Wo 1942 die „Endlösung der Judenfrage“ organisiert wurde, treffen nach dem Zweiten Weltkrieg jüdische US-Soldaten auf gefangene NS-Funktionäre. Eine neue Ausstellung geht auf Spurensuche.
von Eike Stegen (Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz)
Im Frühjahr 1945 ist die SS im Berliner Ortsteil Wannsee stark präsent. Nicht nur, weil Dienststellen des SS-Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) hierher ausgelagert waren – auch legen mehrere Quellen nah, dass im Februar und April 1945 Gespräche zwischen dem schwedischen Diplomaten Graf Folke Bernadotte, Walter Schellenberg (Chef des Auslandsgeheimdienstes) und Ernst Kaltenbrunner (Chef des Reichssicherheitshauptamt, RSHA) im heutigen Haus der Wannsee-Konferenz stattgefunden haben. Kaltenbrunner war der Nachfolger Reinhard Heydrichs, der 1942 von tschechischen Widerstandskämpfern getötet wurde.
Ziel der Gespräche war die Verhandlung über die Rettungsaktion „Weiße Busse”, die tausenden dänischen und norwegischen KZ-Insass*innen durch eine Ausreise nach Skandinavien das Leben rettete.
Ende April 1945 übernahmen sowjetische Truppen letztendlich Wannsee, das entlang dem Kleinen und Großem Wannsee im äußersten Westen Berlins liegt. Während es am Kleinen Wannsee zum Beschuss von Häusern kam, blieben die Häuser am Großen Wannsee weitgehend unbeschadet. Im ehemaligen SS-Gästehaus am Großen Wannsee, das man heute als Wannsee-Villa und zugleich Ort der Wannsee-Konferenz kennt, wurden nach Kriegsende zunächst sowjetische Mannschaften untergebracht. Im Juli 1945 wurde die Villa an US-amerikanische Soldaten übergeben, die in ihren Besatzungssektor Berlins einrückten.
Heute ist das Haus Gedenk- und Bildungsstätte. Neben einer detaillierten Dauerausstellung zur Wannsee-Konferenz und Wechselausstellungen bietet die Stätte Seminare, Fortbildungen und Tagungen. Die öffentlich zugängliche Joseph Wulf Bibliothek bietet zu den Themen des Hauses Forschungsliteratur, historische Quellen, Berichte von Überlebenden, Gedenkbücher, regionalgeschichtliche Untersuchungen und pädagogische Materialien.
Doch es gibt noch weitere Stationen in der Geschichte der Wannsee-Villa. Vor allem neue Bild- und Schriftquellen zeichnen ein neues Bild des Hauses in der direkten Nachkriegszeit.
Im Frühjahr 2022 wurde die Gedenk- und Bildungsstätte aus den USA kontaktiert, von den Geschwistern Michael, Mark und Kathryn Traugott. Sie besaßen von ihren Eltern Fotos und Briefe, die im Haus der Wannsee-Konferenz im Sommer 1945 aufgenommen bzw. geschrieben wurden. Die Quellen ergänzen das Wissen um die Wannsee-Villa auf bemerkenswerte Weise.
Ritchie Boys in Wannsee-Villa
Fritz Julius Traugott wird 1919 in Hamburg in eine jüdische Familie geboren. 1938 kann er vor der antisemitischen Verfolgung in die USA fliehen. Seinem Bruder Wolfgang und den Eltern Moritz und Therese gelingt ebenfalls die Emigration in die Vereinigten Staaten. Schwester Hedwig überlebt mit ihrem nichtjüdischen Mann und den beiden gemeinsamen Töchtern in Hamburg die Shoah.
Fritz Traugott wird US-amerikanischer Staatsbürger und Soldat. Mit seiner Einheit, der „Mobile Field Interrogation Unit #2”, sogenannte Ritchie Boys, findet er in Berlin ausgerechnet im ehemaligen Gästehaus der SS, dem (da noch nicht bekannten) Ort der Wannsee-Konferenz, von Juli bis September 1945 seine Unterkunft.
Ritchie Boys sind US-Soldaten, die selbst oder deren Familien noch vor dem Krieg aus Deutschland geflohen waren und wegen ihrer muttersprachlichen Deutschkenntnisse für Verhöre von Kriegsgefangenen und Kriegsverbrechern ausgebildet wurden. Benannt sind sie nach Camp Ritchie im US-Bundestaat Maryland, wo die Ausbildung stattfindet. Seiner Frau Lucia schickt Fritz fast täglich Fotos und Briefe aus der Wannsee-Villa, unter anderem auf Papier der „Adjutantur des Führers“, das er in den Ruinen der Reichskanzlei findet. Die erstmals veröffentlichten Briefe sowie die Fotografien, die Fritz Traugott vor Ort macht, sind Kern einer neuen Ausstellung: Seit dem 19. Juni 2025 zeigt das Haus die neuen Quellen ein Jahr lang in einer Sonderausstellung, kuratiert von Gedenkstätten-Direktorin Deborah Hartmann und der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Judith Alberth, im Garten des Hauses.
