nähe tötete. Im Dezember 2004 verurteilte das Landgericht Köln Thomas A. wegen Mordes, mit besonderer Schwere der Schuld, zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Die lebenslange Verwahrung begründen die Richter damit, dass A. "den bewaffneten Kampf nach seiner Haftentlassung fortzusetzen gedenkt". Trotz dieser Fakten und der Selbstbeschreibung Thomas A.s im Gerichtssaal, er sei ein "engagiertes Mitglied der Nazi-Szene" und die Morde seien "von mir selbst durchgeführte Maßnahme zur Gesundung des deutschen Volkes", wird die Tat bis heute nicht in die Statistik rechts motivierter Tötungsdelikte aufgenommen. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen begründet diese Entscheidung damit, dass es sich vordergründig um einen Raubüberfall gehandelt habe.

 

Was kritisieren Sie konkret an dem Erfassungssystem der PMK-rechts?

 

Die Einführung neuer Erfassungskriterien im Jahre 2001 sollte gewährleisten, dass auch Taten, die aus rassistischen, antisemitischen oder sozialdarwinistischen Gründen begangen werden, Eingang in die Statistik finden. Trotzdem bleibt eine hohe Differenz in der Zählung Todesopfern rechter Gewalt bestehen, die bis heute staatlich nicht anerkannt sind. In den Ergebnissen der NSU-Ausschüsse im Bundestag wird eine systematische Überprüfung der offiziellen Zahlen gefordert, dies wurde in einigen Bundesländern durchgeführt, häufig aber sehr oberflächlich und ohne Einbezug von unabhängigen Akteur:innen und Expert*innen aus der Zivilgesellschaft. Das steht noch aus. Doch vor allem die fehlende Berücksichtigung der Opferperspektive, beziehungsweise bei Tötungsdelikten die Perspektive der Angehörigen, für eine realitätsgetreuere Einschätzung der Gesamtlage ist einer der größten Kritikpunkte am Meldewesen der PMK-rechts. Wie kann es sein, dass die Motivation des*der Täter*in eine höhere Priorität einnimmt als Aussagen von Opfern und Zeugen? Rechtsextreme Taten können als Streitigkeiten zwischen Jugendlichen oder, wie der gerade geschilderte Fall oben zeigt, als Raubüberfälle getarnt werden, um die eigene Gesinnung nicht offenbaren zu müssen. Gerade in derartigen Fällen ist viel Fingerspitzengefühl gefragt. Hier müssen die Aussagen von Opfern und Zeugen in den Blick und vor allem ernst genommen werden.

 

Sie kritisieren somit auch das mangelnde „Fingerspitzengefühl“ der Strafverfolgungsbehörden?

 

Dass Polizeibeamt*innen bei der Einschätzung einer Tat die politische Motivation nicht erkennen (wollen), liegt vor allem auch an einem mangelnden Problembewusstsein in der Polizei für das Thema Rechtsextremismus. Hier wären Supervision und Weiterbildung ein wichtiger Schritt, um die Polizei für den Phänomenbereich Rechtsextremismus zu sensibilisieren. Der „typische“ Nazi trägt nicht mehr Glatze, Bomberjacke und Springerstiefel, sondern gibt sich auffällig unauffällig. Taten, die rechtsextrem motiviert sind, werden nicht ausschließlich vom rechten Rand mit gefestigter Ideologie begangen. Nein, viele Taten gehen auf das Konto von Alltagsrassist*innen aus der Mitte der Gesellschaft. Und eine Sensibilisierung für den Umgang mit Opfern rechter Gewalt ist notwendig!

 

Glauben sie also, dass Opfer rechter Gewalt von Strafverfolgungsbehörden oftmals nicht ernst genommen werden?

 

Opferberatungsstellen beklagen vielfach die mangelnde Sensibilität der Polizei gegenüber Menschen, die Opfer rechter Gewalt werden. Betroffene schildern den Beratungsstellen, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen oder ihnen sogar eine Mitschuld an dem Angriff unterstellt werde. Die Opfer erleben auf diese Weise nicht nur ein Trauma aufgrund der Tatsache, dass sie angegriffen wurden, sondern ein weiteres, weil ihnen die Polizei oftmals nur unzureichend Glauben schenkt und damit den Opfern auch kaum Schutz bietet. Genau hier liegt die Krux: Die Bagatellisierung durch Strafverfolgungsbehörden führt bei vielen betroffenen Menschen dazu, ihren Angriff nicht zur Anzeige zu bringen, was wiederum zu einer Verzerrung der offiziellen Statistik PMK-rechts führt.

