In diesem Jahr jährt sich 9/11 zum 20. Mal. Um die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA kursieren unzählige Verschwörungserzählungen. Das verwundert wenig, bedenkt man, dass Verschwörungsideologien besonders während Krisenzeiten und einschneidender Ereignisse Hochkonjunktur haben. Über die Bedeutung von 9/11 für Verschwörungserzählungen, Bildungsarbeit mit Menschen Ü40 und die Rolle von Geschlecht in Radikalisierungsprozessen, sprechen wir mit Ferdinand Backhöfer von der Fachstelle für politische Bildung und Entschwörung der Amadeu Antonio Stiftung in Leipzig.
Was hältst du von der Einschätzung, 9/11 sei für viele die wichtigste Einstiegsdroge in die Welt der Verschwörungserzählungen?
Ich kann das tatsächlich ziemlich persönlich beantworten, denn Verschwörungserzählungen um 9/11 waren auch mein erster persönlicher Kontakt mit diesem Feld. Das war in meiner Jugend und Freunde von mir hatten diesen “Zeitgeist”-Film gesehen, in dem Verschwörungserzählungen um 9/11 propagiert wurden, vor allem, dass der Anschlag von der US-Regierung selbst geplant war. Erst Jahre später habe ich verstanden, wie gefährlich diese Verschwörungserzählungen sind und was da alles in einen Topf geschmissen wird. In dem Film geht es ja nicht nur um 9/11: Alles wird mit dieser Logik “Nichts ist wie es scheint” betrachtet: Es geht um Religion, um das Geldsystem – die antisemitische Komponente ist dabei ganz zentral. Als Jugendlicher habe ich das alles aber gar nicht verstanden.
Worin bestand für dich und deine Freunde damals der Reiz an diesen Verschwörungserzählungen?
Es war so, als wären wir auf Geheimwissen gestoßen, gepaart mit dem vagen Gefühl, die Welt läuft nicht so, wie sie laufen sollte und man bekommt von öffentlichen Stellen nicht immer die Wahrheit erzählt. Genau dieser Eindruck schien durch die Verschwörungserzählungen um 9/11 bestätigt zu werden. Und das verbunden mit einer ganz aufregenden Story – solche Filme arbeiten sehr manipulativ.
Ich glaube, der Reiz von Verschwörungserzählungen besteht darin, dass es sich um weltbewegende, komplexe Ereignisse handelt. 9/11 war ja in vielen Bereichen etwas ganz besonderes: Das US-Territorium wurde angegriffen, was seit sehr langer Zeit nicht mehr passiert war. Es war die Einleitung in ein Zeitalter, in dem nicht mehr Kriege zwischen Staaten geführt, sondern Terroranschläge von Netzwerken über Landesgrenzen hinaus begangen werden. Das war alles sehr schwierig zu verstehen, sehr überfordernd. In solchen Situationen bieten Verschwörungserzählungen eine simple und aufregende Deutung dieser Ereignisse, in denen Gut und Böse ganz klar sind. Plötzlich gibt es keine Zufälle, keine Widersprüche mehr, du hast auf einmal den Durchblick. Das ist der Reiz daran und das ist auch das gefährliche.
Jeder kennt die Bilder von Flugzeugen, die in das World Trade Center fliegen. Ist es auch diese Macht der Bilder, die dabei eine Rolle spielt? Oder wo liegen die Besonderheiten, die 9/11 zu einer Art Zeitenwende im Bereich Verschwörungsglauben machen?
Das Besondere ist die starke Symbolkraft von 9/11, die von den islamistischen Terroristen ja auch genauso gewollt war. 9/11 war nicht nur ein konkreter Angriff auf die USA, sondern ein symbolischer Angriff auf den gesamten Westen, ein Angriff auf Demokratie und Moderne, die im Islamismus als falsch und verdorben gelten.
Verschwörungserzählungen, die mit 9/11 entstanden sind, formulieren häufig ein Unbehagen und eine Feindschaft gegenüber modernen Gesellschaften. Auch die Verschwörungserzählungen, die eher aus der rechtsextremen Ecke kommen, gehen in diese Richtung. Was wir seit 9/11 deutlich sehen, ist, dass sich islamistische und rechtsextreme Verschwörungserzählungen stark aufeinander beziehen und sich gegenseitig Futter geben. Beide haben autoritäre Gemeinschaftsideen, beide arbeiten mit dieser Feindschaft gegen Moderne und Demokratie. Und ihre verschwörungsideologische Propaganda beruht in ganz wesentlichen Teilen auf antisemitischen Mustern. Zum Beispiel die Verschwörungserzählung, jüdische Menschen seien vor den Anschlägen gewarnt worden.
