Immer wieder erfahren Obdachlose Gewalt – die Täter sind oft Rechtsextreme. Begünstigt durch ein gesellschaftliches Leistungsklima, das obdachlose Menschen abwertet, sind die Fälle meist von einer besonderen Grausamkeit und Enthemmtheit gekennzeichnet – und bleiben dennoch weitgehend unsichtbar.
Von Maximilian Honig
Inhaltswarnung: Drastische Gewalt
März 2023: Ein arbeitsloser und von Obdachlosigkeit bedrohter Mann will seine Sorgen loswerden. Er googelt „Gefängnis letzte Rettung“, packt daraufhin ein großes Küchenmesser ein, fährt in das Frankfurter Bahnhofsviertel und verletzt einen obdachlosen Rollstuhlfahrer mit mindestens zehn Stichen in den Rücken so schwer, dass dieser später im Krankenhaus stirbt. Um selbst nicht obdachlos zu werden, tötet der Mann einen Menschen, dessen Leben ihm weniger wert zu sein scheint, als sein eigenes.
Gewalt gegen Obdachlose – eine grausame Realität mit System
Gewalttaten gegen obdachlose Menschen sind keine Einzelfälle, sondern erschreckender Alltag. Das zeigt die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik 2024: 2.194 Straftaten wurden im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit erfasst – so viele wie nie zuvor. Seit Beginn der statistischen Erhebung im Jahr 2011 hat sich die Zahl der Gewalttaten gegen Obdachlose mehr als verdreifacht, wie auch Hinz&Kunzt berichtet. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen.
Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) werden viele Fälle gar nicht angezeigt – aus Misstrauen gegenüber den Behörden oder aus Angst vor Rache. Paul Neupert, Fach- und Organisationsreferent der BAGW, beschreibt in der Zeitschrift „Wohnungslos“, dass Gewalt gegen obdachlose Menschen Alltag ist: Bedrohungen, Demütigungen, Erpressung, Schläge, Tritte, Vergewaltigungen, Brandanschläge im Schlaf, Folter und sogar Mord.
Allein im Jahr 2025 wurden bereits mehrere grausame Fälle dokumentiert:
- Am 4. Januar prügeln drei Jugendliche in Rostock einen obdachlosen Mann krankenhausreif.
- Im Februar tritt ein Zehntklässler mit massiver Brutalität auf einen am Boden liegenden Obdachlosen ein – mindestens achtmal, teils mit Anlauf.
- Anfang März wird ein schlafender Obdachloser in Göttingen so schwer attackiert, dass er Knochenbrüche erleidet.
- Anfang April werfen Unbekannte in Berlin-Friedrichshain einen Obdachlosen in die Spree.
Diskriminierung beginnt lange vor der körperlichen Gewalt
Die Gewalt beginnt nicht erst bei körperlichen Angriffen. Schon die Verdrängung aus dem öffentlichen Raum oder der Ausschluss von öffentlicher Infrastruktur sind laut BAGW Formen der Gewalt gegen Obdachlose. Diese strukturelle Ausgrenzung basiert auf tief verankerter Obdachlosenfeindlichkeit – einer gesellschaftlich akzeptierten Diskriminierung.
Dabei ist „wohnungslos“ ein weiter gefasster Begriff als „obdachlos“. Wohnungslose haben keinen eigenen Wohnraum, leben jedoch mitunter in Notunterkünften. Obdachlose hingegen verbringen ihre Nächte im Freien – oft aus Angst oder Scham, ihre Situation öffentlich zu machen.
Zwar übt ein Teil der Täter*innen selbst Gewalt im Kontext von Wohnungslosigkeit aus – etwa bei Konflikten um Ressourcen (BAGW) –, doch das gesellschaftliche Klima spielt eine zentrale Rolle. In der aktuellen Mitte-Studie 2022/23 der Friedrich-Ebert-Stiftung geben rund 20 % der Befragten an, Obdachlose sollten aus Innenstädten entfernt werden – damit man sie „nicht sehen muss“.
