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Aktionswochen gegen Antisemitismus

[tacheles_4] “Arbeit macht frei” 80 Jahre Kriegsende

Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Die Nationalsozialisten mussten vor den Alliierten kapitulieren. Eine Stunde Null gab es keineswegs und seit dem Mai 1945 stellt sich auch die Frage, wie an die Shoah und die Verbrechen der Deutschen erinnert werden kann und welche Kontinuitäten sich bis heute zeigen. 

Zum Jahrestag und anlässlich der neuen [tacheles]-Reihe veröffentlichen wir einen Auszug aus dem neuesten Buch “‘Arbeit macht frei’, Annäherungen an eine NS-Devise” von Nikolas Lelle ab.

Bezogen auf „Arbeit macht frei“ zeigen sich erstaunliche Wissenslücken. Viele Fragen, die sich stellen, sind schlicht nicht mehr zu beantworten. Es gibt kaum systematische Auseinandersetzungen mit der NS-Devise. Die historiografiische Bezeichnung der drei Worte als „KZ-Devise“ hegte den Bedeutungsgehalt auf die Lager ein und ließ übersehen, wie sehr dieser Satz dem Nationalsozialismus aus der Seele sprach. Anders als beim Antisemitismus ließ sich an die NS-Arbeitsauffassung aber problemlos auch nach 1945 anschließen. Hier dominieren die Kontinuitäten.

Aufarbeitung und Antisemitismus heute

Die nationalsozialistische Arbeitsauffassung hat sich ihrer Aufarbeitung erfolgreich entzogen. Sie wurde als vor- oder unpolitisch wahrgenommen. Damit wurde verkannt, wie sehr sie ins Zentrum des Nationalsozialismus ragt und wie tief sie mit dem Antisemitismus verwoben ist. Das deutsche Selbstbild speist sich aus dem antisemitischen Fremdbild. Eine Analyse der Arbeitsauffassung hätte das aufzeigen können. Stattdessen wurde dieses Selbstbild nach 1945 fortgeschrieben. Das gilt auch für die Fremdbilder. Die Hetze gegen „reiche Juden“, „faule Griechen“ oder „arbeitsscheue Deutsche“ war nie wirklich weg. Heute ist sie wieder gut zu vernehmen, am Stammtisch, bei Demonstrationen oder im Internet.

Bezogen auf die NS-Devise „Arbeit macht frei“ müsste eine wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit bedeuten, endlich anzufangen auch gesellschaftlich über die Fantasie von der „deutschen Arbeit“ zu sprechen, die Verbindung zum tiefsitzenden Antisemitismus zu verstehen und damit zu ermöglichen, die brutalen Bedeutungsgehalte von „Arbeit macht frei“ thematisierbar zu machen. Die „deutsche Arbeit“ macht niemanden frei, auch nicht „uns“. Die Freiheit dieser „deutschen Arbeit“ wurde mit der Unfreiheit, den Qualen und dem Tod von Menschen besiegelt, die für minderwertig oder für übermächtig gehalten worden sind. Hier verschränken sich Rassismus und Antisemitismus. Eine wirkliche Aufarbeitung dieses Zusammenhangs müsste auch einen radikalen Bruch mit der Geschichte und Vorstellung „deutscher Arbeit“ mit sich bringen.

Nicht nur der Zusammenhang von Freiheit und Unfreiheit ist gesellschaftlich unverstanden. Das Wissen über die NS-Zeit erodiert, wie Studien in den letzten Jahren zeigen, und es gibt immer weniger Zeitzeug*innen, die über das Erlebte berichten können. Ein Hoffnungsschimmer ist allerdings, dass junge Menschen durchaus Interesse an der NS-Zeit bekunden. Statt Schlussstrich-Rufen ist die Frage unter Jüngeren nicht ob, sondern wie an die NS-Zeit erinnert und die Vergangenheit aufgearbeitet werden sollte.

