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Reportage: Generation Lichtenhagen

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Rostock-Lichtenhagen, 22. August 1992: Ein rassistischer Mob steht vor dem Haus mit den Sonnenblumen – grölend und gewaltbereit. Dort liegt die ZAst, die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber, die seit Wochen überfüllt ist. Rund 200 Menschen, vor allem Sinti* und Roma*, müssen auf der Wiese davor ausharren – ohne Sanitäranlagen und Versorgung, ohne Menschenwürde.

 

Die Eskalation kommt mit Ansage: Die Landesregierung nimmt die Zustände vor Ort strategisch in Kauf. In der Lokalpresse wird seit Wochen die Stimmung gegen die dortigen Geflüchteten angeheizt. „Am Wochenende räumen wir das Lichtenhäger Asylbewerberheim auf. Das wird eine heiße Nacht“ – anonyme Drohungen wie diese werden unkritisch in beiden Rostocker Tageszeitungen abgedruckt. Auf die Ankündigungen folgen schnell Taten: Geflüchtete werden angepöbelt und geschlagen, ein Polizeiauto wird angezündet. Nach zwei Tagen, am 24. August, wird die ZAst evakuiert. Aber der Mob ist noch nicht fertig.

Im zehngeschossigen Plattenbau in der Mecklenburger Allee befindet sich auch ein Wohnheim für ehemalige DDR-Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam, das schnell zur Zielscheibe wird. Inzwischen verstärken mehrere hundert angereiste Neonazis den lokalen rassistischen Mob. Aus der Menge werden Steine und Molotow-Cocktails durch die Fenster geworfen. Sie zeigen den Hitlergruß, brüllen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Tausende Anwohner*innen feuern die Gewalttäter an. Vor dem Haus: Applaus und Jubelschreie. Drinnen fürchten Menschen um ihr Leben. Das Sonnenblumenhaus wird umzingelt, die Einsätze der Feuerwehr verhindert. Mehr als 120 Menschen müssen sich über das Dach des Gebäudes retten. Zeitweise zieht sich die Polizei ganz zurück. Eine Kapitulation.

 

Die Szenen vor dem Sonnenblumenhaus gehen um die Welt. Und sie liefern den Auftakt für eine brutale Welle rassistischer, rechtsextremer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland. In den Wochen nach den Ausschreitungen in Lichtenhagen werden alleine in Mecklenburg-Vorpommern zehn Asylbewerberheime angegriffen – zum Teil mehrfach. Bundesweit werden unzählige rechtsextreme Angriffe auf Geflüchtete und Ausländer gemeldet: Allein für das Jahr 1992 zählt der Verfassungsschutz 722 rassistisch motivierte Brand- und Sprengstoffanschläge. Es ist eine Zeit, in der Rechtsextreme in mehr und mehr Regionen im Osten Deutschlands Fuß fassen können: Sie schüchtern politische Gegner*innen ein, schaffen ein Klima der Angst. Eine Zeit, die später als „Baseballschlägerjahre“ in die Geschichte eingehen wird.

30 Jahre nach den Pogromen in Lichtenhagen trinkt Vu Duc Thai einen Kaffee in der Rostocker Innenstadt und will seine Geschichte erzählen. 1984, damals 21 Jahre alt, zieht er von Haiphong in Nordvietnam nach Rostock in der DDR – von einer Hafenstadt in eine andere. Seine ersten Jahre dort verbringt er im Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen, damals ein begehrter Vorzeigestadtteil mit Fernwärme und Innenklos. „Es war nicht schlecht“, erinnert sich Thai, heute Ende 50, an seine Zeit im Plattenbau. „Ich habe mit meinen Freunden gelebt.“

Vu Duc Thai: 1984 zieht er von Haiphong nach Rostock, von einer Hafenstadt in die andere. (Foto: Nicholas Potter)

„Sie marschierten durch die Stadt, brüllten ihre Parolen, machten Sachen kaputt“

Thai arbeitet zunächst im Chemie-Hafen, später als Kranfahrer. Mit seinen deutschen Kollegen damals auf der Baustelle habe er sich gut verstanden, mit manchen sei er bis heute noch befreundet. Doch nicht alle Vertragsarbeiter*innen waren so glücklich: Sie lebten streng getrennt vom Rest der Gesellschaft, die Arbeit war körperlich schwer, die Bezahlung gering. Manche kämpfen bis heute noch um ihre Löhne von damals. Anderen droht immer noch die Abschiebung.

