Weiter zum Inhalt

deconstruct antisemitism!

deconstruct antisemitism! Antisemitische Codes und Metaphern erkennen

Der Große Austausch, New World Order, Great Reset, Marionettenspieler, Strippenzieher

Die Vorstellung, die (weiße) europäische Bevölkerung sterbe aus und werde gezielt durch Migrant:innen ersetzt, ist seit Jahren ein zentrales Narrativ der extremen Rechten - hier zu sehen auf einer rechtsextremen Demonstration im Juni 2015.

Der Mythos vom „Großen Austausch“ behauptet, es gäbe eine globale Elite mit einem geheimen Plan. Dessen Ziel sei es, die christlich-weiße Bevölkerung durch massive Einwanderung von nicht-weißen oder muslimischen Menschen auszutauschen und so zu vernichten. Die globale Elite ist, so die Überzeugung, jüdisch. Oft wird der jüdische US-Amerikaner George Soros genannt. Der Mythos knüpft an die antisemitische Vorstellung einer „jüdischen Weltverschwörung“ an.
Populär wurde er durch das Buch „Le Grand Remplacement“ (2011) des Franzosen Renaud Camus. Der Mythos ist in der Neuen und extremen Rechten (z.B. der AfD und der „Identitären Bewegung“) stark verbreitet. Die Rechtsterroristen von Christchurch (Neuseeland 2019) und Halle/Saale (2019) haben sich auf ihn bezogen. Der Christchurch-Attentäter nannte sein Pamphlet gar „The Great Replacement“.
Eine ähnliche Grundstruktur besitzt der Mythos von der „New World Order (NWO)“ oder „One World“. In der COVID-19-Pandemie ist der Mythos vom „Great Reset“ hinzugekommen. Eine globale Elite habe laut ihm das Ziel, eine überstaatliche Weltregierung zu errichten, um z.B. die Freiheitsrechte der Menschen abzuschaffen.
All diese Mythen eint die Vorstellung eines geheimen „Marionettenspielers“ oder „Strippenziehers“. Schon lange wird das Bild verbreitet, „der Jude“ ziehe heimlich im Hintergrund die Strippen und lenke so die Weltgeschehnisse.

Finanzelite, Hochfinanz, Ostküste, Wall Street, raffen versus schaffen

Geld regiert die Welt – so weit, so bekannt. Problematisch wird Kapitalismuskritik, wenn von einer ominösen „Finanzelite“ die Rede ist, die die Strippen in den Händen hält. Zum Kapitalismus gehören Geld und Unternehmen gleichermaßen. Eine Trennung von Finanz- und Industriekapital ist künstlich und teilt den Kapitalismus in vermeintlich Gutes und vermeintlich Schlechtes. Dies ist problematisch, weil es das System vereinfacht darstellt und allzu oft das „Schlechte“, also die Finanzsphäre, mit antisemitischen Vorstellungen „des Jüdischen“ beschreibt: nämlich, dass die wirtschaftlichen und damit die politischen Geschicke der Welt durch „die Juden“ gelenkt würden, da sie angeblich das Finanzwesen beherrschen.
Analog zum alten Bild des „Geldjuden“, der sich vorgeblich als Geldverleiher mit Wucherei an der Not anderer bereichert, werden Einzelpersonen (z.B. Rothschild) oder Berufsgruppen (z.B. Banker:innen) zum Sinnbild von Geld und Kapitalismus. Im Gegensatz zu scheinbar ehrlicher, schaffender Erwerbsarbeit werden Bank- und Börsengeschäfte jüdisch konnotiert und als unehrlich, raffend bezeichnet. Bereits im Nationalsozialismus wurde versucht mit dieser Sprache, den Kapitalismus als eine jüdische Erfindung zu erklären.
Der antisemitische Code einer jüdischen „Hochfinanz“ ähnelt dem nationalsozialistischen Terminus des „internationalen Finanzjudentums“. Heute ist er ein geläufiger Code in verschwörungsideologischen Kontexten.
Hinter vermeintlicher Kapitalismuskritik verbirgt sich nicht selten auch manifester Antiamerikanismus: „Ostküste“ und „Wall Street“ suggerieren eine jüdische Kontrolle der US-amerikanischen Börse – und damit der Welt.
Anyone who imagines capitalism being pictured with tentacles probably holds a structurally anti-Semitic worldview.

