Der 51-jährige Obdachlose Norbert Plath wird in der Nacht zum 24. Juli 2000 in Ahlbeck auf Usedom (Mecklenburg-Vorpommern) von einer Gruppe junger Neonazis zu Tode geprügelt.
Norbert Plath wuchs auf der Ostseeinsel Usedom, in der ehemaligen DDR auf. Sein Vater war Leiter eines Urlaubsheimes, seine Familie war auf der Insel angesehen. Er galt als stiller Schüler, nur im Kunstunterricht fiel er mit seinem Talent besonders auf. Später entdeckte er auch seine Liebe zur Musik. Er begann Songtexte und Lieder zu schreiben. Nach seinem Schulabschluss wurde er von der Staatssicherheit als “Inoffizieller Mitarbeiter” angeworben. Allerdings wurde er den Ansprüchen der Stasi nicht gerecht, er verlor kaum ein schlechtes Wort über Kolleg*innen oder Nachbar*innen und war damit für die Informationsbeschaffung und die Interessen der Staatssicherheit nicht zu gebrauchen. Nach drei Jahren beendete Plath die Zusammenarbeit. Er zog nach Hoyerswerda zu seiner Freundin, heiratete und wurde Vater. Immer wieder geriet er ins Visier der DDR-Behörden – sei es durch seinen Alkoholkonsum oder durch sogenannte Arbeitsbummelei. Oft blieb er seiner Arbeit fern – in der DDR auf Grundlage des “Asozialenparagraphen” 249 im Strafgesetzbuch ein Grund für Haftstrafen. Fast sechs Jahre seines Lebens als junger Vater verbrachte er im Gefängnis. Die Ehe zerbrach.
1979 erhielt er anlässlich des 30. Jahrestages der DDR Amnestie. In einer Großbäckerei in Holzdorf (Sachsen-Anhalt) wurde ihm ein Arbeitsplatz zugewiesen. In dem kleinen Ort konnte er nochmal von vorn anfangen. Er heiratete erneut, wurde wieder Vater. Die Familie lebte in einem neu gebauten Haus mit eigenem Garten. Als es ihm erlaubt war, seinen zugewiesenen Job zu wechseln, fing er in einem Milchviehbetrieb an. Voller Fernweh begann er, mit Menschen aus aller Welt Schach zu spielen. In Briefen schickten sie sich gegenseitig die neuesten Spielzüge zu. Die Briefmarken bewahrte er auf – sie waren kleine Erinnerungen an das Leben außerhalb der DDR, von deren strikten Vorschriften er sich zunehmend eingeengt fühlte. Immer wieder stieß er sich an den Grenzen des Legalen. Er blieb seiner Arbeit fern, verdiente sich stattdessen Geld als Straßenkünstler in Prag, auch sein Alkoholkonsum führte oft zu Konflikten mit der eigenen Familie und Staatsgewalt.
Am Tag des Mauerfalls befand sich Plath ebenfalls in Prag und beteiligte sich wie viele andere an den sogenannten Botschaftssturm, indem er über den Zaun der BRD-Botschaft sprang. Seine Familie ließ er auf der anderen Seite zurück. In den Westen ausgereist, startete er in Rheinland-Pfalz sein neues Leben. Er arbeitete als Konditor, seine Familie konnte später nachkommen. Doch auch am neuen Ort überkam ihn die Rastlosigkeit. Er reiste durchs Land, besuchte Freund*innen in seinen früheren Heimatorten. Mit der Zeit brach der Kontakt zu seiner Frau und seinen Kindern ab. Das rastlose Nomadenleben von Plath belastete die Familie schwer. Im Sommer 2000 entschied Plath, wieder in den Ort zu gehen, in dem er aufgewachsen ist: Ahlbeck auf Usedom. Er schlief für gewöhnlich bei einem alten Freund, tagsüber streifte er durch die ihm bekannten Straßen.