Adornos kategorischer Imperativ, alles dafür zu tun, „dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe“, fordert heraus, danach zu fragen, ob die Bedingungen, die zu Auschwitz, zum Holocaust oder der Shoah geführt haben, wirklich verändert sind. Adorno war sich Ende der 1950er-Jahre sicher, dass „die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten“. Ist das heute anders? Ich bezweifle es. Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Allein der Antisemitismus grassiert seit Jahrzehnten, die Corona-Pandemie und die genozidale Gewalt vom 7. Oktober 2023 in Israel haben als zusätzlicher Katalysator fungiert. Auch der Mythos der „deutschen Arbeit“ wird immer wieder aktualisiert und eine Devise wie „Arbeit macht frei“, die das Schicksal von Millionen KZ-Häftlingen begleitete und kommentierte, scheint einigen ein Sinnspruch des 21. Jahrhunderts zu sein; den Tabuisierungsversuchen zum Trotz.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit, diagnostizierte Adorno in den 1950er-Jahren, sei zu „ihrem Zerrbild“ verkommen, „dem leeren und kalten Vergessen“. In dieser Phase leben wir nicht mehr. An die Stelle des leeren Vergessens ist stattdessen eine Form der Ritualisierung, der Sonntagsreden und eingeübten Selbstvergewisserungen als Aufarbeitungsweltmeister getreten. Zugespitzt lässt sich vielleicht vom leeren Erinnern sprechen, dessen Ausdruck das zur Phrase verkommene „Nie wieder“ wurde. Die Ritualisierungen und Entleerungen sind in aller Schärfe zu kritisieren. Die Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung Anetta Kahane hat mich allerdings einmal eindringlich davor gewarnt, die Sonntagsreden zu unterschätzen. Verglichen mit den Jahrzehnten davor, mit dem leeren Vergessen, stellt die Form des ritualisierten Gedenkens einen Fortschritt dar. Und bis hierhin war es bereits ein langer Weg. Seit 1996 ist der 27. Januar, der Tag, an dem die Konzentrationslager in Auschwitz befreit wurden, in Deutschland der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Weltweit wird der Tag als International Holocaust Remembrance Day begangen. Israel gedenkt am Jom haScho’a, am 27. Nisan, nach jüdischem Kalender.

Erinnerung in Deutschland ist heute mehr als Ritualisierung. Gegen viel Widerstand aus der nichtjüdischen deutschen Mehrheitsgesellschaft wurden in Deutschland Gedenken und Aufarbeitung erkämpft: von unten organisiert, von Engagierten und Ehrenamtlichen, auch von Jüdinnen:Juden. Dabei etablierte sich eine hervorragend arbeitende Gedenkstätten- und Erinnerungslandschaft, die Möglichkeiten stellt, sich über die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen zu informieren. Das ist ohne jeden Zweifel ein Fortschritt zu den Jahrzehnten davor. Die wenigen Errungenschaften der Erinnerungskultur gilt es zu bewahren und progressiv weiter zu denken.

Polemisch wurde vom Aufarbeitungsweltmeister gesprochen, um die von Eike Geisel in kritischer Distanz formulierte „Wiedergutwerdung“ Deutschlands zu beschreiben. Denn jetzt soll es die Erinnerungsarbeit sein, die die Deutschen auszeichne. Die Rufe nach einem Schlussstrich sind damit nicht verhallt und die Angriffe auf die Erinnerungskultur, auf Erinnerungsorte und Gedenkstätten nehmen zu. Wo in den 1980er-Jahren rechte Intellektuelle die Shoah relativierten, greifen jetzt auch linke Vordenker:innen die These von der Präzedenzlosigkeit der Shoah an und behaupten, Deutschland werde durch seine Erinnerungskultur provinziell. Bisheriger Höhepunkt eines solchen Versuchs war Dirk Moses’ Einwurf während des sogenannten Historikerstreits 2.0. Gearbeitet wird mit Relativierungen und Analogisierungen, nicht mit plumpen Forderungen nach einem Schlussstrich. Diesen Formen regressiver Erinnerungskritik gilt es zu widersprechen. Es braucht mehr, nicht weniger Erinnerung.