USrael, JewSA, Jewnited States

[The biggest English language newspaper in India, “The Times of India”, used the antisemitic code USrael in a report. Screenshot: The Times of India]
Wichtige Gemeinsamkeiten von Antisemitismus und Antiamerikanismus sind nicht nur ihre Virulenz, sondern auch ihre strukturellen Gemeinsamkeiten. Seinen Ausdruck findet dies beispielsweise im Begriff „USrael“, alternativ fallen in diesem Zusammenhang auch die Bezeichnungen „JewSA“ und „Jewnited States“. Mit diesem Kofferwort wird eine jüdische Kontrolle der US-amerikanischen Politik und Wirtschaft angedeutet, die Politik zum Vorteil „des Juden“ und des Staates Israel mache. Weil die USA als Weltmacht gelten, wird so codiert auch eine „jüdische Weltverschwörung“ behauptet.
Die Behauptung, die USA seien von Jüdinnen:Juden kontrolliert, erfasst gleich mehrere klassisch antisemitische Narrative: Im völkisch-nationalistischen Kontext stehen „die Juden“ einerseits für eine antinationale und das ethnische Kollektiv zersetzende Gruppe und andererseits für die (liberale) Moderne. Die älteste moderne Demokratie der Welt, die konträr zu völkischen Ideen auf staatsbürgerlichen Prinzipien aufbaut und zusätzlich als Inbegriff des Kapitalismus gilt, wird dabei mit „dem Jüdischen“ gleichgesetzt.

Zionismus, Zionisten ZOG

Der Begriff Zionismus bezeichnet eine in ihren Ursprüngen progessive Bewegung und eine politische Einstellung, die notwendig findet, jüdische Wehrhaftigkeit auf einer nationalen Ebene zu organisieren. Zionismus setzt sich für das Existenzrecht eines jüdischen Nationalstaats, des Staates Israel, ein. Die zionistische Bewegung war und ist eine Reaktion auf die lange Geschichte des Judenhasses, der in die systematische Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen:Juden mündete.
Wenn die Begriffe Zionismus und Zionisten zur Erklärung einer „jüdischen Weltverschwörung“ benutzt werden, gewinnen sie eine antisemitische Bedeutungsdimension. Das wird im Kürzel „ZOG“ (Zionist Occupied Government, deutsch: zionistisch besetzte Regierung) besonders deutlich. Die Codes transportieren die antisemitische Vorstellung einer weltweit agierenden Machtstruktur, die angeblich das Weltgeschehen negativ beeinflusst. Sie tauchen in verschiedenen Milieus auf – in der Berichterstattung islamistischer Fernsehsender über den Nahostkonflikt, in linken Gruppierungen, die mit „9 mm für Zionisten“ drohen, im Rahmen der BDS-Kampagne (Boycott, Divestment, Sanctions) oder in der Welt des Bundeswehrsoldaten Franco A.
[For anti-Zionists (as seen here in Berlin, May 2021), Zionism (as well as the State of Israel) is not so much an expression of Jewish right to self-determination but a racist ideology. Image: Grischa Stanjek/democ.]

Apartheidstaat, Unrechtstaat

[Claiming Israel is a genuinely racist, unjust state – made here at a protest march in May 2021 – is a popular demonization of the Jewish state. Image: Grischa Stanjek/democ.]
Wird Israel als „Unrechtsstaat“ bezeichnet, ist nicht der Begriff an sich antisemitisch, sondern der Kontext relevant, in dem er geäußert wird. Oft handelt es sich um einen Code zur Dämonisierung Israels. Mit ihm wird Israel eine intrinsisch böse Absicht unterstellt, den Palästinenser:innen systematisches Unrecht anzutun. Dabei werden judenfeindliche Bilder, die jahrhundertealt sind, auf den israelischen Staat projiziert und Israel im Sinne aller Jüdinnen:Juden zum absoluten Bösen erklärt.
Wird Israel als „Apartheidstaat“ und „Unrechtsstaat“ bezeichnet, wird ihm die Rechtsstaatlichkeit und der demokratische Charakter abgesprochen. Im Begriff Apartheid, der einst die rassistische Trennung von Bevölkerungsgruppen in der Republik Südafrika beschrieb, steckt der Vorwurf, der israelische Staat sei per se ein rassistisches Konstrukt.
Die Begriffe implizieren, Israel sei ein Aggressor, der die eigene Bevölkerung drangsaliere. Die Komplexität der regionalen Konflikte sowie die Handlungsspielräume und Positionen der Konfliktparteien werden ignoriert. Stattdessen wird Israel zum (alleinigen) Kriegstreiber erklärt.

