Die Erinnerungskultur in Deutschland steht unter Beschuss. Gedenkstätten berichten seit Jahren von zunehmenden Angriffen und Schmierereien, zuletzt wurden auch immer wieder Stolpersteine herausgerissen und beschmiert. Am lautesten fordern AfD-Politiker einen sogenannten Schlussstrich, also die Abkehr von der deutschen Erinnerungskultur. Stefan Dietl hat im Mai ein Buch zu “AfD und Antisemitismus” im Verbrecher Verlag veröffentlicht. Belltower News veröffentlicht hier das zu [tacheles_4] passende zweite Kapitel des Buchs.
Denkmal der Schande – Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus in der AfD
Von Stefan Dietl
Ein zentrales Motiv des Antisemitismus der AfD findet sich im von ihr vertretenen Geschichtsbild. Die Rehabilitierung eines ungebrochenen deutschen Nationalstolzes gehört zu den ideologischen Kernanliegen der Partei. Die Erinnerung an die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und an die Vernichtung der europäischen Jüdinnen stehen diesem Ziel entgegen und werden deshalb von der AfD immer wieder ins Visier genommen.
Deutlich wird dies beispielsweise anhand der berühmt gewordenen „Dresdner Rede“ Björn Höckes. Bei einer Veranstaltung der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative am 17. Januar 2017 in Dresden distanzierte sich Höcke nicht nur von der Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, welches er als „Denkmal der Schande“ abqualifizierte, sondern forderte auch eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. So solle der „systematischen Umerziehung“ und „Amerikanisierung“ des deutschen Volkes nach 1945 entgegengewirkt werden. Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg spielte in Höckes Rede keine Rolle, stattdessen werden die Deutschen zum Opfer angeblicher Vernichtung.
„Mit der Bombardierung Dresdens und der anderen deutschen Städte wollte man nichts anderes als uns unsere kollektive Identität rauben. Man wollte uns mit Stumpf und Stiel vernichten, man wollte unsere Wurzeln roden. Und zusammen mit der dann nach 1945 begonnenen systematischen Umerziehung hat man das auch fast geschafft“, so Höcke.
Höcke, der selbst 2010 an einem Nazi-Aufmarsch anlässlich des 65. Jahrestages der Bombardierung Dresdens teilnahm, weiß selbstverständlich, dass die Luftangriffe in der neonazistischen Rechten seit Jahrzehnten zur Relativierung des Nationalsozialismus eingesetzt werden – und knüpft an dieses geschichtsrevisionistische Denken an. Ebenso wie der spätere AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier, der auf der gleichen Veranstaltung die AfD als legitime erinnerungspolitische Erbin der NPD anpries. Zuerst behauptete er, die NPD sei die einzige Partei gewesen, die „immer geschlossen zu Deutschland gestanden“ habe und dass es sich bei der AfD ähnlich verhalte, um anschließend zu verkünden: „Ich erkläre hiermit diesen Schuldkult für beendet, für endgültig beendet.“
Sowohl Höcke als auch Maier stehen mit ihrem Kampf gegen die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen nicht etwa einsam am rechten Rand der Partei, ihre Positionen spiegeln vielmehr den common sense innerhalb der AfD wider. Das zeigt auch ein Blick in die Programmerklärungen der AfD, in denen der Nationalsozialismus zumeist als 12-jähriger Ausrutscher in der sonst ruhmreichen deutschen Geschichte präsentiert wird. Ein Ausrutscher, den man möglichst aus dem kollektiven Gedächtnis streichen sollte.
So heißt es beispielsweise im Programm der AfD zur Landtagswahl Sachsen-Anhalt: „In keinem anderen Bundesland herrscht eine solche Dichte an Denkmälern von nationaler Bedeutung. Nirgendwo liegen so viele Wurzeln deutscher Geschichte wie hier. Wir sind stolz auf Sachsen-Anhalt! […] Eine einseitige Konzentration auf zwölf Unglücksjahre unserer Geschichte verstellt den Blick auf Jahrhunderte, in denen eine einzigartige Substanz an Kultur und staatlicher Ordnung aufgebaut wurde.“
In ihrem rheinland-pfälzischen Landtagswahlprogramm schreibt die Partei: „Mit aller Deutlichkeit wendet sich die AfD gegen die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts.“
Und in ihrem Grundsatzprogramm postuliert die AfD: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.“
Der Mitgründer, langjährige Partei- und Fraktionsvorsitzende und heutige Ehrenvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, machte bereits 2017 deutlich, was unter diesen „positiven, identitätsstiftenden Aspekte[n] deutscher Geschichte“ zu verstehen ist. „Wenn die Franzosen zu Recht stolz auf ihren Kaiser sind und die Briten auf Nelson und Churchill, haben wir das Recht, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“, so Gauland, der zugleich einen Schlussstrich unter die Erinnerung an die NS-Vergangenheit fordert und erklärt, man müsse „uns diese zwölf Jahre jetzt nicht mehr vorhalten“.
