Im Frühjahr hieß es in sämtlichen Medien: Der Bundesnachrichtendienst (BND) ging 2020 davon aus, dass das Coronavirus aus einem chinesischen Labor in Wuhan stammt. Ein entsprechendes Geheimpapier wurde damals angefertigt, aber bisher durch keine Bundesregierung veröffentlicht. Nun wurde es offenbar geleakt. In der deutschen Verschwörungsideologie-Szene hieß es schnell: „Wieder eine Verschwörungstheorie, die wahr wurde.“ Doch stimmt diese Schlussfolgerung?
Wahr ist, dass das BND-Papier existiert und dass es bisher als Verschluss- oder Geheimsache eingestuft wurde. Die übereinstimmende Berichterstattung mehrerer deutscher Medien lässt keinen anderen Schluss zu. Weshalb das Papier nicht der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, kann unterdessen nur gemutmaßt werden. Am wahrscheinlichsten aber ist, dass dieses genaugenommen nur einer bereits seit der Anfangszeit des Coronavirus verbreiteten Alternativerzählung folgte. Die so genannte Labortheorie ist weder neu, noch war der BND die erste Organisation, die Erkenntnisse hierzu sammelte. Von Anfang wurde zum Ursprung des neuartigen Coronavirus sowohl die Natur- als auch die Labortheorie verbreitet. Zwar hat sich in wissenschaftlichen Kreisen bis heute mehr Plausibilität für die Naturtheorie gefunden, zugleich gab es aber auch Wissenschaftler*innen, die an einem rein natürlichen Ursprung des SARS-CoV-2 zweifelten. Während die Naturtheorie davon ausgeht, dass das Coronavirus ursprünglich von Tieren stammt und dann durch den nahen Kontakt zwischen Menschen und Tieren schrittweise auf den Menschen übersprang, behauptet die Labortheorie, dass das Coronavirus versehentlich aus einem Labor für Virologie in der chinesischen Stadt Wuhan entwichen ist. An Gehalt gewinnt diese Erklärung, weil die chinesischen Behörden bisher nicht transparent mit Wissenschaftler*innen zusammenarbeiten, die zum Ursprung des Virus forschen. So hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erst im Dezember 2024 den chinesischen Staat gebeten, Daten herauszugeben und mit der Wissenschaft zu kooperieren.
Fraglich ist, ob die Labortheorie überhaupt den Charakter einer Verschwörungserzählung erfüllt. Gemäß der übereinstimmenden Meinung von Fachexpert*innen braucht es hierfür immer die folgenden Zutaten: Erstens, eine Gruppe von Verschwörer*innen, die zweitens einen geheimen Plan verfolgen, der drittens zu großen Vorteilen für die Verschwörer*innen führt. Wenn es wahr wäre, dass das Coronavirus durch einen Laborunfall in einem Virologielabor entstanden ist, wäre dies zweifelsohne ein bis heute intransparenter Vorgang. Es stellt sich aber die Frage, wer hier Verschwörer*in ist und welcher Plan verfolgt wurde. Dass in Laboren zu Viren oder Bakterien geforscht wird, ist keine Verschwörung, sondern virologische Realität. Die Forschenden erfüllen auch nicht das Merkmal einer Gruppe von Verschwörer*innen, da diese zwar in der Regel nicht öffentlich arbeiten, zugleich aber auch keinen Geheimauftrag umsetzen. Im Normalfall verfolgen Forschende wissenschaftliche Zwecke, nach denen wahlweise Grundlagen erforscht werden oder erforschtes Wissen für den Alltag nutzbar gemacht werden soll (z.B. einen Impfstoff gegen Viren oder Bakterien entwickeln). Der mögliche Laborunfall von Wuhan kann damit durchaus als Vertuschungs- beziehungsweise Geheimhaltungsfall eingestuft werden. Die vollen Merkmale einer Verschwörungserzählung werden aber nicht erfüllt.
Im verschwörungsideologischen Milieu existiert aber nicht nur die Variante des möglicherweise vertuschten Laborunfalls. Es finden sich dort dutzende weitere Varianten, die eine groß angelegte Verschwörung von Forschenden sowie auch von Staaten und von weiteren obskuren geheimen Mächten behaupten. Wahlweise ist dann die Rede von Corona als Biowaffe oder Corona als Werkzeug, um der Überbevölkerung der Welt im Sinne einer Massenvernichtungswaffe zu begegnen. Diese Varianten erfüllen alle Merkmale einer Verschwörungsideologie, wie sie der Politikwissenschaftler Armin-Pfahl Traughber zusammenstellte1. Demnach geht es nicht um die Aufdeckung eines konkreten und begrenzten Verschwörungsverdachts, sondern vielmehr um die stereotype Unterstellung von Macht- und Herrschaftsinteressen bestimmter Menschen als Grundlage für das Auftreten von Ereignissen, wie beispielsweise dem Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie. Solche verschwörungsideologischen Erzählungen zum Ursprung des Coronavirus werden weder durch das BND-Papier, noch durch andere bekannte, seriöse Erkenntnisse gestützt. Das ändert aber nichts daran, dass sowohl die Geheimhhaltung, als auch der Leak wieder neues Wasser auf die Mühlen der Verschwörungsideolog*innen gießt.
Zu hoffen bleibt, dass die globale Wissenschaft weiter zum Ursprung des Coronavirus Forschung betreibt und dass irgendwann damit der genaue Ursprung geklärt werden kann. Wie immer gilt: Wir sollten geduldig sein und gelassen bleiben.
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[1] Pfahl-Traughber, Armin: „Bausteine“ zu einer Theorie über
„Verschwörungstheorien“: Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und
Ursachen, in: Reinalter, Helmut: Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung. Studienverlag, Innsbruck, 2002.