 

Als die Mauer fällt, leben rund 90.000 ausländische Vertragsarbeiter*innen in der DDR – etwa zwei Drittel von ihnen aus Vietnam. Nach der Wende ist ihr Status ungewiss. „Alle waren unsicher“, erzählt Thai. „Wir wussten nicht, wie unsere Zukunft aussieht“. Nach der Wiedervereinigung versucht die Bundesregierung, sie in ihre Heimatländer zurückzuschicken – größtenteils ohne Erfolg. Thai ist wie viele Vietnames*innen in Deutschland geblieben, zunächst mit einer Duldung, später mit Aufenthaltstitel. „Jeder musste eine Arbeit finden“, sagt er. Thai wird in der Gastronomie fündig, heute betreibt er einen Sushi-Laden. Nach dem Mauerfall erlebt Thai auch Neonazis und Skinheads: „Sie marschierten durch die Stadt, brüllten ihre Parolen, machten Sachen kaputt.“

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Er habe Angst gehabt. „Es war schrecklich“. Ein trauriger Höhepunkt wird im August 1992 vor dem Sonnenblumenhaus erreicht, seinem einstigen Zuhause.

 

Als das Sonnenblumenhaus in Flammen steht, wohnt Thai in Evershagen – zwei S-Bahnstationen von Lichtenhagen entfernt. Im Fernsehen sieht er die Bilder vom brennenden Wohnblock, am nächsten Tag muss seine Frau auf dem Weg zur Arbeit an der verkohlten Fassade vorbeifahren.

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In der vietnamesischen Community ist das rassistische Pogrom schnell in aller Munde. „Es war schrecklich, überraschend“, sagt Thai heute. „Das hätten wir nie gedacht„. Als er abends rausgegangen sei, habe er ein mulmiges Gefühl gehabt. „Ich dachte: Das ist nicht normal. Man muss auf sich aufpassen“.

 

Thai fragt sich oft, wo die Neonazis von damals heute sind, was sie machen. 215 Ermittlungsverfahren wurden nach den Ausschreitungen in Lichtenhagen eingeleitet. Doch strafrechtliche Konsequenzen gab es für die wenigsten Täter, aus Mangel an Beweisen oder wegen geringer Schwere der Schuld.

 

Damit ist Rostock-Lichtenhagen kein Einzelfall. In den 1990er Jahren konnten rechtsextreme Täter damit rechnen, auch mit schwersten Straftaten davonzukommen. Ein Umstand, der das Selbstbewusstsein der Szene nachhaltig prägte und verheerende Konsequenzen hatte. In der aufgeheizten Stimmung dieses Jahrzehnts radikalisierte sich auch das Kerntrio des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). Zwölf Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, am 25. Februar 2004, ermordeten die Rechtsterroristen in der Hansestadt Mehmet Turgut.

„Die Kapitulation vor dem rechtsextremen Mob auf der Straße hat die Nazis gestärkt“

Das politische Erbe des Pogroms von Rostock wirkt bis heute fort. 1993 wurde das Asylrecht fundamental geändert: Die Drittstaatenregelung und die Einführung sicherer Herkunftsländer schafften das Grundrecht auf Asyl faktisch ab. Rostock-Lichtenhagen war nicht der alleinige Grund für diese folgenschwere Gesetzesänderung. Aber das Pogrom war zugleich Ausdruck und Katalysator einer rassistisch aufgeladenen Debatte um Migration. Und für die extreme Rechte ein großer Erfolg.

 

„Das damalige Versagen des Rechtsstaats und die Kapitulation vor dem rechtsextremen Mob auf der Straße hat die Nazis gestärkt“, sagt Herbert Heuß, wissenschaftlicher Leiter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Die allermeisten Sinti* und Roma*, die in der ZAst untergebracht waren, wurden abgeschoben. Und die Community in Deutschland ist bis heute massive antiziganistischer Diskriminierung ausgesetzt. Heuß warnt, dass es angesichts drohender Krisen nur eine Frage der Zeit sei, bis neue Sundenböcke gesucht würden – „und die ohnehin tiefverwurzelte Ablehnung von Sinti und Roma wieder virulent wird“.

Heute, 30 Jahre später, ist das Sonnenblumenhaus ein auffällig ruhiger Ort. Auf der Wiese, wo einst der rassistische Mob stand, sind heute Supermärkte, eine Drogerie und ein Baumarkt. Auf der anderen Seite des Plattenbaus wachsen echte Sonnenblumen, eine Blumenwiese „für alle“, so heißt es auf einem Schild. Eine Gedenktafel sucht man allerdings vergeblich.

 

Von den Anwohner*innen kommen gemischte Reaktionen, fragt man sie heute nach dem Pogrom von damals. Einige winken direkt ab: Schon wieder ein Jahrestag, schon wieder neugierige Reporter*innen vor ihrer Tür. Jugendliche antworten mit Schulterzucken und Kopfschütteln: Von den massivsten rassistischen Ausschreitungen der bundesdeutschen Geschichte haben sie noch nie gehört.

