Historiker Dr. Daniel Schuch im Interview zu 80 Jahren Kriegsende und dem deutschen Verlangen nach versöhnlichen Geschichten von Zeitzeug*innen.
2025 feiert Deutschland den 80. Jahrestag der Kapitulation der Nationalsozialisten und somit das Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie erinnern, gedenken und reden wir heute über den Holocaust? Wer gestaltet das Erinnern? Was hat sich nach dem Auffliegen des NSU-Kerntrios und dem rechtsextremen Terror von München, Halle und Hanau in der Erinnerungskultur geändert? Wie vernetzen sich Betroffene und Überlebende rechtsextremer Gewalt heute? Wo kommen die verschiedenen Formen der Erinnerung zusammen? Um all das geht es in der vierten Ausgabe von [tacheles].
Die Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus wurde stark durch Zeug*innenschaft von Holocaust-Überlebenden geprägt. Doch Erwartung und Anspruch an die Überlebenden und ihre Erzählungen wandeln sich seit 80 Jahren ständig. Über diese Transformationen und die Geschichte von dem, was wir heute unter Zeitzeug*innenschaft verstehen, reden wir für [tacheles_4] mit dem Historiker Dr. Daniel Schuch.
Belltower.News: Wir blicken auf 80 Jahre Kriegsende zurück. Was hat sich seitdem verändert mit Blick auf die Stimmen und Geschichten von Holocaust-Überlebenden, gerade wenn man an Zeitzeug*innengespräche denkt?
Dr. Daniel Schuch: Zeug*innenschaft von Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung ist unglaublich vielfältig. Erste Überlebendenberichte von politischen Gefangenen sind bereits seit den ersten Konzentrationslagern ab 1933 dokumentiert. Nach Kriegsende stand vor allem die Beweissammlung für Gerichtsprozesse im Vordergrund. Schriftliche Berichte über die Shoah wurden hauptsächlich von Jüdischen Historischen Kommissionen in ganz Europa aufgezeichnet. Die ersten systematisch angefertigten Audio-Interviews mit Überlebenden entstanden 1946 durch den Psychologen David P. Boder aus einem sozialpsychologischen Interesse an Traumaforschung heraus.
Und heute?
Heute haben Zeitzeug*innenengespräche in Schulen oder Gedenkstätten bzw. in den Videointerviews dieser Zeug*innenschaft gänzlich andere Ziele. Der deutsche Begriff des Zeitzeugen/der Zeitzeugin vereint Berichte von so diversen Personen wie der in Bergen-Belsen ermordeten Anne Frank, der Shoah-Überlebenden Margot Friedländer mit Erzählungen von Wehrmachtsangehörigen oder Dissident*innen. Alle diese Personen sind Zeug*innen ihrer Zeit und dadurch ist der Begriff letztlich völlig unbrauchbar für eine kritische historische Differenzierung. Gleichzeitig geraten die persönlichen Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden oftmals nahezu in den Hintergrund. Im Format der Zeitzeug*inneninterviews sollen Überlebende explizit moralische Lehren für die Gegenwart und Zukunft formulieren, etwa im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus oder Krieg. Die Zuhörenden erwarten dann möglichst versöhnliche Geschichten. Die Rolle des sogenannten Zeitzeug*innen ist in diesen Interviews oft sehr eindimensional.
Das steht konträr zu frühen Zeugnissen aus der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dort wurde auch Rache und Hass gegen die Deutschen thematisiert, es ging explizit um kein Vergessen, aber auch kein Vergeben.
Im Endeffekt gab es in den letzten 80 Jahren diverse Transformationen, wie wir das, was die Überlebenden berichten, interpretieren oder verwenden. Ich sehe eine große Gefahr darin, dass deren Erinnerungen und Erzählungen zur bloßen moralischen Geste werden und wir uns nicht mit den komplexen Erfahrungen der NS-Verfolgung auseinandersetzen. Wie kam es zu diesem Wandel?
Zeug*innenberichte gab es wie bereits erwähnt bereits unmittelbar nach dem Kriegsende 1945. Als mediale Figur, als sogenannte ‚moralische Zeug*innen’, tauchten Shoah-Überlebende prominent beim Eichmann-Prozess 1961 in Israel auf. Der Prozess basierte größtenteils auf Opferzeug*innen, die als Überlebende eine jüdische Perspektive auf die Shoah darstellen sollten. Ihnen wurde die Autorität zugesprochen, eine moralische Botschaft zu vermitteln, also der Welt etwas Sinnvolles aufgrund ihrer Leiderfahrung mit dem ultimativ Bösen mitzugeben. Diese Form der Idealisierung von Überlebenden bis hin zur Identifikationsfigur hat wiederum innerhalb der kollektiven Erinnerung in Israel, den USA, aber auch in Deutschland eine wichtige Rolle gespielt.
Gab es einen unterschiedlichen Umgang mit Holocaust-Überlebenden in der DDR und BRD?
Ja. In der DDR spielten vor allem kommunistische, sogenannte politische Gefangene eine wichtige Rolle. Sie waren beispielsweise unmittelbar am Aufbau von KZ-Gedenkstätten beteiligt. Das zeigt: Es gab durchaus eine Wertschätzung von NS-Überlebenden, doch gleichzeitig auch eine gezielte Konkurrenz der Opfer. Der autoritäre SED-Staat unterschied beispielsweise in Kämpfer gegen den Faschismus oder Opfer des Faschismus, materiell ging es dann um konkrete Fragen wie etwa die Höhe der jeweiligen Opferrenten. Überlebende waren zwar öffentlich präsent, aber eben nur eine ganz bestimmte Gruppe von politischen Überlebenden. Jüdinnen und Juden, Sinti*zze, Rom*nja und andere Verfolgtengruppen mussten sich ihren Platz innerhalb des staatlichen Antifaschismus erkämpfen.
