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In eigener Sache

Chronik Todesopfer rechter Gewalt: Heinz Mädel (58) – ermordet von Neonazis

Der Maurer Heinz Mädel wurde am 25. Juni 1990 in Erfurt von zwei jungen Frauen beschimpft und geschlagen. Die Täterinnen schlugen ihn zu Boden und traten auf den älteren Mann auf dem Boden gegen Kopf und Oberkörper. Am 1. Juli erlag er seinen Verletzungen.

Wir wissen kaum etwas über sein Leben

Viel ist über das Leben von Heinz Mädel nicht bekannt. In den Presseberichten finden sich lediglich Informationen zu seinem Alter (58-Jahre), seinem ausgeübter Beruf (Maurer) und seiner Arbeitslosigkeit zur Zeit des Überfalls. In einem Zeitungsartikel des STERN von Peter Pragal und Dieter Krause wird Heinz Mädel als unverheirateter und scheuer Einzelgänger beschrieben. In diesem Artikel wird Mädel zusätzlich als „abgerissen wirkend“, also als sozialrandständig, beschrieben. Die bisherigen Recherchen zum Fall ergaben jedoch viele lose Enden, deren Bearbeitung es ermöglichen würden Heinz Mädel als Person und nicht nur als Betroffenen von rechter Gewalt zu porträtieren. Wir wissen kaum etwas über sein Leben.

Heinz Mädel traf auf seinem allabendlichen Spaziergang am  25. Juni 1990 um 23 Uhr in der Erfurter Altstadt vom Erfurter Anger auf der damaligen Leninstraße (heute Johannesstraße) auf der Höhe der Futterstraße auf zwei junge Frauen, die ihn aus einer Gruppe junger Personen, darunter auch Skinheads, heraus beobachteten. Von hinten griffen die 17-Jährigen den älteren Mann unvermittelt an. Ihre Namen: Carina Schell und Corinna Kindel.

Heinz Mädel wurde von der Polizei vernommen, die Täterinnen flüchteten.

Zuerst stieß Corinna Kindel Heinz Mädel von hinten in den Rücken, schlägt ihm die Mütze vom Kopf und zieht ihn an den Haaren. Ob dieser Attacke ein Wortwechsel vorausgegangen war, ist heute unklar. Heinz Mädel wehrte sich, indem er sich an der Kleidung von Corinna Kindel festhielt. Daraufhin reißt Carina Schell Heinz Mädel zu Boden, mit den Worten: „Lasse meine Freundin in Ruhe!“. Die zwei Frauen traten auf den am Boden Liegenden ein. Dabei fokussierten sie den Oberkörper und den Kopf. Sie traten insgesamt 13-mal auf Mädel ein.

Schell und Kindel ließen Heinz Mädel auf dem Boden liegend zurück und zogen die Futterstraße entlang weiter. Heinz Mädel stand auf, fiel jedoch sofort gegen ein geparktes Auto. Eine Person aus der umstehenden Jugendgruppe versucht Heinz Mädel zu helfen. Da eine der Täterinnen ihre Tasche beim Angriff zurückließ, kehrten beide wieder um. Als sie den Helfenden vor Heinz Mädel sahen, sagte Carina Schell: „Seit wann bist du gegen uns? Seit wann hilfst du Schwulen?“ Danach gingen sie zum Erfurter Anger, einem belebten Platz, und nahmen die Straßenbahn nach Hause.

Die beiden Angreiferinnen brachen Heinz Mädel neun Rippen. Heinz Mädel erlitt Prellungsblutungen in beiden Lungenflügeln, sowie ein Hämatom um das Auge herum. Die Lunge wurde punktiert, sodass sich Blut darin sammelte. Aus diesen Verletzungen heraus und organischen Vorschäden entwickelte sich in den Folgetagen für Heinz Mädel eine tödliche Lungenentzündung. An dieser Entzündung verstarb Heinz Mädel am 1. Juli 1990 um 14.10 Uhr.