Kindermörder

Die Ritualmordlegende aus dem Mittelalter besagte, Jüdinnen:Juden würden das Blut von (christlichen) Kindern zum Backen verwenden. Diese Legende wurde über Jahrhunderte hinweg tradiert und findet sich heute in aktualisierten Formen wieder.
Eine Form ist die Parole „Kindermörder Israel!“, die im Rahmen von Demonstrationen gerufen und auf Plakaten zur Schau gestellt wird. Sie unterstellt dem Staat Israel, er würde das Blut palästinensischer Kinder mit Absicht und Genugtuung vergießen.
Eine weitere Form findet sich bei QAnon. In der QAnon-Verschwörungserzählung, die in den USA entstanden ist, wird behauptet, eine satanistische Elite entführe, foltere und töte Kinder, um mit dem Blut eine Verjüngungsdroge herzustellen. Die Erzählung wird insbesondere in den Sozialen Netzwerken (z.B. auf Telegram) verbreitet.
Beide Formen machen deutlich, dass aus der Vorstellung, Jüdinnen:Juden seien Kindermörder, Vernichtungswünsche resultieren können: Wenn Israel vermeintlich Palästinenser:innen aus rassistischen Gründen auslöscht oder Kinder tötet, muss es im antisemitischen Weltbild mit allen Mitteln bekämpft und von der Landkarte getilgt werden. Tötet eine satanistische Elite unschuldige Kinder, muss sie beseitigt werden.
[These protesters‘ claim that Israel targets children and murders them is designed to demonize the Jewish state as morally corrupt – and thereby as a “terrorist”. Image: Grischa Stanjek/democ.]

Teufel, Satan

[Jews, Freemasons, the Catholic church and the Pope – all part of a satanic world conspiracy in the eyes of this protester at a rally against Covid-19 rules in August 2020. Image: Grischa Stanjek/democ.]
Im Laufe der Jahrhunderte war die Teufels-Metapher im Christentum von zentraler Bedeutung. Der Satan ist der Inbegriff des Bösen. Heutzutage findet sich die Teufels-Metapher in den Sozialen Medien zuhauf. Mit ihr wird das Feindbild zum ultimativen Bösen erklärt. Bildliche Darstellungen des Teufels werden gelegentlich mit dem antisemitischen Stereotyp eines „typisch jüdischen“ Aussehens (z.B. „Krummnase“) verknüpft.
In der Geschichte des Judenhasses haben solche Darstellungen eine lange Tradition: Das Standardwerk „The Devil and the Jews“ (von Joshua Trachtenberg, 1943) untersuchte die Ursprünge des Vergleichs zwischen „Jude“ und Teufel. Der christliche Antijudaismus spielte eine zentrale Rolle. Insbesondere im Mittelalter wurde Jüdinnen:Juden unterstellt, sie seien einen Pakt mit dem Teufel, mit Satan eingegangen. Der Pakt, der zur Grundlage antijüdischer Mythen (wie Brunnenvergiftung und Ritualmord) wurde, habe angeblich Jüdinnen:Juden in die Lage versetzt, Kriege und Hungersnöte, Plagen und Seuchen zu verursachen.

Große Nase, Happy Merchant

Eine große Nase, ein gieriger Blick und Schläfenlocken – in den meisten antisemitischen Darstellungen „des Juden“ sind solche Merkmale zu finden. Häufig handelt es sich um Darstellungen von Männern, die edle Anzüge und dicke Hornbrillen tragen und sich ihre Hände reiben. Sie zeichnen das Bild eines raffgierigen und reichen Mannes. Die äußeren Merkmale, die ihm zugeschrieben werden, machen „den Juden“ zum Anderen, Fremden. Häufig findet sich diese Darstellung beim sogenannten „Happy Merchant“ in rechtsterroristischen und rechtsextremen Online-Subkulturen.
Das antisemitische Stereotyp des typisch jüdischen Aussehens, d.h. die Behauptung, Jüdinnen:Juden seien durch äußere Merkmale erkennbar, hat eine lange Tradition. Wenn Jüdinnen:Juden antisemitisch dargestellt werden, fehlt selten eine große Nase. Das betrifft die Darstellungen auf Münzen im 17. Jahrhundert ebenso wie Karikaturen in der NS-Propagandazeitung „Der Stürmer“ im 20. Jahrhundert. Sie findet sich aber auch in Bebilderungen nicht-jüdischer Menschen, die mit vermeintlich jüdischen Eigenschaften gekennzeichnet werden sollen.
[The antisemitic meme showing variations of the “Happy Merchant” is available as a sticker set on Telegram. Screenshot: Telegram]