Als graue Eminenz und unbestrittene politisch-ideologische Führungskraft der AfD kommt Gauland eine Schlüsselrolle bei Propagierung eines revisionistischen Geschichtsbildes zu. Mal offen und lautstark wie bei seinem bekannten Diktum: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“. Mal subtiler, etwa wenn er bei einer Haushaltsdebatte im Bundestag im Zusammenhang mit dem Klimaschutz das Stereotyp des „Schuldkults“ bemüht: „1945 waren wir der Teufel der Welt. Heute wollen wir die Engel des Planeten sein, das leuchtende Vorbild.“… Dieses revisionistische Geschichtsbild bildet die Grundlage für die Relativierung der Shoa, mit der AfD-Politikerinnen immer wieder an die Öffentlichkeit treten.
So die Nürnberger AfD-Funktionärin Elena Roon. Versehen mit dem Text „Adolf, bitte melde dich! Deutschland braucht dich! Das Deutsche Volk!“ hatte Roon in einer Chatgruppe der Partei ein Hitler-Bild verbreitet. In einer anderen von ihr geteilten Montage wird Hitler die Aussage „Islamisten… die habe ich vergessen“ in den Mund gelegt.
An Roon zeigt sich der Umgang mit derartigen Vorfällen in der AfD. So gut wie nie haben geschichtsrevisionistische und antisemitische Ausfälle innerparteiliche Konsequenzen. Im Falle Roons stellte sich die Partei zunächst hinter sie. Nach öffentlichem Druck musste Roon dann zwar kurzzeitig von allen Parteiämtern zurücktreten, ihrer weiteren Karriere tat dies jedoch keinen Abbruch. Nur wenige Monate später wurde sie für die AfD in den Bezirkstag Mittelfranken gewählt, im Oktober 2021 zudem in den Landesvorstand der AfD Bayern. Seit 2023 gehört sie der AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag an.
Ihre praktische Umsetzung erfährt die Politik der Relativierung und Verleugnung der Shoa insbesondere in der Landes- und Kommunalpolitik der AfD.
So fordert die Partei in zahlreichen Landesparlamenten die Streichung der finanziellen Mittel für Gedenkstätten oder deren drastische Reduzierung. In Baden-Württemberg brachte die AfD beispielsweise einen Antrag ins Landesparlament ein, in dem vorgeschlagen wurde, die finanzielle Förderung der NS-Gedenkstätte Gurs in Frankreich einzustellen. Nach Gurs wurden am 22. Oktober 1940 6500 Jüdinnen aus Baden, der Pfalz und dem Saarland deportiert. Insgesamt wurden 17.000 Jüdinnen dort festgehalten, von denen mehrere Tausend später in verschiedene Vernichtungslager, hauptsächlich Auschwitz, deportiert wurden. Die Gedenkstätte wird jährlich mit 120.000 Euro unterstützt. Daneben will die baden-württembergische AfD keine Fahrten von Schülerinnen in NS-Gedenkstätten mehr veranstalten, sondern nur noch zu „bedeutsamen Stätten der deutschen Geschichte“. Eine Forderung, die sich in ähnlicher Form auch bei anderen AfD-Landesverbänden findet. Begründet wird dies mit Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung – und ausgerechnet damit, dass Migrantinnen ein positives Bild von Deutschland vermittelt werden müsse.
In Bayern sorgte die AfD mit einer Anfrage für Aufsehen, die die Ausgaben der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg auf den Prüfstand stellt. In sieben Fragen mit teils mehreren Unterpunkten wird unter anderem eine genaue Aufstellung der Kosten für ein Treffen der ehemaligen Häftlinge anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung verlangt.