Und wie war es in der BRD?
In der alten Bundesrepublik hatten Überlebende große Schwierigkeiten, in der Öffentlichkeit überhaupt Anerkennung zu finden. Vor allem als Kommunisten Verfolgte mussten gegen den staatlichen und gesellschaftlichen Antikommunismus ankämpfen. Was jedoch verbindend zwischen BRD und DDR war, ist, dass bestimmte Verfolgtengruppen komplett ausgegrenzt und weiterverfolgt wurden, beispielsweise als homosexuell oder „asozial“ Verfolgte oder Sinti*zze und Rom*nja. Zwangsarbeiter*innen mussten jahrzehntelang um letztendlich lächerlich kleine Summen finanzieller Entschädigungen kämpfen. Das heißt, es gab in der BRD und DDR verschiedene Überlebendengruppen, die unterschiedliche Anerkennung erfahren haben. Und auch das ist dann eine Frage von Nutzbarmachung: Wie gingen Staat und Gesellschaft eigentlich mit welchen Überlebenden um?
Wie gestaltet sich das Erinnern seit der Wiedervereinigung?
In der Post-Wende-Zeit kam es in Deutschland zu einer starken Anerkennung von Holocaust-Überlebenden und schrittweise auch von anderen ehemaligen Verfolgtengruppen. Diese Anerkennung mussten sich viele Betroffenen allerdings über erbitterte Proteste und Gerichtsverfahren erkämpfen und sie kam für viele auch Jahrzehnte verspätet und zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Überlebenden bereits verstorben waren. Dann erübrigte sich auch die Frage nach einer finanziellen Entschädigung.
Wie spielen Zeug*innenschaft und Erinnerungskultur zusammen?
Zeugenschaft ist längst ein zentraler Bestandteil dessen, was wir seit den 1990er Jahren mit dem Begriff der Erinnerungskultur bezeichnen. Das meint all jene Phänomene, wie wir als Gesellschaft die Vergangenheit deuten und in verschiedenen Formen öffentlich verhandeln. Anhand der westdeutschen Nachkriegsgeschichte wird deutlich, dass die Stimmen der Überlebenden in der Erinnerungskultur der Mehrheitsgesellschaft kaum eine Rolle gespielt haben und öffentlich ausgeblendet wurden. Sie waren schlichtweg unerwünscht. Damals ging es primär um „Vergangenheitsbewältigung“, die durch die Deutschen als vermeintliche Opfer des Nationalsozialismus und eine überaus präsente Darstellung deutscher Widerstandskämpfer*innen geprägt war. Zumeist bedeutete das einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit, in Ost wie West. Daraus resultierte eine eindimensionale, oberflächliche und bequeme Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, die die Stimmen der Verfolgten kaum wahrnehmen wollte. Seit nunmehr 40 Jahren wird zudem über das „Ende der Zeitzeugenschaft“ und die Bedeutung des Ablebens der letzten Zeug*innen kontrovers diskutiert.
Wie sollte Erinnerungskultur aussehen, die eine kritische Aufarbeitung und ein angemessenes Gedenken an den Holocaust fördert?
Ein Erfolgsrezept für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust habe ich nicht parat. Wir müssen definitiv davon wegkommen, entweder nur die Perspektive der Täter*innen einzunehmen oder uns nur mit den Opfern zu identifizieren. Wir können uns in der Forschung etwa nicht nur schriftliche NS-Dokumente anschauen, um darüber den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu verstehen. Dazu brauchen wir die Perspektiven der Täter*innen, der Mehrheitsgesellschaft und eben auch der Verfolgten.
Und hier ist die größte Stärke, dass wir die Perspektive von Verfolgten durch zehntausende Interviews und andere Zeugnisse rekonstruieren und damit auch pädagogisch arbeiten können. Deren Berichte müssen wir jedoch zu einem multiperspektivischen Blick auf den Nationalsozialismus verarbeiten, um begreifen zu können, wie der Holocaust überhaupt möglich war. Der Holocaust-Überlebende und Historiker Saul Friedländer formulierte diesen Ansatz bereits in den frühen 2000er Jahren als eine „integrierte Geschichte des Holocaust”. Ziel ist eine Gesamtdarstellung, die die Verflechtungen zwischen Tätern, Opfern und der Gesellschaft sowie die Reaktionen und Wahrnehmungen der Betroffenen berücksichtigt – nicht als getrennte Geschichten, sondern als eng miteinander verflochtene historische Prozesse.
Dafür sollten wir auch unsere Erwartungshaltung an die NS-Überlebenden und ihre Erzählungen überdenken. Wir müssen aufhören, Überlebende als eindimensionale, idealisierte Figuren zu betrachten, denn sie hatten und haben ganz unterschiedliche Positionen und Geschichten. Und die sollten und müssen wir ernst nehmen für eine tiefgreifende Aufarbeitung des Holocaust als längst hinfälliger Teil deutscher Erinnerungskultur. Im besten Falle bleibt bei dieser Auseinandersetzung ein Gefühl der Verunsicherung zurück. Reine Erfolgsgeschichten der deutschen Aufarbeitung nach 80 Jahren Kriegsende gilt es indes kritisch zu hinterfragen.
Dr. Daniel Schuch ist Historiker und Kurator. Er arbeitet seit 2020 am Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena. 2021 wurde seine Doktorarbeit im Wallstein Verlag unter dem Titel „Transformationen der Zeugenschaft“ publiziert, das Buch wurde mit dem Irma Rosenberg Preis ausgezeichnet. Seit 2024 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt „KZ-Gedenkstätten als Bühnen der Systemkonkurrenz. Antifaschistische Verflechtungsgeschichten in Zeiten des Kalten Krieges”.