Rothschild, Rockefeller, Soros, Anetta Kahane, Zuckerberg, Gates

[“Powerful families“, frequently linked to Judaism, are a key element of antisemitic conspiracy narratives – seen here at a rally of Covid deniers in November 2020. Image: Elisabeth Fast]
Die antisemitische Behauptung, es bestünde eine natürliche Verbindung zwischen „den Juden“ und Finanzen, Zinsen, reicht bis ins Mittelalter zurück. Der Name einer alten jüdischen Familie wird als Code für die vermeintliche Herrschaft „der Juden“ über das internationale Finanzwesen verwendet: Rothschild. Durch unehrlich erlangten Reichtum hätten „die Juden“ die Macht, die Welt zu lenken und zu regieren. Auch einer der großen nationalsozialistischen Propagandafilme trägt den Namen „Die Rothschilds“ (1940).
Komplexe gesellschaftliche Verhältnisse werden durch diesen Code personifiziert. Hinter allem, so die Behauptung, steckten „die Rothschilds“ und ihresgleichen. Denn eigentlich gemeint sind „die Juden“. In der COVID-19-Pandemie zeigte sich, wie der Name benutzt wurde, um offenen Antisemitismus zu vermeiden. Nicht wenige, die sich im Zuge der Pandemie radikalisierten, sprachen zunächst von „den Rothschilds“ und machen heute „die Juden“ verantwortlich.
Rothschild ist nur der berühmteste Name. Heute wird er oft in einem Atemzug mit Rockefeller, George Soros, Anetta Kahane, Mark Zuckerberg oder Bill Gates genannt. Zwar sind Rockefeller und Gates nicht jüdisch. Aber es wird behauptet, sie seien eigentlich auch jüdisch oder Marionetten „der Juden“. Die Namen sollen die angeblichen Drahtzieher einer globalen Verschwörung benennen.

Krake, Schlange, Schwein

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte 2014 die Karikatur einer Datenkrake mit dem Gesicht des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg. Die Darstellung wurde scharf kritisiert, denn die Tiermetapher des Kraken, der die Erdkugel mit seinen Tentakeln umschlingt, hat eine antisemitische Prägung. Sie schließt an den Mythos vom allmächtigen „Weltjudentum“ an. Das verdeutlicht die antisemitische Zeichnung eines jüdischen Kraken, die 1938 in der NS-Propagandazeitung „Der Stürmer“ veröffentlicht wurde. Die Botschaft: „Der Jude“ hat die Welt unter Kontrolle.
Der Krake ist nicht die einzige Tiermetapher, die im „Stürmer“ verwendet wurde. Die Schlange besitzt eine ähnliche Geschichte und Funktion. Die Tiermetapher der jüdischen Schlange soll zum Ausdruck bringen, dass „der Jude“ die Völker in den Würgegriff nehme und die Menschheit vergiften wolle. Im Allgemeinen haben Tiermetaphern in der Geschichte des Antisemitismus eine lange Tradition. Jüdinnen:Juden werden kollektiv entmenschlicht. So stammt die erste „Judensau“, die an einem Säulenkapitell im Brandenburger Dom entdeckt wurde, aus dem 13. Jahrhundert. Die Tiermetapher lebt fort: Im Netz und im Rahmen von Demonstrationen wird „der Jude“ als
[An international octopus holds the world in ist grip. This at the very least structurally antisemitic animal metaphor was used at protests against the ACTA treaty. Image: Logo Stopp ACTA CC-BY 2.5 Switzerland by Piratenpartei Schweiz ]

