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Warum Sinti* und Roma* sich in Deutschland nie sicher fühlen

Kelly Laubinger spricht über ein generationenübergreifendes Gefühl der Unsicherheit, über das Versagen staatlicher Institutionen und über die dringende Notwendigkeit eines strukturellen Wandels in Politik und Gesellschaft. Ihr Beitrag ist ein Appell für echtes Verbündet-Sein und für die Umsetzung der Handlungsempfehlungen des Berichts der Unabhängigen Kommission Antiz**anismus.

Sicherheit für Sinti* und Roma* ist in Deutschland bis heute nicht selbstverständlich. Dieses generationenübergreifende Gefühl der Unsicherheit prägt viele Familien bis heute. In unserer Kampagne sprechen wir darüber, warum Sicherheit für Sinti* und Roma* durch institutionelles Versagen, durch gesellschaftliche Vorurteile und durch alltägliche Diskriminierung bedroht ist.

In diesem Interview erzählt uns Kelly Laubinger, Geschäftsführerin der Sinti Union Schleswig-Holstein und Aktivistin, warum viele Sinti* und Roma* der Polizei und staatlichen Institutionen nicht vertrauen, weshalb Sicherheit für sie vor allem in der eigenen Community entsteht und was sich politisch ändern muss, damit echte Sicherheit möglich wird.

Fühlst du dich sicher in Deutschland?

Kelly Laubinger: Nein. Ich habe mich eigentlich noch nie sicher in Deutschland gefühlt, und das ist ein Gefühl, das über Generationen in meiner Familie weitergegeben wurde. Sicherheit gibt es für uns Sinti*&Roma* eigentlich nicht und das gilt unabhängig davon, wo wir leben. Wenn man auf andere europäische Länder blickt, sieht man überall das Erstarken rechtsextremer Bewegungen und tief verankerte strukturelle Diskriminierung gegenüber Sinti*&Roma*. Für uns und für viele andere marginalisierte Gruppen bedeutet das: Es gibt keine echte Sicherheit.

Was bedeutet Sicherheit für dich?

Kelly Laubinger: Ich war drei Jahre alt, als das SEK den Kindergeburtstag meines Bruders stürmte. Weil wir Sinti* sind, wurde meine Familie, die aus Holocaust-Überlebenden besteht, grundlos kriminalisiert. Dieser Einsatz war kein Einzelfall, sondern Teil einer langen Geschichte rassistische Polizeipraktiken gegen über Sinti* und Roma*, die sich bis heute fortsetzen. Auch heute versagt die Institution Polizei regelmäßig, wenn es um unsere Sicherheit geht. Sicherheit finden wir eigentlich nur innerhalb unserer Community.

Deine Erfahrungen zeigen deutlich, wie schnell Sicherheit für Sinti* und Roma* verloren gehen kann, wenn staatliche Stellen kriminalisieren statt schützen.Wie erlebst du die Sicherheits-Situation aktuell, und wie gehst du damit um?

Kelly Laubinger: Das ist schwer zu beantworten. Heute spreche ich viel darüber, innerhalb der Community, aber auch mit Verbündeten oder Menschen, die bereit sind zuzuhören und zu lernen. Das stärkt mich sehr. Meine Community und Verbündete sind mein wichtigstes soziales Netzwerk.

Was hilft dir im Alltag?

Kelly Laubinger: Manchmal hilft es mir, die politische Lage ironisch zu betrachten, wie eine Netflix-Serie: oftmals Horror, mal Comedy, mal Thriller. Ich kann manchmal darüber lachen oder scherzen, an anderen Tagen fällt es mir schwer.

Trotz all der Traumata, trotz struktureller Diskriminierung, trotz der NS-Zeit und der 2. Verfolgung nach 1945 waren die Überlebenden aus meiner Familie starke Persönlichkeiten, die das Leben genießen wollten. Sie haben nie aufgegeben und das gibt mir Hoffnung. Der Gedanke an unsere alten Menschen, die mittlerweile nicht mehr leben, meine Community und Verbündete spenden mir viel Kraft.

Was bedeutet Widerstand für dich?

Kelly Laubinger: Meine Familie ist nach der Befreiung in die Kleinstadt zurückgekehrt, in der sie zuvor lebte, in der Hoffnung weitere überlebende Familienmitglieder wiederzutreffen. Das war bereits eine Form von Widerstand. Wir leben immer noch in dieser Kleinstadt, in der die extreme Rechte stark präsent ist. Mittlerweile pendle ich zwischen Berlin und der Kleinstadt in Schleswig-Holstein und werde oft gefragt: Wieso ziehst du nicht gleich nach Berlin? Und nun ja, unsere Überlebenden sind in dieser Stadt geblieben, da mache ich doch heute keinen Platz für Rechtsextremist*innen. Das bedeutet für mich ebenso Widerstand: Keinen Platz machen. Man wollte unsere Familien und unsere Kulturen vernichten und deshalb ist allein schon die Erzählungen unserer Familiengeschichte, Sichtbarkeit in der strukturellen Unsichtbarmachung sowie die Weitergabe unserer Kulturen bereits Widerstand.

Bücher haben mir zusätzlich eine Sprache gegeben für das, was wir erlebt haben und bis heute erleben. Mit dem Rückhalt der Familie gibt mir das Kraft, nicht aufzugeben.

