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Hans-Joachim Otto Erich Heidelberg (Verdachtsfall)

, 28 Jahre

Hans-Joachim Heidelberg wurde am 24.10.1993 am Berliner S-Bahnhof Schöneweide ermordet. Ein rechtsextremes Tatmotiv ist naheliegend, kann jedoch nicht abschließend belegt werden, da eine genaue Rekonstruktion der Tat nicht möglich ist. Er wurde deshalb als Verdachtsfall in die Chronik Todesopfer rechter Gewalt aufgenommen.

Hans-Joachim Heidelberg wird am 1. Februar 1965 in Berlin-Lichtenberg geboren. Wegen eines Sauerstoffmangels während seiner Geburt hat er eine leichte kognitive Beeinträchtigung. Bis zu seinem Tod lebt er mit seiner Mutter in Berlin-Johannisthal. Als Kind ging er auf eine sogenannte „Hilfsschule“ für Menschen mit Behinderungen. Über eine Berufsausbildung nach der Schulzeit oder eine Erwerbstätigkeit ist nichts bekannt.

In seinem Wohnbezirk und vor allem rund um den nahegelegenen S-Bahnhof Schöneweide war Heidelberg als kontaktfreudiger und hilfsbereiter Mensch bekannt: Oft half er Menschen, indem er ihr Gepäck trug oder für sie einkaufen ging. Er war großer S-Bahn-Fan und freute sich, wenn er hin und wieder bei Zugführern mitfahren durfte. Im Gegenzug suchte er in den Bahnen nach verlorenen Gegenständen und weckte schlafende Fahrgäste.

Die Mordnacht

Über die Nacht, in der Hans-Joachim Heidelberg ermordet wurde, ist nicht viel bekannt. Zuletzt gesehen wurde er am 24.10.1994 um zwei Uhr nachts am Bahnsteig des S-Bahnhof Schöneweide. Der S-Bahnhof ist als Treffpunkt rechtsextremer Jugendlicher bekannt. Gewalttätige Übergriffe durch Rechtsextreme sind hier keine Seltenheit. Der Bahnhof gilt deshalb für viele Anwohner*innen als Angstort. Vor dem Mord an Heidelberg kam es in derselben Nacht bereits zu zwei anderen Übergriffen am Bahnhof: Um 1 Uhr nachts pöbelten Jugendliche einen Fahrgast an und schlugen ihn zusammen. Eine halbe Stunde später gab es eine weitere Schlägerei zwischen Jugendlichen.

Hans-Joachim Heidelberg wurde vermutlich nur wenige Stunden später ebenfalls brutal misshandelt. Er erlitt ein Schädelhirntrauma und erstickte an seinem eigenen Blut. Seine Verletzungen, die in der Obduktion festgestellt worden sind, lassen Rückschlüsse auf den Tathergang zu. Heidelberg wurde mit einem stumpfen Gegenstand, möglicherweise einer Stange, brutal gegen den Schädel geschlagen. Sein Nasenbein und sein Kiefer wurden gebrochen. Als er bereits auf dem Boden lag, haben die Täter*innen weiter auf ihn eingeschlagen und -getreten. Als er am nächsten Morgen in einer Blutlache tot aufgefunden wird, blutet er aus seiner Nase und seinen Ohren. Wie brutal die Täter*innen vorgegangen sein müssen, zeigen die Blutspuren, die weit um ihn herum verteilt sind. Um 5:45 Uhr trifft ein Notarzt ein, der den Todeszeitpunkt auf ca. fünf Uhr schätzt.

Erfolglose Suche nach den Täter*innen

Behindertenfeindlichkeit wurde von den ermittelnden Polizist*innen damals nicht in Erwägung gezogen. Ein Beamter der Kriminalpolizei mutmaßte, dass Heidelberg Einbrecher am Bahnhofskiosk überrascht haben könne. Knapp einen Monat nach dem Mord werden zwei tatverdächtige Jugendliche ermittelt. Sie hatten zuvor den Mord an einem anderen Mann gestanden, der ebenfalls mit Schlägen und Tritten in Johannisthal getötet wurde. Den Mord an Heidelberg bestreiten die beiden jedoch.

Zivilgesellschaft schließt politisches Tatmotiv nicht aus

Antifaschistische und zivilgesellschaftliche Organisationen erinnern damals wie heute an Hans-Joachim Heidelberg. Bereits wenige Tage nach dem Mord organisierte die Gruppe „Jugend gegen Rassismus in Europa“ eine Gedenkkundgebung gegen „rechten Terror und rassistische Spaltungspolitik“. Sie ziehen dabei eine Traditionslinie zur NS-Herrschaft: „Die Mörder sind die Erben derer, die (…) behinderte Menschen umbrachten“, zitiert eine Nachrichten-Meldung. Ein*e Zeitzeug*in berichtete, dass sich Neonazis in der Nähe aufhielten und über die Demonstrierenden lachten.

Die Erinnerung hält an

Schon zu diesem Zeitpunkt wird die Tat in einem Flugblatt sowohl in die vorherigen rechten Morde in Berlin eingereiht, wie an Nguyễn Văn Tú (24. April 1992) in Marzahn und Günther Schwannecke (5. September 1992) in Charlottenburg, als auch in den bundesweiten Kontext der extrem rechten Brandanschläge in Rostock-Lichtenhagen (ab 22. August 1992), Mölln (23. November 1992) und Solingen (29. Mai 1993). Es sind die bitteren Höhepunkte extrem rechter Gewalt der 1990er Jahre im gesamte Bundesgebiet.

In den Folgejahren und Jahrzehnten lenken zivilgesellschaftliche, insbesondere antifaschistische Gruppen immer wieder die Aufmerksamkeit auf den gewaltsamen Tod des jungen Mannes aus Johannisthal. Die vermutlich rechtsextremen Täter*innen werden nie gefasst, die Tat nicht aufgeklärt. So wird zum 20. Todestag im Jahr 2013 wieder zu einer Kundgebung am S-Bahnhof mobilisiert. Die Aktivist*innen forderten u.a. „die grundsätzliche Überprüfung aller Morde seit 1990, die vom Staat bis heute nicht als politisch motiviert anerkannt werden!“.

Am 24. Oktober 2023, 30 Jahre nach dem gewaltsamen Tod, organisiert eine neue Initiative ein Stilles Gedenken am S-Bahnhof Schöneweide. Die Idee und die neuerliche Initiative zur Erinnerung an Hans-Joachim Heidelberg entwickelt sich aus einer Erinnerungswerkstatt am 17. Oktober 2023 im Zentrum für Demokratie Treptow-Köpenick. Die Gedenkinitiative Berlin 24. Oktober 1993 regte außerdem an, Hans-Joachim Heidelberg in der Liste von Todesopfern rechter Gewalt der Amadeu Antonio Stiftung als „Verdachtsfall“ zu führen. Die Stiftung hat sich basierend auf einer umfassenden Recherche der Gedenkinitiative zur Aufnahme entschieden.

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