Virus, Bazillus, Parasit, Krebs, Krebsgeschwür

[Portrayal of Israel as a „Jewish” virus, as it last trended during the escalating violence in the Middle East in May 2021 using the hashtag #covid 48 (in reference to the year Israel was founded), alludes to historical antisemitic images of “the Jewish” as an illness or a parasite. Screenshot via Dan Poraz, Twitter]
In der COVID-19-Pandemie wurde Israel in arabisch-palästinensischen Kreisen mit Bezug auf die Staatsgründung am 14. Mai 1948 in Form eines Virus dargestellt. Tausendfach wurde der Hashtag #Covid1948 bei Twitter genutzt. Das geschah sowohl 2020 als auch 2021. Verstärkt wurde die antisemitische Twitter-Kampagne 2021 durch die massiven Raketenangriffe der islamistischen Terrororganisation Hamas.
Die Botschaft: Das Virus befalle in Form der jüdischen Bevölkerung bzw. des israelischen Staates die Menschheit. Eine Infektion mit dem Virus ende tödlich. Um die Gesundheit zu schützen und das Überleben zu sichern, müsse, so wird suggeriert, der Erreger vernichtet werden. Schließlich zersetze er die Völker.
Jüdinnen:Juden werden seit Jahrhunderten mit Krankheiten in Verbindung gebracht. Der Vorwurf, sie hätten die Pest verursacht („Brunnenvergifter“), mündete im Mittelalter in die Pestpogrome. Im Nationalsozialismus wurde der Vorwurf aktualisiert. Jüdinnen:Juden werden, indem sie zum Virus gemacht werden, kollektiv entmenschlicht und zur Bedrohung für die Gesundheit und das Leben der übrigen Menschheit erklärt. Ähnliche Codes sind

Schlussstrich, Schuldkult, Auschwitzkeule

Es sei Zeit, einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit zu ziehen, heißt es wiederholt. In dieser Forderung versteckt sich eine Haltung, die als Post-Shoah-Antisemitismus bezeichnet wird. Oft dient die Forderung zur Erinnerungs- und Schuldabwehr. Gelegentlich wird gar behauptet, „die Juden“ würden einen Schlussstrich unterbinden. Schließlich würden sie von einem deutschen „Schuldkult“ profitieren.
Die Forderung nach einem Schlussstrich ist nicht neu. Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde gefordert, dass die Strafverfolgung und Entnazifizierung aufhören müsse. Die meisten verurteilten Nationalsozialisten wurden nach wenigen Jahren amnestiert.
Seit der Wiedervereinigung 1989/90 wird vermehrt ein Schlussstrich gefordert. Martin Walsers „Auschwitzkeule“ ging in die Geschichtsbücher ein. Heute machen sich AfD und PEGIDA die Forderung nach einem Schlussstrich zu eigen. Zum Beispiel forderte Björn Höcke in seiner „Dresdner Rede“ (2017) eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Weit ist es nicht bis zur Leugnung der Shoah.
Zuletzt wurden die Singularität der Shoah und die Spezifik des Antisemitismus auch durch eine Gleichsetzung mit anderen Völkermorden und den Verbrechen des deutschen Kolonialismus relativiert.
uo

Tier-KZ, Babycaust

[Pro-life activists regard abortions as „mass murder of unborn life” – and will not refrain from comparisons with the Shoah. Image: Robert Andreasch]
Die Relativierung der Shoah ist bei weitem nicht auf die extreme Rechte beschränkt, sondern findet sich in unterschiedlichen Milieus. Deutsche Aktivist:innen der Tierrechtsorganisation PETA stellten 2010 im Rahmen ihrer Kampagne „Holocaust auf deinem Teller“ auf einem Plakat eine KZ-Baracke mit abgemagerten Häftlingen und eine moderne Legebatterie mit Hühnern nebeneinander. Noch heute berufen sich viele Tierrechtsaktivist:innen auf den Vergleich und sprechen unverblümt von Schlachthöfen als „Tier-KZ“.
Radikale Abtreibungsgegner:innen, die sich selbst lieber als „Lebensschützer“ bezeichnen, sehen in Schwangerschaftsabbrüchen einen Massenmord, der in seiner Qualität und Quantität mit der Shoah vergleichbar und daher als „Babycaust“ zu bezeichnen sei.
Vergleiche mit der Shoah werden paradoxerweise so häufig gezogen, gerade weil der industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen:Juden präzedenzlos ist. Die Situation von Nutztieren, Embryonen und Föten mit dem Leiden der Shoah-Opfer gleichzusetzen oder gar als schlimmer zu bewerten, verkennt die Systematik und Singularität der NS-Verbrechen und relativiert diese. Perfiderweise garantiert gerade die Gleichsetzung den Äußernden eine hohe Aufmerksamkeit.

