Das Team der Wanderausstellungen des Anne Frank Zentrums befasst sich mit zeitgenössischer Erinnerungskultur und versucht, über verschiedene Perspektiven und aktuelle Herausforderungen das Gedenken zu vermitteln. Franziska Göpner und Jakob Eichhorn vom Anne Frank Zentrum in Berlin berichten aus der Praxis politischer Bildung zu Nationalsozialismus und Shoah, 80 Jahre danach.
von Franziska Göpner und Jakob Eichhorn (Anne Frank Zentrum)
Die Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen hat die deutsche Gesellschaft tief geprägt, ihre Spuren finden sich überall. Die Erinnerung an die NS-Geschichte und den Holocaust sind ein zentraler Bestandteil der Gegenwartsgesellschaft. Doch 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist diese Erinnerung stark umkämpft. Geschichtsrevisionistische Deutungen und Formen der Relativierung des Holocaust sind ein beständiger Kern rechtsextremer Ideologie und werden zunehmend offen artikuliert. Doch nicht nur aus rechten Lagern, sondern ebenso aus linken Kreisen ist ein Anstieg an Antisemitismus, besonders israelbezogener Antisemitismus, zu verzeichnen. Die Zahlen des zivilgesellschaftlichen Monitorings zeigen eine enorme Zunahme antisemitischer und rechtsextremer Angriffe und Vorfälle im Jahr 2024. Auch die Ergebnisse der Einstellungsforschung machen einen Anstieg rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung deutlich. Hinzu kommt eine zunehmende zeitliche und biografische Distanz mit Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust. Diese Entwicklungen haben Einfluss auf das Feld der historisch-politischen Bildung und der Erinnerungskultur.
Laut der Gedenkanstoß MEMO-Studie spricht sich mittlerweile eine relative Mehrheit der deutschen Bevölkerung für einen sogenannten „Schlussstrich“ unter die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus aus. In einem allgemeinen Wandel des Geschichtsbewusstseins scheint diese Entwicklung aber nicht begründet zu sein. Vielmehr meinen etwa drei Viertel der Befragten durchaus, man könne aus der Geschichte für die Zukunft lernen. In der Studie kamen fast 40 Prozent zu der Einschätzung, sie könnten selbst etwas tun, um die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen mitzugestalten. Gleichzeitig geben aber über 70 Prozent der Befragten an, sich in der Realität in diesem Bereich eher wenig oder gar nicht zu engagieren.
Die Bildungsangebote des Anne Frank Zentrums ermöglichen partizipative und lebensweltorientierte Zugänge zur Geschichte, die die Teilnehmenden mit ihren Erfahrungen in den Blick nehmen. Anne Franks Tagebuch und ihre Biografie sind für viele Jugendliche ein erster Zugang zur Auseinandersetzung mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust. Über den biografischen Ansatz und die Auseinandersetzung mit der konkreten Person Anne Frank schaffen die Bildungsangebote einen jugendgerechten und lebensweltnahen Zugang zur Geschichte. Dabei ist es entscheidend, sie nicht als ikonische Heldin zu verklären, sondern ihr persönliches Zeugnis als eines von vielen biografischen Beispielen zu betrachten – eines, das in der Erinnerungskultur eine besondere Rolle eingenommen hat. Ziel dessen ist es, eine kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Holocaust – Gedenken anzuregen, gleichzeitig jedoch auch die Vielfalt an Perspektiven zu stärken, um unterschiedliche Zugänge zu historischen Ereignissen erst möglich zu machen.
Ein zentraler Bestandteil dieser Bildungsarbeit ist die Methode der “Peer Education”. Im Rahmen der Anne Frank Wanderausstellung werden Jugendliche – in begleiteten Trainings – zu sogenannten „Peer Guides“ ausgebildet und begleiten andere Jugendliche durch die Ausstellungen. Dabei erzählen sie Geschichten aus ihrer eigenen Perspektive, mit ihren eigenen Worten und in Bezug auf ihre Lebenswelt. Ein Lernen auf Augenhöhe ergänzt klassische Lehr- und Lernerfahrungen. Partizipation wird damit zum Schlüssel von gegenwärtigem Holocaust-Gedenken: Sie stärkt junge Menschen in ihrer Rolle als Mitgestaltende einer aktiven Erinnerungskultur.