Und dass es deshalb keine Jüdinnen und Juden unter den Opfern gäbe. Eine Verschwörungserzählung, die sehr schnell widerlegt wurde.
Genau. Und trotzdem kursiert diese Behauptung bis heute.
Siehst du noch weitere Trends und Entwicklungen im Feld von Verschwörungserzählungen, wenn du auf die letzten 20 Jahre zurückblickst?
9/11 hat auch das Zeitalter der Globalisierung eingeläutet. Verschwörungserzählungen haben ohnehin einen Hang dazu, ein Weltbild zu beschreiben, das sich immer mehr entgrenzt. Aber 9/11 hat das weiter verstärkt. So sind Institutionen, die auf globaler Ebene auftreten, wie etwa die UNO, zunehmend Gegenstand von Verschwörungserzählungen geworden. Oder wenn man sich die Verschwörungserzählungen rund um den Klimawandel anschaut, dann geht es da ganz selten darum, dass eine einzelne Regierung ihre Bevölkerung belügt. Es geht vielmehr darum, dass die ganze Welt neu geordnet werden soll. Auch die Themen Terrrorismus und Migration werden mittlerweile stark in große, übergeordnete Verschwörungserzählungen eingebaut, so etwa die in der rechtsextremen Szene beliebte Verschwörungserzählung vom “Großen Austausch”. Auch antisemitische Muster, wie die jüdische Weltverschwörung und der jüdischen Strippenzieher, waren immer Teil von Verschwörungsglauben. Aber durch die Anschläge sind diese Aspekte nochmal stärker geworden.
Wie hat die politische Bildung auf diese Entwicklungen reagiert?
Die politische Bildung nach 9/11 hat sich vor allem mit Themen wie Terror und Islamismus beschäftigt. Seit kurzem sehen wir aber auch den Trend, dass es mehr Sensibilität für die übergreifenden Themen gibt: Also Antisemitismus, Verschwörungserzählungen als Gemeinsamkeit von Rechtsextremismus und Islamismus und auch die Rolle, die Verschwörungserzählungen in Radikalisierungprozessen spielen. 9/11 hat da auch in Deutschland einen Startschuss gegeben. Ein wirklich breites öffentliches Interesse nehme ich aber erst seit der Corona-Pandemie wahr, seit das Thema Verschwörungserzählungen durch die Corona-Leugner:innen stärker auf die Tagespolitik gebracht wurde.
Corona-Pandemie und 9/11, das sind natürlich zwei völlig unterschiedliche Ereignisse. Kann man sie dennoch vergleichen, hinsichtlich ihrer Schlagkraft, die sie auf die Verbreitung von Verschwörungserzählungen haben?
Ich glaube nicht. 9/11 darf wirklich nicht unterschätzt werden mit Blick auf die Bilder, diese Symbolkraft. Da sind ganz viele verschwörungsideologische Klischees verstärkt wurden, die es schon vorher gab. “Man kann den USA nicht vertrauen”, “Wer kontrolliert eigentlich die USA?”, die Ablehnung von globalen Prozessen. Die Pandemie ist nochmal anders zu bewerten. Denn die Verschwörungserzählungen rund um Corona greifen eher das auf, was eh schon in den Köpfen ist. Es bricht jetzt nur deutlicher hervor. Die Pandemie ist ein starker Eingriff in unser Privatleben und konfrontiert Menschen mit Gefühlen wie Orientierungslosigkeit und Ohnmacht. Und wir wissen, dass Verschwörungserzählungen in solchen Situationen besonders attraktiv sind.
Also die Corona-Pandemie als Dünger, der auf einen eh schon angelegten Nährboden fällt…
Ja, das ist ein gutes Bild. Das bestätigt auch die Forschung. Viele Menschen haben den Eindruck, dass in der Pandemie plötzlich ganz viele Menschen Verschwörungserzählungen gefolgt sind. Aber die Forschung zeigt, dass schon vorher viele Menschen Verschwörungserzählungen geglaubt haben. Die Pandemie bringt sie jetzt aber dazu, diese Sichtweisen nicht nur für sich allein im stillen Kämmerlein zu denken, sondern sie auf der Straße zu artikulieren, sich zu organisieren. Wir wissen seit Jahren, dass es eine Tendenz gibt demokratische Prozesse abzulehnen oder diesen stark zu misstrauen. Und Menschen, die wenig oder kaum Vertrauen in Demokratie haben, sind sehr anfällig für Verschwörungserzählungen. Wenn sie dann noch auf Gleichgesinnte treffen und sich gegenseitig in ihrer Weltsicht bestätigen, folgen den Gedanken und Worten auch häufiger Taten.
