Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Westdeutschland war von Beginn an widersprüchlich. Symbolische Momente wie Brandts Kniefall oder Weizsäckers „Tag der Befreiung“ konnten den tief verwurzelten Antisemitismus nicht nachhaltig überwinden.
von Alissa Weiße
Ralph Giordano schrieb 1987: „Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945.” Der Shoah-Überlebende Giordano formulierte so in seinem Buch “Die zweite Schuld oder von der Last, ein Deutscher zu sein” letztendlich den Anspruch an und zugleich den Zustand der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Denn die Bemühung um eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen ist seit dem Kriegsende von gesellschaftlichen Debatten und politischen Kontroversen geprägt.
Heute zeigt sich die inkonsistente und zugleich mangelnde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit stärker denn je: 80 Jahre nach Kriegsende und zwei Jahre nach dem 7. Oktober grassiert Antisemitismus. Angriffe auf Jüdinnen und Juden, jüdische Einrichtungen, Gedenkstätte sowie Holocaustrelativierung und Befeuerung der Schlussstrichdebatte durch Politiker*innen gehören zum deutschen Alltag.
Wie konnte es dazu kommen?
Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Für überlebende Jüdinnen und Juden bedeutete die Niederlage das Ende der staatlich organisierten Verfolgung und des systematischen Massenmords. Für die Deutschen begann damit der Prozess der Demokratisierung durch die Siegermächte. Die Alliierten betrachteten die Entnazifizierung der Deutschen nach 1945 als zentrale Voraussetzung für den Aufbau eines demokratischen Staates. Doch das Vornehmen stieß bei vielen auf Unverständnis: Sie wurde als ungerecht, willkürlich und demütigend wahrgenommen, viele sahen sich schlicht als ‘Opfer’ der Nationalsozialisten. Heute wird das Gesamtkonzept der Entnazifizierung, beispielsweise die Übernahme ganzer NS-Verwaltungsapparate samt Personal, als unvollständiger und oberflächlicher Versuch stark kritisiert.
Die viel beschworene Idee einer Stunde Null, eines Neustarts der postnazistischen deutschen Gesellschaft, scheiterte. Das zeigt auch: Bereits im Sommer 1945 kam es zu Grabschändungen jüdischer Friedhöfe, 1949 drückte die Süddeutsche Zeitung einen antisemitischen Leserbrief ab. 1950 wurde ein Ehrenmal für jüdische Opfer des Faschismus in Berlin geschändet. Anstelle von Aufarbeitung traten Schweigen, Beschönigung und Tabuisierung – oft bis heute.
Zwar wurde der Holocaust juristisch im Rahmen der Nürnberger Prozesse (1949) und weiterer NS-Prozesse behandelt, gesellschaftlich und politisch aber weitestgehend verdrängt. Nach 1945 dominierte zunächst das Bedürfnis nach „Normalisierung“ und wirtschaftlichem Wiederaufbau.
Unter diesen Aspekten sollte auch die diplomatische Annäherung der BRD unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949-1963) mit dem 1948 gegründeten Staat Israel betrachtet werden. Adenauer initiierte das von jüdischer Seite kritisierte Luxemburger Abkommen (auch Wiedergutmachungsabkommen), das unter anderem er und der damalige israelische Außenminister Moshe Sharett am 10. September 1952 unterzeichneten. Damit verpflichtete sich die BRD zu Entschädigungszahlungen sowie -leistungen und übernahm somit das erste Mal offiziell Verantwortung an der Shoah. Kritiker:innen argumentieren, dass weder das jüdische Leid während des NS mit Geld abgegolten noch “wiedergutgemacht” werden könne.
Unabhängig von der Kritik ist Adenauers Motivation weitaus differenzierter zu betrachten. Er setzte sich vor allem aus außenpolitischen Gründen für stabile Beziehungen zu Israel ein, da die Westintegration und die Verbesserung des internationalen Ansehens Deutschlands Priorität gegenüber der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen hatten.
Denn beispielsweise spielte die Erinnerung an die Opfer des Holocaust im öffentlichen Diskurs der BRD eine marginale Rolle. Opfergruppen kämpften jahrzehntelang um Anerkennung und Entschädigung. Währenddessen standen die eigene Leidensgeschichte im Krieg sowie deutsche Fluchtgeschichten im Vordergrund. Dabei wurden Täterbiographien zu Opfergeschichten umgestaltet.
Kontroversen um Verantwortung
Mit der Studentenbewegung der 1960er Jahre wurde erstmals eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit eingefordert. Die sogenannten 68er warfen der Elterngeneration Mitverantwortung, Schweigen und unzureichende Aufarbeitung vor. Impulse für die neue Sensibilität lieferten auch der Prozess gegen SS-Funktionär Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem, sowie die Frankfurter Auschwitzprozesse ab 1963. Eichmanns Flucht über die sogenannten Rattenlinien (Fluchtrouten, die NS-Funktionäre in sympathisierende Länder führten) nach Argentinien, sein dortiges unbehelligtes Leben unter falschen Namen und die letztendliche Verhaftung durch den Mossad stehen beispielhaft für das Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz.
Die Proteste gegen das Schweigen der Tätergeneration, das politische Establishment und die personellen NS-Kontinuitäten im Staatsapparat führten zu einer öffentlichen Debatte, die den Holocaust endlich als zentrales Thema behandeln sollte. Dennoch blieb die Holocaust-Aufarbeitung auch in den Folgejahren von gesellschaftlichen Debatten geprägt und umkämpft.