Die Vermittlungsarbeit bleibt nicht in der Geschichte stehen. Die Bildungsangebote des Anne Frank Zentrums verbinden das historische Lernen und die Auseinandersetzung mit aktuellen Formen von Antisemitismus, Rassismus und anderen menschenverachtenden Ideologien. Dabei werden die Perspektiven von Betroffenen von Antisemitismus, Rassismus und weiteren Gewaltverhältnissen sichtbar gemacht. Die Frage, wie die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust antisemitismuskritisch und diskriminierungssensibel vermittelt werden kann, umfasst eine differenzierte Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten und Quellen. Des Weiteren braucht es eine selbstkritische Verortung und Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Positionierung wie auch der eigenen Bezüge zu den Themenfeldern. Wir leben in einer diversen und heterogenen Gesellschaft. Die Vermittlung der Geschichte des Holocaust muss die Perspektiven von Jüdinnen*Juden und anderen Nachkommen von im Nationalsozialismus Verfolgten und Ermordeten aktiv mitdenken. Eine diskriminierungssensible und inklusive Geschichtsvermittlung kann dabei den Raum eröffnen, eigene Erfahrungen von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung in der Gegenwart zu thematisieren und zu bearbeiten.
Die Forschung zeigt, dass es für wirksame historische Bildung nicht genügt, Wissen zu vermitteln – entscheidend ist die aktive Beteiligung. Die Mitwirkung an partizipativen Formaten fördert nicht nur die historische Sensibilisierung, sondern auch das kollektive Engagement für Demokratie wird gestärkt und der Einsatz gegen Antisemitismus gefördert. Wer sich aktiv einbringen kann, entwickelt ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, also die Überzeugung, dass das eigene Handeln einen Unterschied macht. Diese Erkentniss wirkt als Zugang zu gesellschaftlichem Engagement und stärkt die Bereitschaft, sich gegen verschiedene Formen von Diskriminierung einzusetzen. Hier wird deutlich: Erinnerungskultur entfaltet ihre Wirksamkeit besonders dort, wo sie nicht nur rezipiert, sondern aktiv gestaltet wird. Erinnerungskultur und Geschichtsvermittlung, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, brauchen neben den beschriebenen diskriminierungssensiblen Zugängen und einer kritischen historischen Einordnung insbesondere Räume für Teilhabe. Genau hier setzt die Bildungsarbeit des Anne Frank Zentrums an.
Franziska Göpner hat Kulturwissenschaften und Germanistik an der Universität Leipzig studiert und ist seit mehreren Jahren im Feld der historisch-politischen Bildung tätig. Seit 2017 ist sie Bereichsleiterin der Wanderausstellungen des Anne Frank Zentrums.
Jakob Eichhorn hat seinen akademischen Hintergrund in Geschichts-, Medien- und Kommunikationswissenschaft gesammelt und ist Referent im Projekt “Politische Bildung im Strafvollzug”.
Literatur:
Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V., Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2024, Online ISSN 2751 – 4021, 05.06.2025.
Decker, O. / Kiess, J. / Heller, A. / Brähler, E. (Hrsg.), Vereint im Ressentiment. Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen. Leipziger Autoritarismus Studie 2024, Gießen 2024.
Ditlmann, R./ Firestone, B./ Turkoglu, O. (Hrsg.), Participating in a Digital-History Project Mobilizes People for Symbolic Justice and Better Intergroup Relations Today. In: Psychological Science, 36(4), S. 249-264. https://doi.org/10.1177/09567976251331040, 05.06.2025.
Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) e.V., Rechte Gewalt 2024 – Eine Bilanz des Schreckens, Pressemitteilung vom 20. Mai 2025, online unter https://verband-brg.de/wp-content/uploads/2025/05/PE_VBRG_Jahresbilanz_rechte_Gewalt_2024_Onlineversion_20.05.2025.pdf
Walter, L./ Rees, J./ Pimpl, J./ Papendick, M./ Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung/ Universität Bielefeld, Gedenkanstoß MEMO. Multidimensionaler Erinnerungsmonitor 2025.