Kritik oder Verschwörungserzählung?
Kritik oder Verschwörungserzählung?
Die Welt ist nicht gerecht. Viele Menschen werden ihr Leben lang diskriminiert oder müssen mit einem viel zu kleinen Einkommen über die Runden kommen. Diese Zustände zu kritisieren und politische Entscheidungen zu hinterfragen ist für das Funktionieren liberaler Demokratien unerlässlich. Auch in der Covid19-Pandemie nachvollziehbar, dass Menschen Kritik an politischen Entscheidungen üben, fehlende wirtschaftlicher Unterstützung für Unmut sorgt und sich große Unsicherheit in der Bevölkerung breit macht. Dennoch gibt es zentrale Unterschiede zwischen legitimer Kritik und Verschwörungsideologien. Aber wie kann man die erkennen?
Wenn du auf die meisten der folgenden Fragen mit “Ja” antwortest, kannst du davon ausgehen, dass sich hinter der vermeintlichen Kritik eine Verschwörungserzählung verbirgt.
Wird ein Weltbild mit klaren Rollen von “gut” und “böse” gezeichnet?
Die Welt ist komplex und lässt sich nicht einfach in “Gut” und “Böse” aufteilen. Wird eine solche Aufteilung vorgenommen, deutet das auf einen Verschwörungserzählung hin.
Wird die Ursache des Problems personalisiert?
Werden zudem einzelne Menschen oder bestimmte Gruppen pauschal zum Feindbild erklärt, hat das mit legitimer Kritik nichts mehr zu tun. Wer „eine kleine Gruppe Mächtiger“ für die Ausbeutung in der Welt verantwortlich macht, personalisiert ein sehr vielschichtiges Problem.
Wird eine einfache Erklärung für eine komplexe Situation angeboten?
Generell ist es immer besser nach Erklärungen als nach Schuldigen zu suchen! Natürlich gibt es für konkrete Probleme auch immer Verantwortliche oder klar benennbare Gründe, wie etwa politische Fehlentscheidungen, die kritisiert werden können und sollten. Aber, ganz wichtig: nicht alle gesellschaftlichen Krisen lassen sich auf konkrete Auslöser oder Verantwortliche reduzieren. Meist erfordert eine komplexe Situation auch eine komplexe Antwort.
Stellt die Kritik grundsätzlich die Frage „Wem nützt es?“
Verschwörungserzählungen beginnen nicht mit der Erklärung, wie bestimmte Entwicklungen gesellschaftlich oder politisch zustande kamen, sondern stellen als erstes die Frage, wem diese Entwicklungen nutzen könnten. Damit machen sie es sich sehr einfach: Denn natürlich fühlt man sich sofort auf der richtigen, auf der “guten” Seite, wenn man einmal durchblickt “was wirklich gespielt wird” und wer von der “Weltverschwörung” profitiert. Zusätzlich verschafft dieses Denken soziale Distinktion: Endlich gehört man zu einem scheinbar kleinen Kreis der Duchblicker*innen, die hinter die Fassade dessen sehen, was uns Normalsterblichen scheinbar vorenthalten wird.
Wird anerkannt, dass die eigene Informationsquelle fehlerhaft sein könnte?
Wenn Menschen Fakten, die ihrer Erzählung widersprechen, gar nicht mehr an sich heranlassen oder schlichtweg umdeuten, bis sie ihre Erzählung bestätigen, wird es gefährlich. Denn auf diese Weise haben Verschwörungserzählungen am Ende immer Recht. Im Zweifelsfall steckt hinter jeder Verschwörung eine neue, größere Verschwörung.
Geht es um Erkenntnisgewinn oder doch darum, die eigenen Argumente zu bestätigen?
Wissenschaft versucht, komplexe Zusammenhänge oder Phänomene zu verstehen. Dazu gehört ergebnisoffenes Arbeiten. Alle Gedankenschritte und Forschungsgrundlagen müssen nachvollziehbar sein, dürfen kritisiert oder widerlegt werden. Wissenschaftler*innen müssen und dürfen sich dabei durchaus auch widersprechen - und sogar ihre Meinung ändern. Zentral ist der Erkenntnisgewinn. Bei einer Pandemie gehört dazu auch häufig das Aushalten von Unwissen und dem Fehlen von bestimmten wissenschaftlichen Erklärungen. Eine Verschwörungserzählung hingegen kennt schon die Antwort, bevor die eigentliche Frage überhaupt gestellt ist. Ihr Ziel ist nicht ein etwaiger Erkenntnisgewinn, sondern die Suche nach Informationen, die das eigene verzerrte Weltbild bestätigen. Die Existenz einer Verschwörung wird nicht zur Debatte gestellt, sondern steht bereits vor jeder Information fest.
Wird durch die Kritik, eine offene demokratische Gesellschaft in Frage stellt?
Verschwörungserzählungen schüren Hass und Gewalt gegen die vermeintlichen „Verschwörer*innen“ und konstruieren widerspruchsfreie Parallelwelten, die einem vermeintlichen Volkswillen entsprechen. Einen solchen Volkswillen gibt es aber nicht; Widersprüche und Meinungsverscheidenheiten auszuhalten ist Grundlage jeder liberalen Demokratie. Unsere Politik lebt von einem Aushandlungsprozess zwischen Individuen und Gruppen mit komplexen und verschiedenen Interessen. Den verhindern zu wollen ist letztendlich antidemokratisch.