Was brauchst du, um dich in Deutschland sicher zu fühlen?

Kelly Laubinger: Ich glaube, ich werde mich nie ganz sicher in Deutschland fühlen. Um die Frage dennoch zu beantworten: Es benötigt einen strukturellen Wandel in der Gesellschaft, in Institutionen und in der Politik. Die Politik, die wir zum Teil selbst mitwählen, muss sich endlich aus der historischen Verantwortung heraus für die Rechte von deutschen, zugewanderten und geflüchteten Angehörigen der Minderheit vollumfassend einsetzen und die Forderungen des Berichts der Unabhängigen Kommission Antiz**anismus, die vom Deutschen Bundestag einberufen wurde, vollumfänglich umsetzen. Die Politik erkennt geflüchtete Roma bisher nicht als besonders schutzbedürftige Gruppe an, obwohl die Anerkennung zu den zentralen Forderungen des Berichts der Unabhängigen Kommission Antiz**anismus zählt. Die Politik verwehrt sich somit ihrer historischen Verantwortung.

In beispielsweise Schleswig-Holstein haben deutsche Sinti*&Roma* einen besonderen Verfassungsrang als nationale Minderheit. Das wünsche ich mir auch in anderen Bundesländern. Zugewanderte und geflüchtete Roma werden hier leider außen vor gelassen. Darüber hinaus ist die Vereinbarung eines Staatsvertrages zwischen der Bundesregierung und allen Dachorganisationen mehr als überfällig.

Für diesen strukturellen Wandel braucht es allerdings einen politischen Willen, und der ist bisher nicht vorhanden.

Was wünschst du dir von der Zivilgesellschaft?

Kelly Laubinger: Dass sie uns mitdenkt, statt uns auszuklammern. Dass sie uns bei unseren Gedenkveranstaltungen nicht unsichtbar macht und lernt auch unbequeme Stimmen auszuhalten. Ich wünsche mir von der Zivilgesellschaft die Bereitschaft, Ressourcen zu teilen und zu verstehen, dass Themen von Sinti*&Roma* gesellschaftlich-relevante Themen sind.

Ich wünsche mir ebenso die Anerkennung unserer Pluralität. Wir sind keine homogene Gruppe. Es gibt über 130 Selbstorganisationen von Sinti*&Roma*, und hiervon sind nur knapp 50 Selbstorganisationen Mitglied einer Dachorganisation. Das bedeutet ganz konkret, dass keine Dachorganisation für alle Sinti und Roma sprechen kann.

Die Meldestelle MIA macht Angriffe erstmals sichtbar. Was muss daraus folgen?

Kelly Laubinger: Naja, also erstmals sichtbar ist nicht korrekt. Seit Jahrzehnten machen Sinti* und Roma* Selbstorganisationen auf Rassismus aufmerksam. Zu den bekanntesten Fällen der letzten Jahre gehören beispielsweise meine beiden Klagen gegen ein Fitnessstudio im Jahr 2022 und im Jahr 2024 gegen ein Hotel. Als Sinti Union Schleswig-Holstein haben wir selbst gemeinsam mit Verbündeten auf die Fälle aufmerksam gemacht.

Zurück zur Meldestelle: Die gemeldeten Fälle bei den Meldestellen, sei es die Antidiskriminierungsstelle des Bundes oder die MIA, sind nur die Spitze des Eisbergs. Viele Menschen kennen die Meldestellen nicht und nur wenige, die die Meldestellen kennen, melden Fälle von Diskriminierung. Die Dunkelziffer bleibt dementsprechend hoch. Ich habe beispielsweise auch erst 2021 durch den Aktivismus erfahren, dass es eine Antidiskriminierungsstelle gibt. Der Rassismus gegenüber Sinti und Roma ist strukturell verankert und dennoch scheint es für die Politik wichtiger zu sein, den Rassismus in Zahlen zu erfassen. Nichtsdestotrotz sollte die MIA nicht um ihre Förderung bangen müssen und eine dauerhaft sichere Förderung erhalten sowie mehr Mittel, um sichtbar zu werden.

Die Politik hätte genug Handlungsempfehlungen, zum Beispiel durch den Bericht der Unabhängigen Kommission Antiz*ismus. Sie muss sie endlich umsetzen.
Was gibt dir Hoffnung?

Kelly Laubinger: Meine Familie und Verbündete; Menschen, mit denen ich gemeinsam wütend, hoffnungsvoll, verzweifelt und traurig sein kann. Verbündete – jene Menschen, die die Anliegen des anderen zu ihren eigenen machen. Das Konzept von Verbündet-Sein nach Leah Czollek und Gudrun Perko hat unglaublich viel Potenzial für die Gestaltung einer besseren und solidarischeren Gesellschaft.

Und ich denke an meine Familie: Kultur weitergeben, Zusammenhalt, nicht aufgeben, trotz allem, das ist unser Widerstand. Dieses Erinnern gibt mir Kraft. Und Hoffnung.

Damit Sicherheit für Sinti* und Roma* endlich Realität wird, braucht es politischen Willen, strukturelle Veränderungen und die Umsetzung der Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiz**anismus.Vielen Dank für deine Zeit und für das Interview.

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