Die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020 hat ergeben, dass 38,5% der deutschen Bevölkerung bereits eine feste Verschwörungsmentalität ausgebildet haben – eine beunruhigende Zahl. Welche Antworten hat die politische Bildung darauf?
Einerseits gibt es natürlich die schweren Fälle, wo sich Menschen sehr stark radikalisieren und die als politischer Extremismus ernst genommen werden müssen. Da hat ja auch der Verfassungsschutz gegenüber Querdenken reagiert und beobachtet nun auch bundesweit Teile der Bewegung. Hier besteht die Aufgabe der politischen Bildung vor allem darin, über die Gefahren aufzuklären, diese frühzeitig zu erkennen und Menschen dabei zu helfen aus dieser Szene auszusteigen. Bei ganz schweren Fällen kann man mit politischer Bildung nicht mehr so viel erreichen. Dann gibt es aber auch ein sehr großes Spektrum an Leuten, die sind noch nicht an diesem radikalen Punkt. Die vertrauen vielleicht eher ihrem Bauchgefühl als Fakten oder Expert:innen, oder sie haben so ein ganz vages Unbehagen gegenüber der Politik. In unserem Bildungsprojekt versuchen wir mit diesen Leuten ins Gespräch zu kommen. Unsere Grundhaltung dabei ist: Nicht jede Person, die verschwörungsideologische Inhalte vertritt, ist gleich extremistisch. Aber wir bestehen darauf, dass solche Inhalte immer menschenfeindlich und demokratiefeindlich sind. Denn sie verunglimpfen die Demokratie als Lug und Trug und die Frage, “Wer hat eigentlich Schuld?” führt immer dazu, dass Menschen verfolgt werden sollen.
In der “Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung” arbeitet ihr mit Menschen über 40. Warum diese Zielgruppe?
Im Unterschied zu Kindern und Jugendlichen gibt es für diese Zielgruppe sehr wenige Bildungsangebote. Für Menschen über 40 müssen solche Angebote auch ganz anders gestaltet werden. Denn sie haben schon viel Lebenserfahrung und lassen sich ungern über irgendein Thema einfach nur “belehren”. Bei Menschen Ü40 stellt sich zudem die Frage, wie und wo man sie überhaupt mit Bildungsangeboten erreicht. Deshalb kooperieren wir mit zivilgesellschaftlichen Vereinen und Trägern, die einen Zugang zu dieser Zielgruppe haben. Wenn wir zum Beispiel mit der liberalen muslimischen Gemeinde in Berlin kooperieren, dann stellen wir so einen lebensweltlichen Bezug her, der die Menschen da abholt, wo sie sind. Ein anderes Beispiel sind Gewerkschaften, mit denen wir zusammenarbeiten. Durch solche Kooperationen können wir gut an den Lebensrealitäten von Erwachsenen ansetzen.
Kannst du ein Beispiel geben, wie das konkret aussieht?
Um beim Beispiel der Moschee zu bleiben, da haben wir nicht nur einen klassischen Workshop gegeben, wo wir Inhalte durchgegangen sind, sondern darauf aufbauend hat der Imam das Thema Verschwörungserzählungen auch in das Freitagsgebet eingebaut. Anschließend gab es eine offene Runde mit den Gemeindemitgliedern, in der sie darüber sprechen konnten, welche Berührungspunkte sie mit Verschwörungserzählungen haben. Und da kam unglaublich viel, denn das ist ein Thema, das die Menschen beschäftigt, weil sie Leute kennen, die Verschwörungserzählungen glauben und Ratschläge suchen, wie man damit umgehen kann. Weil sie verstehen wollen, warum Menschen daran glauben oder auch weil sie eigene Erfahrungen mit dem Thema haben. Und genau da sind wir dann ansprechbar und können darauf eingehen. In der klassischen, frontalen Bildungsarbeit könnten wir das so nicht.
Der Vorteil an solchen Kooperationen ist also, dass ihr Gruppen erreicht, die neben dem Faktor Alter weitere Gemeinsamkeiten haben. Denn wenn ich jetzt an einen Anfang 40-Jährigen Berliner denke und dem eine Mitte 70-Jährige Frau aus der Eifel gegenüberstelle, dann sind das sehr unterschiedliche Lebenswelten, die da aufeinander treffen.
Ja, das ist auch total unterschiedlich bei unserem Projekt. Da gibt es Leute, wie bei den Gewerkschaften, wo ein starker Berufsbezug da ist. Ganz anders sieht es wiederum aus, wenn wir zum Beispiel mit dem Landesseniorenrat kooperieren. Bei denen geht es dann um Themen wie Demokratie, Teilhabe. Aber auch darum, wie gerade alte Menschen durch Verschwörungserzählungen bedroht werden. Gerade im Kontext der Corona-Pandemie rechtfertigen und verharmlosen viele Verschwörungserzählungen den Tod von alten Menschen. Und da ist die Themensetzung natürlich ganz anders, da sind auch die Formate ganz anders. Das ist das Herausfordernde, aber natürlich auch das Spannende und Schöne an der Arbeit, dass eigentlich keine Kooperation gleich verläuft.