 

„War das das mit diesen Ausländern? Dass sie das Stockwerk angezündet haben, dass sie verbrennen sollten?“, fragt eine Frau Ende 50 im Rollstuhl. Darüber habe sie sehr geweint. Eine rüstige Rentnerin mit Einkaufstaschen, die damals im Sonnenblumenhaus wohnte, sagt: „Ich war fassungslos. Wir haben hier doch lange so friedlich miteinander gelebt“. Heute ist sie 80 und wohnt immer noch hier. Auch ein 64-Jähriger in Handwerkermontur auf dem Weg in den Feierabend kann sich gut daran erinnern: Er sei damals dort gewesen, habe sich angeschaut, was da los war.

 

Aber dann wurde es ihm zu viel, als die Krawalle losgingen. „Schlimm war das“, sagt der Mann, der bis heute im Sonnenblumenhaus wohnt. Die meisten Schaulustigen wie er hätten das nicht gut gefunden, behauptet er.

 

Der wütende Mob, die brennende Unterkunft – wie Vu Duc Thai erfuhr auch Nguyen Duy Long damals aus dem Fernsehen, was in Lichtenhagen passierte. Heute hat er vor allem eine Frage: „Warum? Warum hat man das gemacht?“. Auch Long ist 1984 aus Vietnam nach Rostock gezogen. Das Sonnenblumenhaus kennt der inzwischen 72-Jährige aus erster Hand: Dort arbeitete er in den 1980ern mehrere Jahre als Dolmetscher für die vietnamesische Community.

„Ich bleibe hier, das ist mein Zuhause“

Vorsitzender von Diên Hông: Nguyen Duy Long (Foto: Nicholas Potter)

Long redet sanft, bedacht. Er erinnert sich, wie die Vietnames*innen in Bussen aus der Stadt gebracht wurden, eskortiert von der Polizei. Die Atmosphäre damals sei sehr aggressiv gewesen, so Long. „Diese Ereignisse werden wir nie vergessen.“ Doch seine Kritik – am Staat, an der Polizei, den Deutschen – bleibt zurückhaltend. Er freut sich, dass zum 30. Jahrestag des Pogroms Bundespräsident Steinmeier eine Rede halten wird.

 

Seit elf Jahren ist Long Vorsitzender von Diên Hông – ein Verein, der nur zwei Monate nach dem Pogrom in Lichtenhagen von Vietnames*innen gegründet wurde. Damit wollten sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, durch Beratungsangebote und Begegnungen mit Einheimischen. Ein Akt der Selbstermächtigung. Heute befördert Diên Hông die soziale Integration von Zuwanderer*innen und unterstützt durch Kurse und Dolmetscher*innen mit der deutschen Sprache. Ein Bezug zu Vietnam hat der Verein bis heute, inzwischen ist er aber auch eine wichtige Anlaufstelle für Migrant*innen jeglicher Herkunft aus ganz Mecklenburg-Vorpommern.

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Der Name Diên Hông hat eine kämpferische Konnotation: Der Begriff stammt aus der Zeit der chinesischen Fremdherrschaft in Vietnam und bezeichnet einen Kongress, bei dem sich Vietnames*innen zusammenfanden, um sich zu organisieren. Damals entschieden sie sich für den Kampf gegen China. Auch nach dem rassistischen Pogrom in Lichtenhagen waren Vietnames*innen mit einer Frage konfrontiert: Kann ich hier bleiben, und wenn ja, wie? Sie beschlossen, um ihren Platz in der Gesellschaft zu kämpfen. „Ich bleibe hier“, sagt auch Long entschlossen, „das ist mein Zuhause“.

 

Ob man auch heute noch kämpfen muss? „Ja, natürlich“, erwidert Long. „Man muss immer noch kämpfen gegen Rassismus“. Susanne Düskau, ebenfalls Vorstandsmitglied von Diên Hông, ergänzt: „Es heißt so oft, heute sind wir ja vielfältig und bunt. Für uns ist es aber wichtig, hinter die Kulissen zu schauen, hinter diese Weltoffenheit und Willkommenskultur, von der man gerne spricht“, sagt die 45-Jährige. „Wir wollen schauen, wo begegnet uns Rassismus heute und in welcher Form?“

 

Eine wichtige Frage. Denn die Bilanz nach 30 Jahren ist ernüchternd, nicht nur wegen der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl damals. Rassistische Gewalt dauert in Deutschland bis heute an. Die Amadeu Antonio Stiftung zählt inzwischen 213 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990. Und die Szenen vor dem Sonnenblumenhaus spiegelten sich während des sogenannten „Flüchtlingssommers“ 2015 wider, als in Orten wie Heidenau, Freital und Clausnitz schon wieder „besorgte Bürger“ vor brennenden Flüchtlingsunterkünften stand, grölend und gewaltbereit. Der Mob ist noch nicht fertig.

Mehr zum Thema finden Sie in unserem Dossier "30 Jahre Rostock-Lichtenhagen".

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