Seit geflüchtete Männer, Frauen und Kinder in Deutschland Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, überschwemmen rassistische und flüchtlingsfeindliche Aussagen und Kommentare die Sozialen Netzwerke: Hate Speech – aggressiv und einschüchternd. Christina Dinar aus der Berliner Amadeu Antonio Stiftung beschreibt das Phänomen und erklärt, was man dagegen tun kann.
Was genau ist Hate Speech?
Hate Speech ist kein sprachwissenschaftlicher, sondern ein politischer Begriff, den man mit Hassrede übersetzen kann. Das Wort steht für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, also für die sprachliche Abwertung anderer Menschen aufgrund einer ihnen zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit.
Wie funktioniert Hate Speech?
Es wird eine Gruppe kreiert und abgewertet, um die eigene Gruppe aufzuwerten. Dahinter steckt ein Mechanismus der Ausgrenzung, der bewusst oder unbewusst eingesetzt wird. Kinder und Jugendliche nutzen ihn zum Beispiel, um Mobbingstrukturen zu bilden. Da heißt es von einem Jungen mit dunkler Hautfarbe: „Du stinkst.“ Denn: „Du bist schwarz.“ Dahinter steckt die Strategie des Ausschlusses und der Abwertung, wenn auch noch nicht so bewusst wie bei Erwachsenen. Deshalb ist es wichtig, dass pädagogische Fachkräfte darauf eingehen, bevor aus Cybermobbing Hate Speech wird.
Kennen Sie solche Fälle aus Ihrer Praxis?
Ja, häufig werde ich in Schulen eingeladen. Da ich von außen komme, muss ich erst mal gucken, was vorher gelaufen ist: Hat die whatsapp-Gruppe sich selbst gebildet? Ist das nur die Spitze des Eisbergs, weil in der Schule schon lange etwas gärt? Geht es eher um soziales Miteinander und gegenläufige Ausschlussprozesse?
Menschenfeindliche Haltungen finden sich bei Kindern und Jugendlichen jedoch nur dort, wo schon eine Vorprägung stattfand, zum Beispiel in rechtsextremen Familien. Kinder aus einem solchen Umfeld können es schaffen, Altersgefährten in ihren Bann zu ziehen und mitzunehmen: Weil ich weiß und blond bin, bin ich mehr wert als andere Menschen.
In ländlichen Regionen scheinen das keine Ausnahmen zu sein. In Kitas und Grundschulen dringt, was zu Hause aufgeschnappt wurde: „Wieso kriegen die Flüchtlinge alles und wir nichts?“ Viele Teams sind überfordert, angemessen darauf zu reagieren. Und sie haben es selten mit Eltern zu tun, die Neonazi-Kader sind, sondern mit dem „alltäglichen“ Rassismus ganz „normaler“ Leute. Also muss die Auseinandersetzung erstmal in den Teams geführt werden.
Genau. Wir haben die Fachstelle Gender und Rechtsextremismus, die sich damit beschäftigt und pädagogischen Fachkräften Handwerkszeug vermittelt, um mit diesen Themen umzugehen, Alternativen zu bieten und zu zeigen, wie Demokratie funktioniert. Schließlich ist es ja keine natürliche Gegebenheit, dass Kinder so denken wie ihre Eltern. Machen sie in ihrem Sozialisierungsumfeld die Erfahrung der Gleichwertigkeit, schützt das vor Vorurteilen, denn Kinder haben noch kein geschlossenes Weltbild.
Inzwischen werden auch auf dem Lande, wo man lange weitgehend unter sich blieb, Flüchtlingsunterkünfte eröffnet. Andersfarbige und anderssprachige Männer, Frauen und Kinder tauchen plötzlich auf, kommen in den Supermarkt, sind in der Schule und in der Kita anzutreffen – eine ganz neue Erfahrung.
Ja, aber in pädagogischen Einrichtungen jenseits ihres Elternhauses können Kinder und Jugendliche erleben, dass Vorurteile über die People of Colour der Realität nicht standhalten. Die klassische Zuschreibung „Du stinkst“ stimmt ebenso wenig wie Verniedlichungen und andere Rassismen.