Mehrere ehemalige Soldaten und Funktionäre, nun Kriegsgefangene, müssen sich um die Wannsee-Villa und um die hier stationierten Ritchie Boys kümmern. Fritz Traugott fotografiert sie, und einen können wir identifizieren: Friedrich Wilhelm Euler, Nationalsozialist und antisemitischer Genealoge. In der NS-Parteizentrale und später im Reichsinnenministerium erforschte er, wie in Familienstammbäumen jüdische Vorfahren sichtbar gemacht werden konnten. Eine wichtige Vorarbeit für die rassistischen Nürnberger Gesetze 1935: Waren vier oder drei Großeltern einer Person Mitglied einer jüdischen Gemeinde, hatte man es laut Gesetz mit einem „Volljuden“ zu tun; bei zwei jüdischen Großeltern mit einem „Halbjuden“, bei einem jüdischen Großelternteil mit einem „Vierteljuden“.
Als Adolf Eichmann für die Besprechung am 20. Januar 1942 ein fünfzehnseitiges Besprechungsprotokoll verfasst (einer Besprechung, bei der es nun nicht mehr nur um rassistische Gesetzes- und Statusfragen im Deutschen Reich ging, sondern um die Verschleppung in den Tod), da stellte er umfangreich, auf vier der fünfzehn Seiten, die rassistisch-biologistische NS-Definition eines „Juden“ vor, basierend auf der Definition der Nürnberger Gesetz und damit wiederum basierend auf Eulers Forschungsarbeit und Datensammlung.
Dass Ritchie Boys im Haus der Wannsee-Konferenz das Wissen eines antisemitischen Stammbaumforschers, der jetzt deren Gefangener ist, anzapfen können, um sich auf ihre Verhöre von NS-Kriegsverbrechern vorzubereiten – eine „Ironie der Geschichte“.
In welche Verhöre der US-Soldat Fritz Traugott eingebunden ist, weiß man nicht. Von der Signifikanz des Ortes, an dem Traugott und seine Einheit untergebracht sind, wissen die Soldaten zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Selbst die Teilnehmer der Konferenz in der Villa vom 20. Januar 1942, die den Mai 1945 überleben, werden zu einer „Wannsee-Konferenz“ zunächst nicht befragt. Die New York Times berichtet zwar bereits im August 1945 über ein Einladungsschreiben zu einer Besprechung zentraler Dienststellen der Reichsregierung über die „Endlösung der Judenfrage“, aber Eichmanns Besprechungsprotokoll wird erst 1947 gefunden.
In den Verhören zur Vorbereitung des sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess, in dem ab November 1947 Regierungsvertreter und damit auch Teilnehmer und Mitwisser der „Wannsee-Konferenz“ in Nürnberg vor Gericht stehen, werden Beschuldigte mit dem Protokoll konfrontiert. Niemand leistet einen Beitrag zur Aufklärung über die Besprechung am Wannsee, niemand trägt in irgendeiner Form etwas Erhellendes bei. Im Gegenteil: Die Beschuldigten lügen, sie lenken von sich ab, sie machen vermeintliche Erinnerungslücken geltend.
Auch dieser Gegensatz tritt durch die neuen Quellen zur Präsenz der Ritchie Boys in der Villa deutlich zutage: Hier die in Camp Ritchie Geschulten, die sich mit Ernst und Ausdauer ihrer Aufgabe einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung von Völkermord und bisher ungekannten Dimensionen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit widmen; dort die in Selbstrechtfertigung und Schuldabwehr unnahbaren Täter.
Obwohl dem Haus durch die Ritchie Boys, wie wir nun wissen, ein recht politischer Start ins Nachkriegs-Berlin beschieden war, ist es jahrzehntelang nicht gemäß seiner historisch-politischen Bedeutung genutzt worden. Zunächst wird fünf Jahre lang, ab 1948, mit dem August-Bebel-Institut immerhin eine Nachnutzerin einziehen, die sich der (antifaschistischen, sozialdemokratischen) politischen Erwachsenenbildung verschrieben hat, aber ab 1953 ist das Haus das Schullandheim für den West-Berliner Bezirk Neukölln. Mit Joseph Wulf gibt es einen Auschwitz-Überlebenden, der in den 60er und 70er Jahren eine andere Nutzung fordert: Er will aus dem Haus ein Dokumentations- und Forschungszentrum zu NS-Verbrechen machen, das auch nach den Folgen der Diktatur fragen soll. Davon will man nichts wissen, obwohl Wulf einen beachtlichen Kreis von Unterstützer*innen für seine Idee gewinnen kann.
Dass er mit seiner Idee marginalisiert bleibt, ist auch ein Grund für seine wachsende Verzweiflung. Man könne sich in Deutschland totdokumentieren, so schreibt Joseph an seinen Sohn, kurz bevor er sich im Oktober 1974 das Leben nimmt, es könne in Westdeutschland die demokratischste Regierung sein – die Massenmörder würden frei herumlaufen, ihre Häuschen bauen und Blumen züchten. Leider eine treffende Zustandsbeschreibung 1974 und darüber hinaus. Erst 1992, zum 50. Jahrestag der Besprechung am Wannsee, konnte die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz eröffnet werden.
Eike Stegen ist Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Er schreibt über bislang unbekannte Quellen US-amerikanischer Soldaten, die ein neues Licht auf die Wannsee-Villa in der unmittelbaren Nachkriegszeit werfen.