Ein Jahr nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023. Immer noch über hundert Geiseln in den Händen von Terroristen. In Gaza tobt Krieg, aus dem Libanon und dem Iran wird Israel mit Raketen beschossen. Währenddessen wird jüdisches Leben in Deutschland, Europa und dem Rest der Welt massiv bedroht. Angriffe, Schmierereien, Drohkulissen auf den Straßen. Was heißt das ganz praktisch, was ist im letzten Jahr passiert und wie geht es jetzt weiter? Was tun gegen Antisemitismus nach dem 7. Oktober? Darum geht es in [tacheles_3].
Der Gazakrieg ist in den Klassenzimmern angekommen und stellt nach dem 7. Oktober die antisemitismuskritische Bildungsarbeit vor neue Aufgaben. Djina Krecic leitet die Beratungs- und Praxisstelle ju:an der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin. Die steht allen Multiplikator*innen im Sozialarbeits- und Bildungsbereich, Fachkräften, Pädagog*innen und Bildner*innen im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus mit fachlicher Beratung und Unterstützung in Form von Fortbildungen, Austauschforen und präventiver Intervention zur Seite.
Für [tacheles_3] haben wir mit Djina Krecic über das politische Klima seit dem 07. Oktober, Geschichtsvergessenheit und neue Ansprüche an die Bildungsarbeit gesprochen.
Belltower.News: Am 7. Oktober jährt sich das antisemitische Massaker der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel. Welche Veränderungen nehmt ihr in eurer Arbeit wahr? Wie blickt ihr auf das politisch-gesellschaftliche Klima in der Republik?
Djina Krecic: Was sich in der Bildungsarbeit seit einem Jahr verändert hat, ist repräsentativ für die Zivilgesellschaft. Verbreitete, wahrhaftige Solidarität mit Jüdinnen*Juden in Verbindung mit einer antisemitismuskritischen Haltung suchte man bereits vor dem 7.10. vergeblich, aber die Diskussionskultur war eine andere. Seit dem Massaker der Hamas erleben wir vergiftete Debatten in Reinform, getrieben durch eine bewusst herbeigeführte Polarisierung. Die Qualität der Grausamkeit, der genozidale Charakter des 7.10. ist von vielen nicht angenommen worden. Auf institutioneller Ebene wird zwar immer von „Staatsräson“ gesprochen, aber was das konkret in der Praxis bedeuten soll, kommt bei den Menschen in der Bildungs- und Präventionsarbeit gegen Antisemitismus kaum an.
Wie müsste eine nachvollziehbare, mit Leben gefüllte Staatsräson aussehen?
Staatsräson meint, dass es bestimmte Grundsätze gibt, die nicht verhandelbar sind, angefangen bei der Anerkennung der Existenz des einzigen jüdischen Staates. Dass diese Existenz noch immer infrage gestellt wird, ist auch ein Produkt der politisch linken Traditionslinie der sozialen Arbeit und vielen in der DDR sozialisierten Menschen, wo eine antiisraelische Haltung als staatstragend galt. Antisemitismus ist das hartnäckigste Ungleichheitsphänomen in Deutschland und Europa. Dem entgegenzuarbeiten, sollte den Kern von Bildungsarbeit ausmachen.
Ignatz Bubis, der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, formulierte kurz vor seinem Tod resigniert, er habe durch seine Arbeit nichts erreicht, in Deutschland sei ein Jude noch immer kein Deutscher. Was kann Bildungs- und Jugendarbeit gegen grassierenden Antisemitismus bewirken?
Es fehlt nicht nur an Bildung, sondern auch an Haltung und Empathie. Obwohl Bildung nicht per se vor -Ismen schützt, sollte eine umfassende Vermittlung der Historie und verschiedener Erscheinungsformen des Antisemitismus für Fachkräfte nicht aufgegeben werden.
Wieso leisten Lehrer*innen zwar bei Rassismus Gegenrede und Aufklärung, verkennen aber Antisemitismus und lassen ihn unwidersprochen? Ein Zeichen pädagogischer Ohnmacht oder Ignoranz?
Ich kann nicht erkennen, dass es mit Rassismus einen ehrlichen, um Aufklärung bemühten Umgang in den Schulen geben würde. In Relation zum pädagogischen Umgang mit Antisemitismus scheinen die Reaktionen auf schulischen Rassismus bloß oberflächlich betrachtet weniger verheerend. Es herrscht noch immer ein großes Unbehagen, sich mit Antisemitismuskritik und Post-Shoah-Mentalitäten auseinanderzusetzen. Sowohl bei Antisemitismus als auch bei Rassismus fehlt in der Regel die Betroffenenperspektive.
Welche Wege müsste man gehen, um diesem Unbehagen entgegenzuarbeiten?
Der bisherige Konsens der Freiwilligkeit ist gescheitert. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus darf nicht von individuellen Befindlichkeiten abhängig gemacht werden, bloß weil sich einige aus einer fehlgeleiteten antiautoritären Haltung heraus gegen jegliche Vorgaben und Regularien von oben wenden. Es kann nicht sein, dass diese Thematik im Laufe eines Lehramtsstudiums nicht vorkommt. Hier braucht es Verpflichtung in Form prozessorientierter, kontinuierlicher Workshops. Indifferentes Wegschauen und Ausblenden können wir uns als Gesellschaft nicht leisten. So abgedroschen es klingen mag, an erster Stelle braucht es noch immer Wissensvermittlung über die Geschichte des Antisemitismus, Israels und des Nahostkonfliktes sowie eine realitätsnahe Abbildung jüdischen Lebens in Deutschland. Neben der Wissensvermittlung sollte die Betroffenenperspektive in den Blick genommen werden. Antisemitismus- und rassismuskritische Arbeit ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Betroffenen nicht in den Blick genommen werden und eine Stimme erhalten.
Wie sieht die Zukunft der Arbeit von ju:an aus, in einer Gesellschaft mit antisemitischen Höchstständen, einem zunehmenden Islamismus und dem Höhenflug der rechtsextremen AfD? Welche Unterstützung braucht es von Seiten der Politik und der Zivilgesellschaft?
In erster Linie fehlt es noch immer an Geld und Personal. Bei ju:an arbeiten wir bloß zu viert, zeitintensiv und prekär. Die durch den Staat geleistete Finanzierung ist immer nur auf ein Jahr begrenzt, was unsere Arbeit längerfristig erschwert. Wir können das alles gar nicht auffangen, was wir kritisieren. Es offenbart sich jedoch auch ein spürbarer Mangel an Bereitschaft zum offenen, kritischen Gespräch von Seiten der Fachkräfte und Sozialarbeiter*innen mit Beratungsstellen wie ju:an. Von Seiten der Politik wünsche ich mir klare, eindeutigere Vorgaben im Umgang mit Antisemitismus und Rassismus, um Betroffene zu schützen, die sich in Folge auf unterzeichnete Verpflichtungen berufen und deren konsequente Einhaltung und Umsetzung einfordern können. Die Idee der Freiwilligkeit empfand ich immer als selbstgerechten Mythos.