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35 Jahre nach dem Mord an Amadeu Antonio: Warum die Bundesregierung über 100 rechte Morde nicht zählt

Amadeu Antonio gilt als eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung. Er starb am 6. Dezember 1990, nachdem er elf Tage zuvor von einem Neonazi-Mob brutal zusammengeschlagen und ins Koma geprügelt wurde. Doch seit dem Mord an Amadeu Antonio Tod vor 35 Jahren haben Rechtsextreme nicht aufgehört zu morden. Im Gegenteil, seit der Wiedervereinigung zieht sich die Blutspur rechter Gewalt durch die Geschichte der Bundesrepublik.

Staatliche Behörden erkennen lediglich 117 Todesopfer offiziell an, die Amadeu Antonio Stiftung hingegen dokumentiert derzeit 221 Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt. Die Gründe für diese Diskrepanz von über 100 verwehrten Anerkennungen rechter Tatmotive sind vielschichtig. Doch sind vor allem die Konsequenzen dieser Lücke verheerend – sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftspolitischer Ebene.

Der doppelte Schmerz

Das erste und oft entscheidende Problem entsteht bereits bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit: Ob ein rechtsextremes Motiv bei einer Tat überhaupt erkannt wird, hängt maßgeblich von den zuständigen zum Tatort gerufenen Polizist*innen ab. Dies liegt auch daran, dass die Behörden bei der Erfassung politisch motivierter Kriminalität oft das „tatauslösende“, also dominierende, rechtsextreme Motiv zur Einschätzung heranziehen. Taten, bei denen ein rechtsextremes Motiv lediglich begleitend oder wie in den meisten Fällen Gewalt-eskalierend wirken, werden dabei leicht übersehen oder gar nicht erst in Betracht gezogen.

Studien legen offen, dass von Rassismus betroffene Menschen häufig eine sekundäre Viktimisierung erfahren: Sie erleben eine erneute Schädigung durch jene Instanzen, die sie eigentlich schützen sollen. Die Behörden neigen dazu, nach leicht beweisbaren persönlichen Konflikten oder direkten Täter-Opfer-Beziehungen zu suchen, während Indizien für ein politisches Motiv zu wenig Beachtung geschenkt werden – im schlimmsten Fall kommt es sogar zur Täter-Opfer-Umkehr. Ein drastisches Beispiel sind die Ermittlungen im NSU-Komplex, bei denen jahrelang in Richtung angeblicher Verbindungen der Opfer in ein kriminelles Milieu ermittelt wurde, obwohl es diese gar nicht gab.

Die SeVik-Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft der Universität Jena zeigt deutlich: Behörden greifen bei politisch motivierter Kriminalität weiterhin auf unzureichende und verengte Erklärungsmuster zurück. Rechtsextreme Gewalt wird häufig nur dann anerkannt, wenn die Täter*innen polizeibekannte, organisierte Neonazis sind oder wenn eindeutige rechtsextreme Symbolik vorliegt.

Doch wie das Deutsche Institut für Menschenrechte betont, geht es bei rassistischer Gewalt nicht in erster Linie um die subjektiven Motive der Täter*innen, sondern um die Wirkung der Tat auf die Betroffenen. Deshalb muss die Motivermittlung konsequent bei der Perspektive der Betroffenen ansetzen, sobald ein Verdacht auf eine rechtsextreme Tat besteht. Nur ein solcher Ansatz gewährleistet, dass die menschenfeindliche Realität der Tat korrekt erfasst wird – und Betroffene ernst genommen sowie geschützt werden.

