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Menschenrechtsarbeit unter schwierigen Bedingungen

Russisch-deutscher Erfahrungsaustausch in Ishewsk - gefördert durch die Amadeu Antonio Stiftung. (Foto: Cultiv e.V.)


In der russischen Stadt Ishewsk trafen sich russische und deutsche Jugendliche, die sich in ihren Ländern für Zivilcourage, die Menschenrechte und gegen Neonazis stark machen. Der Austausch ermöglichte den Teilnehmern wichtige Einblicke in die jeweilige Arbeit und stellte insbesondere für die russischen Jugendlichen eine große Ermutigung dar.

Erschreckende, verstörende Zahlen aus Russland: Für 2007 hat das renommierte Menschenrechtszentrum SOVA dort 653 Opfer rassistischer und rechtsextremer Gewalt registriert. 73 von ihnen leben nicht mehr, weil Neonazis sie erstochen, erschossen oder zu Tode geprügelt haben. Diese Zahlen sind aber wohl nur die Spitze des Eisbergs. Denn in Russland werden rassistische Übergriffe häufig gar nicht gemeldet, selten werden sie von der Polizei oder der Justiz als solche eingestuft. Was dennoch an die Öffentlichkeit gelangt, ist alarmierend genug. Zwei Beispiele: Nachdem 2006 eine Gruppe Rechtsextremer einen antifaschistischen Aktivisten erstochen hatte, wurde die Tat verschwiegen und verharmlost. Eine Mahnwache, die einige engagierte Menschen für das Opfer organisiert hatten, wurde gerichtlich untersagt. Allein im Mai 2009 starben in Russland laut SOVA-Statistik fünf Menschen durch rassistische und rechtsextreme Gewalt.

„Um gegen derartig starke rechtsextreme Strukturen vorzugehen, brauchen wir eine mutige Alternativkultur“, sagt Christian Fröhlich vom cultiv e.V. in Leipzig. Vor dem Hintergrund steigender rechtsextremer Gewalt mit tödlichen Konsequenzen haben sich cultiv und die Initiative „Antifaschistische Aktion Ishewsk“ aus Russland auf Anregung von Lektoren der Robert-Bosch-Stiftung zusammengeschlossen und das Projekt „Alternative Jugendkulturen heute“ ins Leben gerufen. Mitte Juni 2009 diskutierten Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Orenburg, Tomsk, Ishewsk, Moskau und Leipzig über Möglichkeiten für Jugendliche, demokratische, nicht-rechte Alternativkulturen zu etablieren. Das Treffen fand in der 600.000-Einwohner-Stadt Ishewsk in der Region Udmurtien am Ural statt. Die Amadeu Antonio Stiftung hat diesen Austausch unterstützt, um einen Vergleich zur Situation in Deutschland und Russland zu ermöglichen und voneinander zu lernen.

Ein ungewöhnliches Projekt

Heike Schmidt* arbeitet für den cultiv e.V. und erzählt, wie die Projektidee zustande kam. Ein Jahr lang arbeitete sie in Ishewsk als Lektorin und lernte über die Universität Jugendliche kennen, die ein interessantes Projekt auf die Beine gestellt hatten. Einen alternativen Filmclub, der neben Filmen auch Diskussionsveranstaltungen über gesellschaftliche Probleme anbietet, zum Beispiel über Rassismus, Rechtsextremismus und die Situation von Migranten und Obdachlosen. So kam der Gedanke auf, etwas Neues und für die Stadt Ishewsk eher Ungewöhnliches zu versuchen: Ein Basisprojekt, bei dem alle das gleiche Mitspracherecht haben. „Russische Jugendclubs sind in der Regel sehr hierarchisch aufgebaut, das wollten wir aufbrechen“, erklärt Heike Schmidt. „Wir haben uns ganz bewusst für die Provinzstadt Ishewsk entschieden, denn sonst findet fast alles in Moskau statt.“

In vielen Regionen Russlands existiert heute eine Neonazi-Szene, wie es sie in den 1990er Jahren in Ostdeutschland gab: Gewaltbereite, als Nazis sofort erkennbare Skinheads gehören vielerorts zum Straßenbild, Menschen mit dunklerer Hautfarbe trauen sich abends kaum noch nach draußen. Häufige Opfer rechter Gewalt sind Tadschiken, Kaukasier und Schwarze, aber eigentlich muss jeder vorsichtig sein, der durch sein Äußeres oder seine Lebensweise aus dem Rahmen fällt. In ihrer Zeit in Ishewsk lebte Heike Schmidt in einem Studentenwohnheim, und sie erinnert sich noch gut an die Situation ihrer venezulanischen Freunde: „Sie wurden häufig rassistisch angepöbelt, und zwar nicht nur von Neonazis, sondern vor allem von ‚ganz normalen Menschen‘.“ Latenter und offen zutage tretender Rassismus, aber auch Sexismus und Diskriminierung von Schwulen und Lesben seien unglaublich stark in der Mitte der russischen Gesellschaft verankert, erzählt Schmidt. Am allerschlimmsten für sie: Unverhohlener Rassismus ist in Russland salonfähig, und das bei weitem nicht nur bei einfachen Leuten, sondern beispielsweise auch im Umfeld der Universitäten. Political Correctness? Fehlanzeige. „Ich glaube, das hat mich am meisten schockiert“, stellt Schmidt fest. „Auch in Deutschland ist Rassismus ein großes Problem, das sich in der Mitte der Gesellschaft festgesetzt hat – aber dass ich ihm ausgerechnet an der Uni begegnen würde, darüber war ich in Russland wirklich entsetzt.“ Auch antisemitische Äußerungen gehörten an der Hochschule zur Tagesordnung, so Schmidt; viele Menschen teilten die Ansicht, dass Juden keine richtigen Russen seien. Und der Ausspruch „Russland den Russen“ werde von erschreckend vielen Menschen kritiklos übernommen.

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