Auf kommunaler Ebene setzt die AfD ihre Agenda des Geschichtsrevisionismus und der Relativierung der Shoa noch offener um. Beispielsweise im Nürnberger Land, wenn sie sich im dortigen Kreistag gegen die Finanzierung eines Schulprojekts, das sich mit dem KZ-Außenlager Hersbruck auseinandersetzt, ausspricht, mit der Begründung, es gebe Bürgerinnen, die sich dadurch „gedemütigt“ fühlten und keinem „Tätervolk“ angehören wollten. In Wolfsburg, wenn sie eine Gedenkstätte zur Erinnerung an Zwangsarbeiterinnen ablehnt und dabei gegen einen „reinen Schuldkomplex“ wettert. In Braunschweig, wenn sie die finanziellen Mittel für die KZ Gedenkstätte Schillstraße streichen möchte. In Bremen, wenn sie die finanzielle Förderung für den Gedenkort Bunker Valentin, einer U-Boot-Werft der deutschen Kriegsmarine, bei deren Bau 6000 Zwangsarbeiter den Tod fanden, als „Schuldkult und Mahntourismus“ ablehnt. Oder im niedersächsischen Bückeberg, wenn sie anlässlich der Debatte um eine Gedenkstätte eine sich verselbstständigende Erinnerungskultur beklagt, bei der dank eines neurotischen „Waschzwangs“ schuldlose Deutsche „unter Dauerschuld gestellt“ würden…. Die drastischsten Angriffe der AfD auf die Erinnerung an die deutschen Verbrechen und die Vernichtung der europäischen Jüdinnen – wie Björn Höckes Dresdner Rede – stoßen zwar regelmäßig auf öffentliche und mediale Empörung. Dabei wird jedoch selten thematisiert, warum ausgerechnet die Revision der deutschen Geschichte für die AfD ein solch zentrales Anliegen ist, das die Partei von der Bundesspitze bis in den kleinsten Kreisverband bewegt.
„Polit-strategisch lohnt sich die Geschichtsrevidiererei kaum. Es geht nicht darum, ein paar letzte unverbesserliche Nazi-Opis oder ein paar halbirre NPD-Hitler-Nostalgiker dazu zu bringen, ihr Kreuz bei der AfD zu machen“, vermutet Anna Sauerbrey.
Tatsächlich hat die AfD weit mehr im Blick als die Wähler*innengunst. Mit der Revision der Vergangenheit will sie Deutschland ideologisch aufrüsten für die Zukunft. Wie Oliver Fassing und Leo Fischer richtig zusammenfassen, geht es der AfD letztlich um die „Ablösung vom Nachkriegskonsens, die Zurückweisung der deutschen Schuld an Weltkrieg und Holocaust, zugunsten eines neuen Narrativs nationaler Selbstbehauptung“.
Nur vom vermeintlichen „Schuldkult“ befreit kann Deutschland endlich wieder seine – von der AfD als natürlich vorausgesetzte – Führungsrolle in der Welt einnehmen. Nicht nur ökonomisch, sondern politisch und letztlich auch militärisch. Aus Sicht der AfD ist eine Erinnerungskultur, die der Opfer gedenkt und die Täter benennt, ein moralischer Hemmschuh zur entschlossenen Durchsetzung deutscher Interessen und damit ein Nachteil in der internationalen Weltmarktkonkurrenz. Insbesondere die deutsche Verantwortung für den millionenfachen Mord an den europäischen Jüdinnen.
Der Antisemitismusforscher Lars Rensmann sieht darin eine Grundlage für den Antisemitismus in der AfD. „In der Konstruktion einer von der kritischen Erinnerung an den Nationalsozialismus und seinen Verbrechen ‚befreiten‘, die deutsche Nation vorbehaltlos glorifizierenden kollektiven Gedenkpolitik, die sich von einer kritischen Verarbeitung verabschiedet, erscheinen Jüdinnen und Juden zwingend als Problem“, so Rensmann.
Es ist daher wenig überraschend, dass die AfD bei ihrem Kampf gegen die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen immer öfter sogar prominente Vertreter*innen jüdischen Lebens in Deutschland sowie jüdische Einrichtungen und Institutionen ins Visier nimmt.