„Er habe sich nicht gewehrt, um die Skinheads nicht weiter zu provozieren […].“

Die zwei Täterinnen waren in die Erfurter Altstadt gefahren, um „etwas zu erleben“, wie es im Gerichtsurteil hieß. Sie trafen sich gegen 18:30 Uhr und gingen in die Gaststätte „Stadt Berlin“ im Rieth, um vor der kurz bevorstehenden Währungsunion ihr verbliebenes DDR-Bargeld auszugeben. Sie tranken viel Alkohol (2,5 Promille Blutalkohol laut Gerichtsurteil) und verließen gegen 21:45 Uhr die Disko in Richtung Innenstadt: „Damit verband sich gedanklich die Möglichkeit, noch etwas zu erleben. Sie waren in der Vergangenheit wiederholt dabei, wie in der Leninstraße Leute angepöbelt wurden, von denen man meinte, es seien Homosexuelle, danach geschlagen, ins Gebüsch gezerrt oder übers Geländer geschubst worden sind. Sie empfanden das als Jux und Spaß. Beide Angeklagten haben keine ablehnende Haltung Homosexuellen gegenüber. Sie haben sich bisher keine tiefgründigeren Gedanken über diese Art der sexuellen Veranlagung gemacht.“ (131-274-90 KLs Jug.). Für die Tat brauchte es jedoch keine „tiefgründigeren Gedanken“. Es reichte der spontane Anlass, ihre schwulenfeindliche Einstellung in die Tat umzusetzen. Schell und Kindel wollten als sozialrandständige, „fremde“, homosexuelle markierte Personen aus der Innenstadt mit Gewalt vertreiben.

In der Innenstadt angelangt trafen sie sich mit einer Gruppe Jugendlicher an einem üblichen Treffpunkt, einem Bratwurststand in der Leninstraße. Dieser Imbiss war auch anderen Menschen in dieser Zeit als Treffpunkt von rechten Skinheads und Neonazis bekannt. Aus dieser Gruppe heraus beobachteten sie Heinz Mädel und gingen auf ihn zu. Die Gruppe aus Jugendlichen, Skinheads und Neonazis schaute der Tat zu. Kreiskriminalrat Eckhardt sagte in der Thüringer Allgemeine und im STERN damals, dass Kindel und Schell diese Gruppe beeindrucken wollten.

Anwohner*innen aus der Futterstraße und Leninstraße riefen die Polizei, die auch am Tatort ankam. Heinz Mädel war zu diesem Zeitpunkt noch ansprechbar und wurde vernommen. So beschrieb er den Polizist*innen: „Er habe sich nicht weiter gewehrt, um die Skinheads nicht zu provozieren, die sich selbst nicht beteiligt hätten, sondern nur zugesehen hätten“ (TA 1990, 143, 06.07.1990, S. 2), fasst die Thüringer Allgemeine Heinz Mädels Aussage zusammen. Es blieb die einzige direkte Aussage Heinz Mädels.

Persönlichkeitsfremd – Das Gerichtsurteil

Kindel und Schell wurden am 03. Juli 1990 festgenommen und blieben bis zum 22. November1990 in Untersuchungshaft. Zum Zeitpunkt des Urteils am 23. Mai1991 waren beide auf freiem Fuß und sollten es auch danach bleiben. Im Gerichtsprozess wurden Schell und Kindel wegen vorsätzlicher Körperverletzung, mit Todesfolge, bei alkoholbedingter Schuldunzurechnungsfähigkeit unter Anwendung des DDR-Jugendstrafrechts zu jeweils 1 Jahr und 10 Monaten (Kindel) und 1 Jahr und 6 Monaten (Schell) auf Bewährung verurteilt.

Im Gerichtsprozess wurde in weiten Teilen den Ausführungen der Täterinnen gefolgt.