Zurück ins Internet. Seit wann spielt Hate Speech dort eine so wahrnehmbare Rolle?
Sichtbar wurde Hate Speech in den Jahren von 2010 bis 2012 vor allem gegen Feministinnen, die sich mit dem Thema „Gender“ beschäftigen – Stichwort „Gamergate“: Zwei Gamerinnen wurden massiv angefeindet, als sie sich gegen Ungleichbehandlung, Geschlechterstereotype und Diskriminierung von Frauen im Gaming-Bereich äußerten. Danach breitete sich die Hassrede aus, ging von Twitter auf Facebook über und macht heute vor allem rechtspopulistische bis rechtsextreme Positionen sichtbar. Deren Vertreter nutzen die sozialen Netzwerke als raumgreifende Möglichkeit der Propaganda und Rekrutierung, versuchen, eine Gegenöffentlichkeit zu bilden, und dabei stellt sich heraus: Es ist leicht, mit Dreck zu schmeißen, aber aufwändig, dagegen vorzugehen und aufzuklären.
Hinzu kommt: Es gibt eine große Mitleserschaft, die sich als handlungsunfähig erlebt. In Praxis-Workshops höre ich: Am meisten bestürzt die Leute, dass rassistische Äußerungen gegen Flüchtlinge sich in ihren Facebook-Freundeskreisen finden. Da postet Hans-Peter, mit dem man früher die Schulbank drückte, plötzlich finstere Sprüche. Die Frage ist: Wie geht man damit um? Schmeißt man ihn raus, klärt man ihn auf und postet Fakten zurück? Oder lässt man unkommentiert stehen, was Hans-Peter von sich gab?
Wahrscheinlich handelt die Mehrheit genau so…
…und legitimiert Hans-Peters Äußerungen, lässt sie zumindest als sagbar erscheinen. Definitiv muss Hans-Peter ein Feedback bekommen: „Das ist Rassismus, was du da verbreitest.“
Im Kontext von Rechtsextremismus findet sich neuerdings die Strategie des Themen-Hopping. 15 Themen werden in einem Post angesprochen. Häufiges Fazit, das dem folgt: Die Welt ist schlecht, die Presse lügt, „die da oben“ sind gegen uns. Da empfiehlt es sich, einen Aspekt herauszugreifen, zum Beispiel die Behauptung, dass Flüchtlinge zu viel Geld kriegen, und zu posten, was eine Flüchtlingsfamilie tatsächlich bekommt, nämlich weniger als den Hartz4-Satz. Das setzt aber voraus, sich mit dem Thema zu beschäftigen, sich Faktenwissen anzueignen und das aufzubringen, was wir zivilgesellschaftliches Engagement nennen.
# Zurück ins Grab!
Dabei kann man sich in endlose Debatten verstricken und kommt mit den Meldungen rechtsradikaler Inhalte bei Facebook kaum hinterher.
Facebook und die Initiative „Online Civil Courage“, der auch die Amadeu Antonio Stiftung angehört, sind im Gespräch über effektivere Maßnahmen. Ein Ziel ist zum Beispiel, die Melde- und Löschverfahren solcher Posts zu beschleunigen.
Gibt es neben Twitter und Facebook auch andere Medien, die Hate Speech transportieren?
Kinder im höheren Grundschulalter agieren häufig in geschlossenen whatsapp-Gruppen. In den Chats haben sie einen Raum, der sich elterlicher oder pädagogischer Einflussnahme entzieht und in dem sie sich ausleben können. Das ist zwar gut, aber es sollte schon Regeln geben oder einen Rahmen, in dem Schutz und Prävention möglich sind.
Apps eröffnen Kindern und Jugendlichen alle möglichen digitalen Welten. Neue Wissenshierarchien entstehen, denn Heranwachsende, die sich diese Welten schnell erschließen, sind im Vorteil. Da wären Angebote, die alle mitnehmen, auch die Langsamen, schon sinnvoll. Und Standards des reflektierten Umgangs mit den neuen Medien ebenso.
