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Hintergründe

Ideologie und Szene: Wer sind die Reichsbürger?

2020 durchbrachen mehrere hundert Menschen eine Polizeiabsperrung und stürmten auf die Treppe des Bundestags. Mit dabei waren viele Reichsbürger

Sie lehnen die Bundesrepublik ab und wollen sie teilweise stürzen, auch mit Waffengewalt: Reichsbürger*innen. Wer sind sie und was zeichnet sie aus?

3.000 Polizist*innen führten eine Razzia in mehreren Bundesländern durch. Sie durchsuchten dutzende Wohnungen oder Geschäftsräume und nahmen 25 Personen in Gewahrsam. Darunter befinden sich Menschen aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft. Ehemalige oder aktive Soldaten, Polizisten, Richter oder Ärzte. Die Gruppe soll, so die Begründung des Generalbundesanwalts, geplant haben, die Demokratie in Deutschland zu beseitigen und an deren Stelle ein Kaiserreich nach Vorbild von 1871 zu setzen. Letzteres Ziel der Gruppe führte dazu, dass die Ermittler*innen, die Personen als Reichsbürger einstufen. Doch was ist unter dem Begriff und der zugehörigen Szene eigentlich zu verstehen?

Eine heterogene Gruppe radikaler Erwachsener

Will man sich dem Milieu nähern, führt der Blick zunächst in die jährlichen Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder. Demnach gibt es in Deutschland derzeit 21.000 Menschen, die dem Milieu zugerechnet werden. Die meisten von diesen sind sogenannte Einzelkämpfer*innen, jedoch befinden sich auch bis zu 30 Organisationen unter Beobachtung. In der Pro-Kopf-Verteilung fallen besonders die Bundesländer Thüringen, Sachsen und Bayern auf. Auch dürfte es wesentlich mehr Vertreter*innen des Milieus in den kleinen und mittleren Städten beziehungsweise in den Dörfern als in den urbanen Gegenden geben.

Und noch eine weitere Auffälligkeit ist zu verzeichnen: Es handelt sich um eine Gruppe, die fast ausschließlich aus Frauen und Männern besteht, die jenseits der 40 Jahre sind. Immer wieder wird deshalb auch von einer Radikalisierung im Erwachsenenalter gesprochen. Unter den Reichsbürgern befinden sich sowohl Personen, die der rechtsextremen Szene angehören, als auch solche, die anderen Milieus zuzuordnen sind. Auffällig ist die Nähe der Reichsbürger zu Themen wie alternative Medizin, Wissenschaftsleugnung, Esoterik, Umwelt und Natur sowie ein allgemeiner Hang zu allerhand möglichen Verschwörungserzählungen. So unterschiedlich wie das Milieu manchmal wirken mag, so ähnlich ist es sich aber bei den Grundfesten des Denkens.

Vereint in einem verschwörungsideologischen Weltbild

Wohl für die große Mehrheit der Reichsbürger*innen gilt, dass diese davon überzeugt sind, eine fremde Macht würde im Hintergrund stehen und somit Kontrolle über Regierungen, Unternehmen oder Medien ausüben. Weder der deutsche Staat, noch das Leben der Menschen könnten somit „souverän“ sein. Demzufolge ist das Einfordern von „Souveränität“, wahlweise für Deutschland oder das eigene Leben, eine der Kernforderungen des Milieus. Begibt man sich auf die Suche, wieso die Szene davon ausgeht, dass es überall an Souveränität fehlt, landet man tief im antisemitischen Wahn. So wie der in Thüringen lebende Adelige Heinrich XIII. Prinz Reuß, sind viele Reichsbürger*innen davon besessen, dass jüdische Familien wie die Rothschilds die eigentlichen Machthabenden seien. Ähnlich wie in anderen antisemitischen Szenen, hüten sich aber viele Szeneangehörige davor, allzu offen Judenhass auszudrücken. Die (angebliche) Macht im Hintergrund wird deshalb oft nicht näher bezeichnet, sondern über Chiffren oder Codes vermittelt.