Die Attacken auf die Erinnerungskultur sind zugleich solche auf die Antisemitismusbekämpfung. Insbesondere israelbezogener Antisemitismus wird von denjenigen verharmlost und kleingeredet, die die Erinnerungskultur in Bausch und Bogen verdammen. Sie richten sich nicht zufällig gleichzeitig gegen den einzigen Schutzraum von Jüdinnen:Juden weltweit, gegen Israel. Die Botschaft dahinter ist „deutlich und unübersehbar“, so Sybille Steinbacher: „Der Holocaust darf also auch deshalb nichts Besonderes sein, weil sich dann – und erst dann – die Legitimität des jüdischen Staates in Frage stellen lässt.“

Sicherlich muss in einer Kritik der Erinnerungskultur der Stand der Aufarbeitung scharf untersucht und weitergetrieben werden. Es darf dabei aber nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden. Die wenigen Errungenschaften in der Aufarbeitung wie in der Antisemitismusbekämpfung sind zu bewahren und weiterzudenken. Angriffe, die vergessen oder ignorieren, dass der Stand der Aufarbeitung selbst auf gesellschaftlichen Kämpfen von unten beruht, sind anschlussfähig für den grassierenden Schuldabwehr-Antisemitismus, der von alledem nichts mehr wissen will – egal, ob sie von links oder rechts kommen. Und ein Narrativ, das behauptet, in Deutschland werde das Erinnern von einer Elite befehligt – und dabei das Engagement von unten vergisst oder wissentlich ignoriert –, ist anschlussfähig an Verschwörungserzählungen.

Nach Adorno ist die „Aufarbeitung der Vergangenheit als Aufklärung“ vor allem eine „Wendung aufs Subjekt, Verstärkung von dessen Selbstbewußtsein und damit auch von dessen Selbst“. Was hieße das bezogen auf die NS-Devise „Arbeit macht frei“? Zunächst wäre es notwendig zu verstehen, dass dieser Satz nicht aus einer anderen Welt stammt, keiner Hölle entsprungen ist, sondern der Ideologie von Deutschen, die sich ohne jeden Skrupel trauten, ihrer „deutschen Arbeit“ freien Lauf zu lassen. Hinter dem Ruf nach „deutscher Arbeit“ verschanzt sich die Volksgemeinschaft – und damit der Traum von der Freiheit vom „Jüdischen“. Der Verbindung von Antisemitismus und Arbeitsauffassung muss sich eine Gesellschaft stellen, die bis heute stolz auf den eigenen Fleiß ist und die „Arbeitsscheuen“ und „Faulen“ verachtet; eine Gesellschaft, in der Mitglieder leben, die die NS-Devise offensichtlich weiterhin für einen passenden Sinnspruch halten. „Arbeit macht frei“ hat viel mit dem Nationalsozialismus zu tun. Auch mit uns?

Dass all diese Zusammenhänge gesamtgesellschaftlich unverstanden sind, belegt der grassierende Antisemitismus der letzten Jahre, der mit Adaptionen von „Arbeit macht frei“ spielt, Täter-Opfer-Umkehr betreibt und ermöglicht auszurufen: „Wir sind die neuen Juden“. Die Ideologie der „deutschen Arbeit“ zu durchdringen, die NS-Devise „Arbeit macht frei“ in ihren unterschiedlichen Bedeutungsgehalten aufzuarbeiten, ist die Voraussetzung dafür, die zentrale Rolle des Antisemitismus zu verstehen, die nach Auschwitz und andernorts führte. Nur, wer den vergangenen Antisemitismus begreift, kann sich dem Gegenwärtigen stellen.

Eine gelungene Aufarbeitung der Vergangenheit würde die Gesellschaft dazu befähigen, sich ihrer Geschichte wie auch ihrer Gegenwart zu stellen. Es wäre die Voraussetzung dafür, das Erbe des Nationalsozialismus zu begreifen und sich davon lösen zu können. Es wäre auch eine Bedingung dafür, dem grassierenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen – und empathisch über Israel nachzudenken. Es würde zu einem Bruch mit der langen Geschichte „deutscher Arbeit“ führen, mit dem überhöhenden Selbstbild und den antisemitischen, antiziganistischen, rassistischen und sozialchauvinistischen Fremdbildern. Statt inhaltslos zu tabuisieren, hätte der Bruch zur Folge, dass „Arbeit macht frei“ als NS-Devise erscheint, die nationales Versprechen und barbarisches Verbrechen verbindet. Nein, Arbeit macht nicht frei. Im Konzentrationslager bedeutete der Satz Tod und Zwang. Jean Améry verwies gesellschaftskritisch darauf, wie Arbeit zur Unfreiheit führte. Die Bejahung dieser Unfreiheit prägt Deutschland. Zeit, dass sich das ändert.

Das Buch “‘Arbeit macht frei’ – Annäherungen an eine NS-Devise” von Nikolas Lelle wurde im Verbrecher Verlag veröffentlicht.



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