Auf Twitter und Facebook tummeln sich jüngere Kinder allerdings selten. Sie kennen diese Medien zwar, bringen sich aber noch nicht aktiv ein…
…obwohl man bei Facebook undTwitter anonymer agieren kann als am Handy. Die Mitglieder von whatsapp-Gruppen kennen einander meist gut. Und trotzdem wird gemobbt?
Meine Erfahrungen besagen das. Außerdem gibt es Schul-Chats, in denen Kinder aus verschiedenen Klassen kommunizieren, es gibt Netzwerke und dezentrale Gruppen, in denen man einander nicht unbedingt kennt. Da fragt sich auch, wie wir als Eltern damit umgehen. Mich beunruhigt es, gar nichts darüber zu wissen, was in den Chats abgeht. Außerdem bin ich als Mutter diejenige, die die Rechnung zahlt und letztlich die Verantwortung trägt. Also sage ich zu meinem Sohn: „Wenn dir was komisch vorkommt – rede mit mir darüber.“
Ich finde, dass pädagogische Fachkräfte jede Menge tun können, um sich in den Chats zumindest zu informieren, was läuft, was okay ist, was nicht, und die Auseinandersetzung darüber anzuregen. Hat man keinen Zugriff, ist das natürlich schwierig…
…und erst recht, wenn kein Vertrauensverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen – seien es Eltern, Lehrerinnen oder Sozialarbeiter – besteht. Warum sollten Kinder Menschen, denen sie nicht vertrauen, Zugang zu ihrem Feld der Freiheit gewähren? Außerdem sind viele Kinder und Jugendliche auf diesem Feld erheblich kompetenter als die meisten Erwachsenen. Tut sich jedoch etwas Ungewohntes auf – zum Beispiel die Flüchtlingsunterkunft am Dorfrand oder in der Nachbarschaft –, muss das von Erwachsenen aufgegriffen werden. Im wirklichen Leben und egal, ob sie zu einer whatsapp-Gruppe gehören oder nicht, denn die virtuelle Welt hängt mit der realen Welt zusammen. Bei Kindern gibt es da gute Anknüpfungspunkte. Die meisten haben ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl.
Ja, und Pädagogen müssen das unterstützen. Außerdem können sie aufklären.
In den sozialen Netzwerken wird gegenwärtig oft mit Desinformation gearbeitet: Wir sehen ein Bild von einer völlig zugemüllten Wiese und lesen: So hinterlassen Geflüchtete ihre Plätze. Mit dem Bild werden also rassistische Stereotype verknüpft und Behauptungen aufgestellt. Forscht man dem Bild nach, stellt sich heraus, dass es von einem Festival in Roskilde stammt, dass 2011 stattfand. Oder es heißt: Die Schwester meiner Freundin arbeitet bei Lidl und hat gesehen, dass Geflüchtete ihre Tüten vollpackten und nichts bezahlen mussten. Um diese Behauptung zu legitimieren, wird eine Beziehung zu der Person erfunden, von der man die Information erhalten haben will.
# Geh sterben!
Wenn Unwissenheit und Verunsicherung herrschen, breiten sich rechtspopulistische Einstellungen aus: Misstrauen in die Demokratie und ihre Institutionen, Ressentiments gegenüber Fremden und dem Islam werden miteinander verknüpft und sind in Hass-Mails sichtbar wie die Spitze eines Eisbergs, der aus all diesen diskriminierenden Vorurteilen besteht. Werden sie legitimiert und findet keine kritische Prüfung der Informationen statt, verstärken sie sich. Dies ist ein Teil der Strategie der Rechtspopulisten, und dazu nutzen sie die sozialen Netzwerke, die ja eine Art Beziehungsnetzwerke sind und Vertrauen vorgaukeln, wenn zum Beispiel der Klassenkamerad von früher etwas postet. Hier wird sichtbar, was die Wissenschaft schon lange belegt – cirka 20 Prozent der Mitglieder unserer Gesellschaft vertreten rechtspopulistische Positionen.