 

Können Sie uns konkrete Fälle für diese Bagatellisierung schildern?

 

Ein anschauliches Beispiel ist der Fall Mücheln im Februar 2012. Ein Imbissbetreiber und seine Frau werden vor den Augen ihrer Tochter von Neonazis beschimpft und körperlich angegriffen. Einer der Täter droht dem Mann, „wenn er seinen Laden nicht bis zum 20. April (Hitlers Geburtstag – die Red.) schließe, sei er der ‚nächste Tote‘“ Eine eindeutige Anspielung auf die Mordserie des rechtsextremen NSUs. Als die Ehefrau die Polizei ruft, wird diese erst einmal gerügt, ob sie nicht mal drei zusammenhängende Worte deutsch sprechen könne. Erst nach dem dritten Hilferuf trifft die Polizei ein und führt bei dem Imbissbetreiber (!) einen Alkoholtest durch und protokolliert den Vorfall als einen Streit um das Rauchverbot. Nur weil der Fall in den lokalen Zeitungen aufgegriffen und zu Recht skandalisiert wurde, räumte der Innenminister von Sachsen-Anhalt eklatante Fehler bei dem Polizeieinsatz ein und kündigte Konsequenzen an. Wo diese Öffentlichkeit jedoch ausbleibt, bleiben betroffene Menschen verängstigt zurück.

 

Ein anderer Fall wäre der Tod von Helmut Sackers am 29. April 2000 in Sachsen-Anhalt. Ein couragierter Mann, der sich weigerte die laute Nazi-Musik seines Nachbars hören zu müssen und ihn deshalb aufforderte die Musik auszumachen, bezahlte dies mit seinem Leben. Als er die Polizei rief, weil unter anderem auch das verbotene Horst Wessel Lied gespielt wurde, wurde Helmut Sackers von seinem Nachbarn im Treppenhaus erstochen. Weil der Täter behauptet, er habe in Notwehr gehandelt, wird er in einem ersten Verfahren und in einem zweiten Verfahren, obwohl in diesem das Lügengerüst des Täters zusammenfiel, freigesprochen. Mit diesem Urteil wurde Helmut Sackers nicht nur eine Mitschuld unterstellt, er wurde sogar zum Täter stigmatisiert. Dass sich die Landesregierung Sachsen-Anhalt dazu durchgerungen hat, drei Todesfälle rechter Gewalt aus den 1990er Jahren nun endlich offiziell anzuerkennen, ist zu begrüßen. Warum dies jedoch nicht auch bei Helmut Sackers geschieht, ist für mich nicht erklärbar. Hier gibt es eindeutige Hinweise, von einer rechtsmotivierten Tat auszugehen.

 

Welchen Handlungsbedarf sehen Sie, damit die Statistik über rechtsextrem motivierte Kriminalität entzerrt werden kann und somit auch realitätsnaher wird?

 

Ein erster Schritt für eine Entzerrung der Statistik wäre vor allem durch eine Sensibilisierung der Strafverfolgungsbehörden und folglich einer erhöhten Anzeigenbereitschaft von Opfern rechter Gewalt gegeben. Staatliche Behörden sollten die enge Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen suchen. Diese Kooperation hätte den Vorteil, dass sich Organisationen, die sich seit Jahren gegen Rechtsextremismus engagieren, viele Opfer von rechter Gewalt besser erreichen. Betroffene Menschen gehen diesen niedrigschwelligen Weg eher, als den Gang zur Polizei. Denn einige Opfer brauchen die Unterstützung von Anderen, um Mut zu finden, den Angriff zur Anzeige zu bringen. Ein weiterer Vorteil wäre, dass unabhängige Stellen eine Funktion des Monitorings einnehmen könnten, damit die Statistik weniger anfällig ist, aus Angst vor einer Imageschädigung für ein Bundesland, „verschönert“ zu werden. Hinsehen, dranbleiben, aufpassen – das muss das Motto der Strafverfolgungsbehörden, der politischen Verantwortlichen und der Gesellschaft als Ganze sein. Opfer rechter Gewalt und deren Angehörige brauchen diese Solidarität und Anerkennung, um nicht einem Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit ohnmächtig gegenüberzustehen.

Mitmachen stärkt Demokratie

Engagieren Sie sich mit einer Spende oder Zustiftung!

Neben einer Menge Mut und langem Atem brauchen die Aktiven eine verlässliche Finanzierung ihrer Projekte. Mit Ihrer Spende unterstützen Sie die Arbeit der Stiftung für Demokratie und Gleichwertigkeit.