Sowohl das verschwörungsideologische Weltbild als auch der verdeckte Antisemitismus machen das Milieu anschlussfähig in verschiedene Richtungen. Enttäuschte Querdenker*innen oder offenbar Teile der AfD sowie auch Menschen, die mit der Moderne hadern, suchen nicht nur nach einer Erklärung für die eigene Unmöglichkeit, mit der hiesigen Gesellschaft zurechtzukommen. Sie wünschen sich eine Handlungsanweisung, was nun zu tun ist. Und exakt hierbei wird die Reichsbürger-Szene behilflich: Sie liefert das Weltbild, die Ideologie samt Feindbildern und den Plan, was man machen muss. Das muss nicht immer in Umsturzphantasien enden, wie bei der am 7. Dezember verhafteten Gruppe. Manche Reichsbürger werben auch für den sogenannten Systemausstieg, etwa indem man sich einer Gemeinschaft anschließt, die dann auf dem Land oder in einem Schloss ein neues Leben ausprobiert.

Reichsbürger sind nicht neu, aber erfinderisch und immer gefährlich

Erste Reichsbürger*innen, also Personen, die eine groß angelegte Verschwörung um den deutschen Staat und seine Geschichte behaupteten, gab es bereits in den 1970er und 1980er Jahren. Darunter befanden sich wohl offen rechtsextreme Personen wie der Rechtsanwalt und Rechtsterrorist Manfred Röder, als auch skurrile Gestalten wie der Eisenbahner Wolfgang Ebel. Die Vielschichtigkeit des Milieus bestand also von Anfang an. Aus der militanten Neonazi-Szene gab es immer wieder Versuche, Einfluss auf das Milieu zu nehmen. So schrieb beispielsweise der Rechtsanwalt und Antisemit Horst Mahler eine Verfassung für das „vierte Deutsche Reich“.

Zugleich entwickelten andere Reichsbürger, wie Wolfang Ebel, die typischen Maschen und Praktiken, die bis heute gern gepflegt werden. Man produziert eigene Pässe, es werden Drohbriefe an Behörden verschickt und Fantasie-Regierungen einberufen. Diese Seite des Milieus hatte schon damals dazu geführt, dass man die Szene nicht ernst genommen hat. Man bezeichnete diese als „Spinner“ oder „Querulanten“ und verharmloste damit sowohl die Gefahren als auch die Ideologie. Als jedoch im Jahr 2016 kurz hintereinander zwei bewaffnete Angriffe von Szene-Personen auf die Polizei erfolgten, änderte sich diese Einschätzung.

Aus dem Milieu heraus gab es immer wieder Versuche, sich bundesweit aufzustellen. Bekannt geworden sind beispielsweise die Gründung des Deutschen Polizeihilfswerks. Hier hatten sich Reichsbürger*innen als Polizisten ausgegeben, trugen Uniformen und planten die Übernahme der tatsächlichen Polizei und Behörden. Der Gruppierung um Volker Schöne sollen zwischen 2012 und 2013 mehrere Hundert Personen angehört haben. Auch sind Reichsbürger*innen keine abgeschottete Gruppe. Man sucht den Kontakt zu anderen Milieus. Insbesondere zu Rechtsextremen oder zu sogenannten Preppern bestehen ideologische Übereinstimmungen.

Das heutige Milieu hat, wie zu Beginn, keine einheitlichen Ziele – manche wollen das historische deutsche Reich wiedererrichten, andere begnügen sich mit eigenen Staats-Kreationen. Einig ist man sich allerdings in der Ablehnung und Bekämpfung der heutigen Demokratie in Deutschland. Beliebte Feindbilder sind beispielsweise Polizist*innen, Richter*innen, Gerichtsvollzieher*innen oder Journalist*innen. Aufgrund des antisemitischen Weltbildes sind vor allem auch Jüdinnen und Juden gefährdet.