Weitere Zeugenaussagen, die beispielsweise die Verbindung von Kindel und Schell zur umstehenden Gruppe betrafen, wurden verworfen. Die Entschuldungs-Narrative bezogen sich auch auf die Sozialprognose der zwei Täterinnen. Sie seien durch ihre Eltern entweder vernachlässigt oder „verwöhnt“ worden und hätten zum Zeitpunkt der Tat durch die Wirrnisse des systemischen Umbruches und ihrer Arbeitslosigkeit keinen Ausweg für ihre Frustration gefunden. Der zu sich genommene Alkohol wurde als weitere Entschuldigung angeführt: „Ihr Hemmungsvermögen war so herabgesetzt, dass sie der Tat erheblich weniger Widerstand zu leisten vermochten.“ Mittlerweile hätten aber beide Täterinnen eine Ausbildung in Aussicht und es wäre für einen guten Lebensweg alles vorbereitet. So konstatierte das Gericht, dass den beiden Frauen die Tat „persönlichkeitsfremd“ sei, dass es eine „Ausnahme- oder Exzess-Handlung“ gewesen sei.

In der Gesamtschau des Gerichtsprozesses zeigte sich die aktive Verneinung von gruppenbezogenen menschenfeindlichen Einstellungen als Tatmotiv für den Angriff auf Heinz Mädel. Ebenso wurde die Gruppendynamikdekonstruiert und die Tat zu einer Einzeltat ohne Vorläufer umgedeutet.

Post mortem. Was nach dem Tod übrig bleibt

Nach der Tat berichtete die Lokalzeitung in insgesamt drei Artikeln zu Heinz Mädel. Im ersten Artikel, der noch auf der Titelseite erschien, wurde der Überfall als „Höhepunkt der Gewalt“ in der Stadt durch Kriminalrat Klaus Eckardt bezeichnet. Im zweiten Artikel gab es etwas ausführlichere Details zum Vorfall und die umstehende Gruppe Skinheads wurde in einen eindeutigen Zusammenhang mit der Tat gebracht. In dem dritten Artikel verschwand Heinz Mädel aus der Berichterstattung, da sich der Artikel um den Verbleib der Täterinnen in Untersuchungshaft drehte. Über den Gerichtsprozess wurde nicht berichtet.

Überregionale erschien ein Artikel im STERN zu diesem Fall,  Die beiden Journalisten sprachen hier mit den Eltern der Täterinnen und mit Augenzeug*innen.

In der Literatur findet sich Heinz Mädel nur in drei Erwähnungen wieder: Bei Andreas Borchers „Neue Nazis im Osten“ von 1992 als Auftakt einer Auflistung von rechter Gewalt in Ostdeutschland; Bei Matthias Quent „Die Entwicklung der Neonazi–Szene in Thüringen“ (2011, hier) in Rückbezug auf Borchert, sowie bei Jörg Hafkemeyer „Brauner Sumpf in Thüringen“ (2011, hier). In den letzten Jahren kamen jedoch verschiedene Onlinepublikationen hinzu, die die Geschichte von Heinz Mädel aufgriffen und kontextualisiert haben  (hier, hier und hier).

Die Erinnerung an die Geschichte von Heinz Mädel verlief in mehreren Schritten: Zuerst verlor er seinen Namen, danach wurde er nicht mehr erwähnt, sondern die Täterinnen in den Blick genommen. Bis zu dem Punkt, dass über den Gerichtsprozess nicht mehr gesprochen wurde und diese Tat nur noch zu kurzen Sätzen machte.

Heute erinnert kaum etwas an Heinz Mädel. Darum:

Sagt seinen Namen: Heinz Mädel

Anmerkung:

Heinz Mädel wird in der Liste der Todesopfer rechter Gewalt genannt, weil er aufgrund einer homofeindlichen und sozialdarwinistischen Motivation der Täterinnen getötet wurde. Er hat in der Liste jedoch die Ziffer „0“, weil eine Anerkennung von offizieller Seite durch die Bundesregierung ausgeschlossen werden kann. Die Bundesregierung führt eine Statistik über Todesopfer rechter Gewalt nämlich erst ab dem 3. Oktober 1990. Infolgedessen wird Heinz Mädel von der offiziellen Statistik nicht erfasst.

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