Am 7. Dezember 1970 fiel der damalige Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal zum Gedenken an den Aufstand im jüdischen Ghetto 1943 in Warschau auf die Knie. Die Fotos gingen um die Welt. In seinen Memoiren (1976) beschreibt Brandt den Kniefall als “nicht geplant”. Es war der erste Besuch eines Bundeskanzlers in Polen nach 1945.
Die Geste wurde als Ausdruck von Demut und Anerkennung der deutschen Schuld wahrgenommen – ausgehend von der Staatsspitze. Dennoch waren hier die Forderungen der Studierendenbewegung und der daraus entstandene Druck vorangegangen. Während die 68er die Geste begrüßten, empfand die breite Gesellschaft den Kniefall als übertrieben. Reaktionen, die zeigen, dass die Forderung nach einer breiten Aufarbeitung der NS-Verbrechen kein gesellschaftlicher Konsens war.
Die Gnade der späten Geburt?
Der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl bemühte sich während seiner Amtszeit (1982-1998) um eine “Normalisierung” der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit. Er strebte die Fokussierung auf die positive Entwicklung Nachkriegsdeutschland als Wirtschaftsmacht an, weg von der Last des Nationalsozialismus. Kohl wurde im Zuge dessen bekannt für den Ausdruck der “Gnade der späten Geburt”: Deutsche, die nach 1930 geboren waren, können aufgrund ihres Alters während der NS-Zeit nicht schuldig als Täter oder Mittäter geworden sein.
Das Schlagwort wurde stark kritisiert. Denn es bietet eine Legitimierung für einen unbefangenen Umgang der Nachkriegsgenerationen mit der NS-Vergangenheit, anstatt eine kontinuierliche Verantwortung zur Aufarbeitung und Erinnerung zu fördern. Kohl verwendete den Ausdruck erstmals im Januar 1984 bei einer Rede in der Knesset (Jerusalem). Mehrere israelische Abgeordnete verließen daraufhin den Raum.
Ein Jahr später, im Mai 1985 zu Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, besuchte der damalige US-Präsident Ronald Reagan die BRD. Teil des Programms war auch der Besuch des Soldatenfriedhofs Bitburg am 5. Mai 1985. Kohl strebte dort eine symbolhafte Versöhnung der beiden ehemaligen Kriegsgegner an.
Was während der Planung ignoriert oder unbekannt war: Neben Wehrmachtssoldaten wurden auch SS-Soldaten auf dem Friedhof bestattet. Der Besuch wurde dadurch bereits im Vornherein international stark kritisiert und protestiert, insbesondere von jüdischen Organisationen und Holocaust-Überlebenden. Sie betrachteten den Besuch des Soldatenfriedhofs als eine Schuld-Relativierung sowie explizit die Kranzniederlegung Reagans als eine Verharmlosung der NS-Verbrechen. Elie Wiesel, Shoah-Überlebender und Autor, wandte sich noch vor der Reise in einer Rede direkt an Ronald Reagan: “Dieser Ort, Herr Präsident, ist nicht ihr Ort. Ihr Platz ist mit den Opfern der SS.” (dt. Übersetzung). Ein kurzfristig ergänzter Besuch in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen konnte die Kritik zwar etwas abmildern, wurde dennoch als eine Alibihandlung gesehen.
Am Jahrestag 1985 selbst hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede, die geprägt war von der vorangegangenen Bitburg-Kontroverse. Er bezeichnete den 8. Mai erstmals offiziell als„ der Befreiung“ vom Nationalsozialismus – nicht mehr als lediglich Niederlage der Wehrmacht – und betonte damit die Priorität eines verantwortungsbewussten Erinnerns. Weizsäcker unterstrich, dass die Erinnerung an die Shoah zum Bestandteil der deutschen Identität werden müsse. Die Rede führte den 8. Mai als “Tag der Befreiung” in das öffentliche Bewusstsein.
Doch ein Tag der Befreiung war der 8. Mai 1945 nicht. Der Begriff der Befreiung suggeriert, dass die Deutschen Opfer des Nationalsozialismus waren und entbindet sie wiederum von einer moralischen Verantwortung. Von der zweiten Schuld, wie es Giordano formulieren würde. Der 8. Mai markiert die Niederlage des Nationalsozialismus.
Die Geschichte der Shoah-Aufarbeitung in der BRD ist auch eine Geschichte der politischen Instrumentalisierung. Konservative Bundeskanzler wie Kohl setzten auf symbolische Gesten oder wie Adenauer auf außenpolitische Pragmatik. Letztendlich befeuerte Kohls Ausrichtung die Schlussstrichdebatte und begünstigte Schuldabwehr-Antisemitismus. Auf der anderen Seite forderten linke und sozialdemokratische Akteure eine kontinuierliche, kritische Erinnerung.
Die deutsche Erinnerungskultur hat sich seit den 1980er Jahren stark gewandelt. Gedenkstätten, Bildungsprogramme und Gedenktage sind heute fester Bestandteil der politischen Kultur. Zwar gibt es den Anspruch, doch die Umsetzung ist mangelhaft: Antisemitische Vorfälle, Holocaustrelativierungen und das stetige Erstarken antisemitischer Kräfte zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nie abgeschlossen ist – und auch nie sein darf.