Was kann die Gesellschaft tun?

Die Ergebnisse einer Befragung des Instituts „YouGov“ aus dem Jahr 2016 zeigen, dass bis zu 6 Prozent der Deutschen damals die Ideen der Reichsbürger nachvollziehbar fanden. Auch die Rekrutierungen der Reichsbürger*innen während der Corona-Jahre scheinen erfolgreich gewesen zu sein, sonst wäre die Szene hier nicht gewachsen. Vor diesen beiden Hintergründen gilt es zunächst vor allem eine breite und gute Aufklärung über das Milieu zu leisten, damit nicht noch mehr Menschen Anschluss finden. Reichsbürger*innen sammeln gezielt Enttäuschte und Verunsicherte auf, insbesondere in Zeiten von Krisen. Deshalb ist es auch wichtig, dass der Staat und die Gesellschaft gute und schnelle Antworten finden, die Folgen der Krisen abzumildern.

Da es vor allem Reichsbürger*innen unter Erwachsenen gibt, sind weniger Präventionskonzepte für junge Menschen als vielmehr für Erwachsene gefragt. Hier können erste Erfahrungen aus der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit zurate gezogen werden. Gleichzeitig gilt es primär für die politische Bildung mit Erwachsenen neue Wege zu finden. Eine Vorstufe der Reichsideologie ist der Hang zu Verschwörungsdenken. Sind Menschen hier erst am Anfang, können diese noch gut erreicht werden. Bereits radikalisierte Reichsbürger*innen können hingegen häufig weder pädagogisch noch argumentativ erreicht werden. Da hier eine erhebliche Gefahr für den Rest der Gesellschaft besteht, müssen exakte Gefährderanalysen erstellt werden und müssen die Mittel des Rechtsstaats ausgeschöpft werden. Besonders gefährdete Berufe oder Personen müssen geschützt werden, beispielsweise durch das flächendeckende Angebot von Schulungen und Trainings.

Vor dem Hintergrund der Existenz von Reichsbürger*innen in Sicherheitsbehörden, gilt es ebenso Untersuchungen anzustellen. Auch müssen diese Bereiche besonders vor demokratiefeindlichem Gedankengut geschützt werden. Für Reichsideologie im Besonderen, wie für Verschwörungsideologie im Allgemeinen gilt aber, dass diese nur dann erfolgreich bekämpft werden kann, wenn bereits frühe Formen erkannt werden und Menschen hiergegen etwas tun. Deswegen sollte auch eine Lehre der Corona-Jahre sein, dass Online-Aktivitäten von Verschwörungsideolog*innen oder Reden von diesen Personen auf Anti-Maßnahmen-Demos sensibler gehandhabt werden. Es braucht hier nicht zuerst Verbote. Wichtiger ist es, dass überall demokratischer Protest und Widerspruch zu erfahren ist.

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Tatort Bobstadt (Nicholas Potter)

Dokumentation des Falls Ingo K.: die gefährliche Militanz von Reichsbürger*innen

Über zwei Jahre ist es nun her, dass die polizeiliche Durchsuchung des militanten Reichsbürgers Ingo K. aus Bobstadt in einem Schusswechsel endete. Die Durchsuchung wurde veranlasst, um eine Waffe in Beschlag zu nehmen, für die Ingo K. keine Besitzerlaubnis mehr besaß. In seinem neuen Buch „Reichsbürger“ im Südwesten. Die Akte Ingo K. aus Bobstadt zeichnet Timo Büchner eindrucksvoll die Radikalisierung des Täters nach, beleuchtet rechtsextreme Allianzen zwischen Querdenker*innen und Reichsbürger*innen und verdeutlicht die gefährliche Militanz, die von dieser Szene ausgeht. Die Prozessbeobachtung wurde durch eine Projektförderung der Amadeu Antonio Stiftung ermöglicht.

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Kommentar

US-Wahl: Gewonnen hat der Rechtsextremismus

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