Die Tatnacht
Am 23. Juli 2000 ist der Freund, bei dem er sonst immer einen Schlafplatz gefunden hat, abends unterwegs. Plath entscheidet sich dazu, einen anderen Unterschlupf für die Nacht an einer Kirche zu suchen. Vor der Kirche treffen sich Jugendliche. Darunter auch der 24-jährige Neonazi Gunnar D. mit einem 15-Jährigen und einem 16-Jährigen Freund. Die Stadt ist gegenüber der wachsenden rechtsextremen Jugendkultur und Szene in Ahlbeck resigniert. Es wird das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit praktiziert. Der städtische Jugendclub wurde dadurch schnell zum staatlich finanzierten Treffpunkt der jungen rechtsextremen Skinheads, die Haftstrafe für Gunnar D. wird erstmal aufgeschoben, damit er noch seine Lehre beenden kann. Ein Gefälligkeitsdienst. Rechte Gewalt wird in der akzeptierenden Jugendarbeit als Problem ausgegrenzter Jugendlicher betrachtet, die lediglich wieder resozialisiert werden müssen – ein fataler Fehlschluss, der sich auch in der “Generation NSU” zeigt.
Als die Jugendgruppe den schlafenden Norbert Plath hinter der Kirche findet, leuchten sie ihm mit einem Feuerzeug ins Gesicht, sodass er aufwacht. Sie trinken gemeinsam Bier, Plath teilt seine letzten Dosen mit den Jugendlichen. Die Gruppe verabschiedet sich. Kurze Zeit später geht einer der jungen Neonazis wieder zurück zu Plath und erzählt hinterher stolz, dem Obdachlosen “ein Paar geknallt zu haben”. Dann gehen auch Gunnar D. und seine zwei Freunde zu Plath. Sie schlagen auf den Mann ein und verletzen ihn dadurch schwer. Plath bittet seine Angreifer noch, ihn “bitte in Ruhe sterben” zu lassen. Die drei Skinheads ziehen ab und prahlen im Jugendclub mit ihrer Tat. Sie zeigen das Blut an ihren Schuhen und berichten stolz, “einen Assi geklatscht” zu haben. Als der 19-jährige Neonazi Sven S. davon hört, will auch er aus Worten Taten werden lassen. Gemeinsam mit Gunnar D. und dem 16-Jährigen Freund geht auch er zum bereits im Sterben liegenden Norbert Plath. Die drei Neonazis treten und schlagen weiter ungehemmt und mit roher Gewalt auf ihr hilfloses Opfer ein. Am nächsten Morgen wird der leblose Norbert Plath von einer Passantin gefunden.
Ermittlungen und Urteile
Die Täter können schnell ermittelt werden. Insbesondere Sven S. und Gunnar D. kristallisieren sich als Schlüsselfiguren der rechtsextremen Szene auf Usedom heraus. Reue zeigen die Täter vor Gericht nicht. Nach Polizeiangaben hatten sie die sozialdarwinistische Auffassung geäußert, dass „Asoziale und Landstreicher nicht in die Gesellschaft passen“.Obdachlose würden dem Steuerzahler auf der Tasche liegen und Ahlbeck müsse „sauber” bleiben. Außerdem fielen Sätze wie „Schade, dass wir keine Stahlkappenschuhe anhatten, dann wäre es schneller gegangen“.
Polizei und Justiz erkannten das offensichtlich rechtsextreme Tatmotiv. Die Anklage lautet für die drei Haupttäter Mord. Bereits im Februar werden die Urteile gegen die Angeklagten verkündet. Gunnar D. erhält eine lebenslange Haftstrafe, Sven S. wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt, der 16-Jährige Täter für acht Jahren, der 15-jährige Täter für drei Jahre.
Empörung und Gedenken vor Ort bleibt aus
Zu einem kollektiver Aufschrei über die brutale Tat in Ahlbeck kam es nicht. Zwar wurde eine Gedenkveranstaltung für den Ermordeten ausgerichtet, diese kollidierte allerdings mit einem großen Stadtfest. Man habe die Feierlichkeiten nicht absagen wollen, aber man würde die Lautstärke reduzieren. 100 Menschen kamen zu der Gedenkkundgebung – unter strenger Beobachtung der lokalen Neonaziszene. Norbert Plath ist als Todesopfer rechter Gewalt staatlich anerkannt. Ein offizielles Gedenken an ihn und sein Leben gibt es jedoch nicht.