Der Fall Horst Hennersdorf: Ein erschütterndes Beispiel
Wie entmenschlichend sich diese Haltung äußern kann, zeigt der Mord an Horst Hennersdorf in Fürstenwalde/Spree im Jahr 1993. Zwei jugendliche Skinheads quälten den Obdachlosen stundenlang, traten und schlugen ihn, warfen Möbel auf ihn, urinierten auf ihn und übergossen ihn mit Fäkalien. Zwei Frauen beobachteten die Tat, griffen jedoch nicht ein. Einer der Täter erklärte später, das Opfer habe für ihn „wie ein dreckiger Penner“ gewirkt – eine Aussage, die tief ins rechtsextreme und sozialdarwinistische Denken blicken lässt.
Obdachlosenfeindlichkeit – eng verknüpft mit Rechtsextremismus
Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt typische Merkmale der Gewalt gegen Obdachlose: Häufig von jungen Männern verübt, situativ eskalierend, enthemmt brutal – und häufig mit rechtsextremen Tatmotiven. Dennoch wird genau dieses Motiv bei Obdachlosen besonders oft ignoriert.
Eine Langzeitstudie der Universität Bielefeld von 2002 bis 2012 ordnet Obdachlosenfeindlichkeit dem Syndrom „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ zu. Menschen, die Obdachlose abwerten, tendieren dazu, auch anderen Gruppen wie Geflüchteten oder Menschen mit Behinderung Gleichwertigkeit abzusprechen. Die Ursache liegt oft in sozialdarwinistischen Weltbildern: Wer nicht leistungsfähig ist, gilt als „weniger wert“.
Gewalt gegen Obdachlose hat historische Wurzeln
Diese Denkweise hat eine lange Geschichte. Schon im Mittelalter wurde zwischen „wahren“ und „unwahren“ Armen unterschieden – je nachdem, ob jemand „arbeitswillig“ war. Seit dem 17. Jahrhundert dienten Wohnsitz und Arbeit als Ordnungskriterien. In der Kaiserzeit galten obdachlose Männer als „Vagabunden“ oder „Landstreicher“, obdachlose Frauen als „gefallene Mädchen“ – oft gleichgesetzt mit Prostituierten (Quelle zur Geschichte).
Auch heute noch ist das Stigma groß. Laut der Langzeitstudie der Uni Bielefeld glaubten im Jahr 2010 rund 28 Prozent der Befragten, Obdachlose seien „arbeitsscheu“. Diese Sichtweise geht einher mit einem sozialdarwinistischen Weltbild, das Armut als persönliches Versagen betrachtet – ein Bild, das auch in der Leistungsgesellschaft tief verankert ist.
Gewalt gegen Obdachlose bleibt unsichtbar
In den 1990er-Jahren, den sogenannten Baseballschlägerjahren nach der Wiedervereinigung, kam es immer wieder zu Gewalttaten gegen obdachlose Menschen. Obwohl die Täter häufig rechtsextrem waren, wurden diese Angriffe lange Zeit nicht als politisch motivierte Gewalt eingestuft. So erging es auch Jürgen S., der – wie zuvor Bernd Schmidt – am 9. Juli 2000 in einem Abrisshaus in Wismar zu Tode misshandelt wurde. Trotz rechtsextremer Tätowierungen bei den Tätern erkannte das Gericht kein politisches Motiv an: Aus den Tätowierungen könne nicht zweifelsfrei auf die Gesinnung geschlossen werden, so die Begründung des Richters.
Dass Gewalt gegen Obdachlose auch heute noch weitgehend im Verborgenen bleibt, liegt nicht zuletzt daran, dass Betroffene nach wie vor nur über ein vergleichsweise kleines politisches Unterstützungsnetzwerk verfügen. Lediglich die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) engagiert sich dauerhaft für ihre Belange. Sie fordert von der Politik die Förderung präventiver und nachsorgender Konzepte, eine stärkere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt gegen wohnungslose Menschen – sowie eine konsequente Strafverfolgung der Täter*innen.
Ein Beispiel für ein solches Strafmaß: Der Täter aus dem Frankfurter Bahnhofsviertel wurde am 25. April 2025 zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Dunkelziffer derartiger Gewalttaten dürfte seitdem jedoch weiter gestiegen sein.