Giftspritze, "Ungeimpft"-Stern

Die Impfungen gegen COVID-19 werden von manchen als „Giftspritze“ bezeichnet. Angeblich, so wird behauptet, dient die Impfung zur Dezimierung der Menschheit. Andere Verschwörungserzählungen über Impfungen behaupten, damit werde ein Chip eingepflanzt oder Bill Gates versuche sich zu bereichern. Dass hinter den Impfprogrammen oftmals „die Juden“ vermutet werden, ist kein Zufall.
Antisemitische Erzählungen über Impfungen haben in Deutschland eine lange Tradition, die bis zum Anfang des Impfens im 19. Jahrhundert reicht. Schon in der NS-Propagandazeitung „Der Stürmer“ finden sich Karikaturen, die einen Zusammenhang zwischen Impfungen und „den Juden“ belegen sollen.
Hierbei treten verschiedene Formen von Antisemitismus zu Tage. Einerseits wird hinter der Impfung eine globale Verschwörung gegen die Menschheit vermutet, andererseits kommt es zu Shoah-Relativierungen. Denn einige Verschwörungsideolog:innen haben bei Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen einen gelben Stern mit der Inschrift „Ungeimpft“ getragen. Die Botschaft, die von diesen Impfgegner:innen ausgeht, lautet: „Wir sind die neuen Juden.“ Das ist eine klassische Täter-Opfer-Umkehr und geht stellenweise so weit, dass der Virologe Christian Drosten mit dem SS-Arzt Josef Mengele gleichgesetzt wird.
[Many protesters against current Covid rules are convinced they live in a “corona dictatorship” comparable to National Socialism. That is why they are sporting Yellow Stars that say “Unvaccinated”. Image: Kira Ayyadi]

Lügenpresse

[Hardly any slogan is as common at right-wing rallies as the accusation Lügenpresse! (fake news), that was already used by the Nazis to denounce democratic members of the press. In this picture, taken in Chemnitz in 2018, a protester compares German media to a propaganda broadcast from the GDR. Image: Grischa Stanjek/democ.]
„Lügenpresse!“ Sofort hat jede:r die Rufe auf rechten Demonstrationen im Ohr. Mit dem Code der „Lügenpresse“ wird behauptet, die Medien seien nicht unabhängig, sondern gleichgeschaltet und gesteuert. Dahinter verbirgt sich oftmals das antisemitische Narrativ einer „jüdischen Verschwörung“. Das ist nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert hatte der Historiker und Politiker Heinrich von Treitschke behauptet, hinter den deutschen Zeitungen steckten „die Juden“, die damit zu viel Einfluss hätten und die Gesellschaft lenkten. Treitschke schrieb, „die Juden sind unser Unglück“ und machte sie für das Schlechte in der Welt verantwortlich.
Heute ist der Code der „Lügenpresse“ weit verbreitet: auf rechten Demonstrationen, im Internet oder am Stammtisch. Dieser antisemitische Code hat fatale Konsequenzen: Immer größer wird die Szene der alternativen Medien, die über Plattformen wie Telegram und YouTube ihre Desinformationen verbreiten und Hass sähen. Immer häufiger werden Journalist:innen im Rahmen von Demonstrationen angegriffen. Die Diffamierung

Unterstützen Sie aktiv den Kampf gegen Antisemitismus!

Die Amadeu Antonio Stiftung setzt sich für eine demokratische Zivilgesellschaft ein, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wendet. Hierfür hat sie bereits mehr als 1.700 Initiativen überall in Deutschland gefördert, die sich in Jugendarbeit und Schule, Kunst und Kultur, im Opferschutz und der Opferhilfe, in kommunalen Netzwerken u.a. engagieren.

Wo die Amadeu Antonio Stiftung Handlungslücken sieht, wird sie selbst aktiv. Mit Analysen, Modellprojekten, Materialien und Beratungsangeboten erprobt sie neue Ansätze und unterstützt Fachkräfte und regionale Netzwerke.

Die Stiftung ist nach Amadeu Antonio benannt, der 1990 von rechten Jugendlichen im brandenburgischen Eberswalde zu Tode geprügelt wurde, weil er Schwarz war. Er war eines der ersten von heute über 200 Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit dem Fall der Mauer.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist Mitglied im Bundesverband Deutscher Stiftungen und hat die Selbstverpflichtung der Initiative Transparente Zivilgesellschaft unterzeichnet.



Mitmachen stärkt Demokratie

Engagieren Sie sich mit einer Spende oder Zustiftung!

Neben einer Menge Mut und langem Atem brauchen die Aktiven eine verlässliche Finanzierung ihrer Projekte. Mit Ihrer Spende unterstützen Sie die Arbeit der Stiftung für Demokratie und Gleichwertigkeit.