In eurer aktuellen Handreichung “Entschwörung konkret” habt ihr eine sehr zugespitzte Perspektive auf Verschwörungserzählungen gewählt: Das Thema Geschlecht im Kontext von Verschwörungsideologien. Warum dieser Schwerpunkt?
Weil uns das in unserer Arbeit und der Analyse aufgefallen ist, vor allem bei der Szene der Corona-Leugner:innen. Die Publikation beschäftigt sich mit der Frage “Wie viel Geschlecht steckt in Verschwörungsideologien?”. Die Rollen, die Frauen und Männer da einnehmen und auch wie sie von Verschwörungserzählungen angesprochen werden, das ist sehr aufschlussreich. Wir wollen vor allem verstehen, warum Menschen an Verschwörungserzählungen glauben, was diese so attraktiv macht. Denn sie lassen sich wissenschaftlich oder logisch in der Regel sehr leicht widerlegen, trotzdem wollen Menschen daran glauben. Und dabei spielt Geschlecht eine ganz große Rolle.
Was sind das typischerweise für Geschlechterrollen?
Bei Männern lässt sich beobachten, dass sie sich häufig in Konkurrenz sehen – wer hat mehr Ahnung, wer kann alle aufklären. Wenn das einer der Hauptbeweggründe für eine Person ist, an Verschwörungserzählungen zu glauben, dann werde ich diese Person nicht mit debunking erreichen, also dadurch dass ich die Mythen entlarve. Höchstwahrscheinlich würde ich den Konkurrenzdruck, den diese Person empfindet – und somit ihr Weltbild – eher noch verstärken. Deshalb ist es für uns ganz wichtig diese Motivationslagen aufzudecken, um damit anders umgehen zu können. Traditionelle Geschlechterbilder haben ein enormes Radikalisierungs- und Gefahrenpotenzial. Zum Beispiel, weil sie Männer als Krieger ansprechen, die gegen die neue Weltordnung kämpfen müssen. Auf der anderen Seite werden Frauen häufig als besorgte Mutter angesprochen und dann oftmals nicht ernst genommen oder verharmlost, obwohl sie sehr gefährliche Verschwörungserzählungen verbreiten. Wenn man damit kompetent umgehen will, sollte man die Geschlechterbilder, die dahinter stehen, durchschauen und benennen können.
Wir sprechen jetzt 20 Jahre nach 9/11. Wenn wir in die Zukunft blicken, 20 Jahre nach der Corona-Pandemie – die hoffentlich nicht mehr allzu lange dauert – was muss bis dahin passieren, damit die Zahl der Leute, die an Verschwörungserzählungen glauben, nicht mehr bei fast 40% liegt?
Da muss eine Menge passieren. Die Tendenzen, die ich gut finde, müssen verstärkt werden: Verschwörungserzählungen müssen in ihrem Radikalisierungspotenzial und ihrer Demokratiegefährdung ernst genommen werden, die Verbindung zum Antisemitismus muss ernstgenommen werden. Und es darf nicht nur um Bildung oder Arbeit gegen Verschwörungserzählungen gehen, sondern es muss immer auch Arbeit für die Demokratie sein. Denn Menschen, die sich als aktiver Teil der Demokratie fühlen, die das Gefühl haben, sie können was bewegen, die die Möglichkeiten bekommen, sich mit anderen auszutauschen und sich selbst kritisch zu hinterfragen, für die ist Verschwörungsglaube unattraktiv.
Wenn die Pandemie vorbei ist, wird das nächste Thema kommen, bei dem Verschwörungserzählungen gut ansetzen können. Es zeigt sich jetzt schon ein Trend zu Ökologie und Gesundheit. Wir dürfen auf keinen Fall darauf hoffen, dass sich das Thema von selbst erledigt, denn die Leute suchen danach, sie wollen daran glauben. Genau dieser Verschwörungsmentalität wollen wir den Boden entziehen – mit politischer Bildung, die breit gedacht ist: Leute nicht nur über Gefahren aufzuklären, sondern sie als mündige Bürger:innen ansprechen, die sich einbringen und Sachen selbst verändern wollen. Das ist das beste Gegengift gegen Verschwörungserzählungen.
Vortrags- und Diskussionsveranstaltung der Amadeu Antonio Stiftung: „Den 11. September erklären: 9/11 und die Erzählung von der Verschwörung“ mit Philipp Gassert vom Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Mannheim, am 8. Septemeber 2021.