Die juristische Hürde

Dieses Dilemma spitzt sich im Gerichtssaal weiter zu. Besonders hier wird die Schwierigkeit deutlich, das rechtsextreme Motiv der Tat formaljuristisch zweifelsfrei nachzuweisen, obwohl der inhaltliche Gehalt des Geschehens klar darauf hindeutet. Zwar gelten rassistische oder menschenfeindliche Motive im deutschen Strafrecht als besonders verwerflich und strafverschärfend. Sie erfüllen das Mordmerkmal der „niedrigen Beweggründe“ und würden eine Tötung zum Mord hochstufen. Trotzdem entscheiden sich Gerichte oft für das leichter beweisbare Urteil: Totschlag. Es geht ihnen dabei auch um Verfahrenssicherheit, denn Mord als vermeintlich subjektives Motiv ist weitaus schwerer zu beweisen.

Richter und Staatsanwälte versuchen deshalb, mögliche Verfahrensfehler und Revisionsverfahren zu vermeiden, anstatt das volle Unrecht der Tat in der Urteilsbegründung abzubilden.

Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist der Mord an Mahdi ben Nacer, bei dem das Gericht trotz klarer Aktenlage ein rassistisches Motiv umgehend ausschloss. Der Täter wurde nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags verurteilt – ein Vorgehen, das der Generalbundesanwalt später beanstandete, weil das qua Aktenlage offensichtlich vorliegende rassistische Motiv nicht ausreichend erörtert wurde. Der Bundesgerichtshof entscheidet voraussichtlich Mitte Dezember über die Wiederaufnahme des Verfahrens.

Die Verantwortung des Staates

Diese fehlende juristische Konsequenz bei der Würdigung des Motivs hat weitreichende Konsequenzen für die Betroffenen und die gesamte Gesellschaft. Denn die Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt ist weit mehr als eine bürokratische Geste: Sie ist ein Schlüssel zu mehr Gerechtigkeit und dem Schutzversprechen unserer Verfassung. Mit der Anerkennung erhalten Angehörige nicht nur Anspruch auf Entschädigungszahlungen, sie erhalten vor allem eine Antwort auf das quälende „Warum?“. Die staatliche nicht-Anerkennung dieser Fälle hat traumatisierende Konsequenzen für die Hinterbliebenen.

Auf gesellschaftspolitischer Ebene führt diese Praxis zu einer gefährlichen Verzerrung der Realität, indem sie die wahre, tödliche Konsequenz von Rassismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus und anderen menschenfeindlichen Ideologien systematisch verschleiert. Wird ein Problem nicht sichtbar gemacht, kann auch wenig dagegen unternommen werden.

Die Justiz muss sich der Herausforderung stellen, die tödliche Realität rechter Gewalt konsequent als solche zu benennen. Das rassistische oder menschenfeindliche Motiv muss auch dann als schwerwiegender Umstand behandelt werden, wenn es nicht für eine Mordanklage reicht. Selbst wenn das Gericht „nur“ auf Totschlag erkennt, muss der menschenfeindliche Hass in der Urteilsbegründung ausführlich gewürdigt werden, um das Strafmaß deutlich zu erhöhen. Diese explizite Benennung ist ein entscheidender Schritt, um Opfern und Angehörigen später die offizielle Einstufung der Tat als staatlich anerkannte Form politisch motivierte Gewalt zu erleichtern.

Der 35. Todestag von Amadeu Antonio ist nicht nur ein Tag des Gedenkens, sondern eine dringende Mahnung an Politik, Justiz und Sicherheitsbehörden, den Blick bei der Bewertung von Vorurteilskriminalität zu schärfen. Nur wenn alle Todesopfer rechter Gewalt lückenlos anerkannt werden, wird Deutschland seiner Verantwortung für eine umfassende Aufarbeitung der Kontinuitäten rechter Gewalt gerecht. Auch für eine wirkungsvolle Prävention wäre eine realistischere Bewertung der tödlichen Folgen rechter Gewalt eine notwendige Grundlage. Die Anerkennung der Todesopfer rechter Gewalt wäre vor allem auch ein Zeichen an alle Angehörigen, dass ihre Wunden, die durch staatliches Versagen noch zusätzlich vertieft wurden, endlich den Weg zur Heilung finden können.

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