Hinzu kommt: Die Positionen der Geflüchteten findet man in diesen Netzwerken nicht. Es wird lediglich über sie gesprochen. Zwar gibt es Initiativen, die sich für die Geflüchteten engagieren, und die Willkommenskultur sorgt für entsprechende Erzählungen, aber es ist schwieriger, positive Geschichten zu verbreiten, und es geht auch nicht so schnell. Einfache Lösungen für komplexe Probleme anzubieten – das kommt hingegen leichter an, wie man inzwischen europaweit sehen kann. Hate Speech ist ein Teil davon, aber einer, der sichtbar macht, vor welchen Problemen wir stehen.
Kann man dem juristisch begegnen?
Es gibt folgende Möglichkeiten: löschen, melden, anzeigen. Die Frage ist auch, welche Beziehung man zum Absender hat. Man kann nachfragen, wie der Absender zu seiner Äußerung kommt, kann die Äußerung öffentlich machen, kann ihn anzeigen. Es gibt viele Formen, sich zu wehren.
Ich finde, die Zivilgesellschaft muss das Problem aufgreifen, denn es geht uns alle an. Wenn wir die Sozialen Netzwerke als gesellschaftlichen Raum wahrnehmen, dürfen wir nicht weggucken, sondern müssen uns einbringen und positive Geschichten erzählen. Wir müssen uns fragen: In welcher Kommunikationskultur wollen wir leben? Um das deutlich zu machen, können wir Kommentare liken, die uns gefallen, so dass sie weiter oben gelistet werden, über den hässlichen Sprüchen. Mit einem Klick kann man Menschen unterstützen, die versuchen, sich zu engagieren.
Da wären wir bei der Frage: Was hat das alles mit mir selbst zu tun? Warum soll ich mich engagieren?
Manchen Leuten aus dem klassischen pädagogischen Bereich ist „all das mit dem Internet“ viel zu viel. Trotzdem können sie etwas tun. Sie können die Probleme in ihrer pädagogischen Praxis aufgreifen, mit Kindern und Jugendlichen an Beispielen arbeiten, einen Chatverlauf ausdrucken und die Situationen besprechen: „Was ist da eigentlich passiert? Wir schauen uns die Situation an, gucken nicht weg, sondern machen die Menschen hörbar, die diskriminiert werden oder sich gegen Diskriminierung aussprechen.“ In dem Moment sind alle betroffen und können sich positionieren, solidarisch und unterstützend.
Man kann auch selbst eine Chat-Gruppe aufmachen, als Alternative zu anderen Gruppen: „Hier bin ich, eure Lehrerin, und ich bin ansprechbar. Montags bis freitags erreicht ihr mich nach 15.00 Uhr.“ Das ist ein Beziehungsangebot.
Es gibt auch die harte Variante: Alle Handys einsacken, sich offline mit dem Problem beschäftigen und die klassischen Anti-Diskriminierungsstrategien nutzen: mit der Gruppe arbeiten, sich weniger auf die Täter fokussieren, die positiven Kräfte stärken und vereinbaren, wie man künftig mit dem Problem umgehen möchte.
Die dritte Variante: Ich gehe in die Chat-Gruppe und bin stille Mitleserin. Was ich online mitbekomme, spreche ich offline an: „Ich habe gesehen, dass du so düstere Bilder gepostet hast. Ist alles in Ordnung bei dir?“ Viele Kinder und Jugendliche nutzen Emoticons, um Gefühle darzustellen. Daran kann ich Gesprächsangebote knüpfen. Werden jedoch Grenzen überschritten, greife ich ein. Und das muss ich fairer Weise vorher ankündigen: „Ich freue mich, dass ich in eurer Chat-Gruppe bin, werde mich aber einmischen, wenn ich etwas lese, das gegen die abgemachten Gruppenregeln verstoßen könnte.“
Ich denke, so ein Angebot kann für alle Beteiligten als Übungsfeld sinnvoll sein, denn: Online kann uns wie im realen Leben alles Mögliche begegnen. Es ist gut, wenn wir darauf vorbereitet sind.
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Interview: Lena Grüber, Erika Berthold
Foto: Lena Grüber
Zuerst erschienen bei Wamiki https://wamiki.de/article/dreck-im-netz-was-tun/