In der Nacht zum 24. Juni 2000 wird der Obdachlose Klaus-Dieter Gerecke in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) über eine Stunde lang von einem Neonazi und zwei mit ihm befreundeten Frauen brutal gefoltert und schließlich ermordet. Mit seinem warmherzigen Lächeln unter dem Vollbart war „Kläuser“ stadtbekannt.
Klaus-Dieter Gerecke wurde am 11. Juli 1952 als Sohn einer alleinerziehenden Mutter in Greifswald in der DDR geboren. Zusammen mit seinem Bruder Rainer Gerecke wuchs er unter prekären Bedingungen auf, und wurde mehrmals unter dem Vorwand des als „Asozialenparagraf” bekannten § 249 inhaftiert – zeitweise saß er im Gefängnis Bützow, das für die für harte Behandlung seiner Inhaftierten berüchtigt war und ihn traumatisierte.
Ab der Wiedervereinigung lebte Klaus-Dieter fast ausschließlich auf der Straße, baute sich selbst regensichere Unterkünfte. Unter seinem Spitznamen „Kläuser“ kannten fast alle in Greifswald den gutmütigen Mann mit seinem warmherzigen Lächeln unter dem Vollbart. Mit seinem Stoffbeutel über der Schulter beobachtete er das Treiben in der Innenstadt und unterhielt sich gerne mit den Menschen über Politik und Fußball – seine Lieblingsthemen. Oft schlenderte er zusammen mit seinem Bruder Rainer durch die Stadt, erzählte Leuten für fünf Mark eine kleine Geschichte oder verweilte vor der Uni-Mensa und half den Mitgliedern eines Studierendenclubs „wenn es mal was anzupacken gab“.
Ein Neonazi und seine Freundinnen quälten Klaus-Dieter stundenlang
Als Klaus-Dieter am Abend des 24. Juni 2000 auf dem Weg in die Gützkower Straße ist, begegnet er einem 21-jährigen Neonazi und zwei 18-jährigen Frauen, die von ihm Bier und Geld fordern. Sie beleidigen ihn als „Penner“ und „Assi“ und folgen ihm bis vor einen Waschsalon. Dort beginnt der Neonazi mit ihm ein Gespräch über das Leben auf der Straße und Klaus-Dieter gibt ihm sogar ein Bier aus. Von der Wäscherei aus verfolgen ihn die Täter*innen weiter – als der 21-Jährige ihm plötzlich ins Gesicht schlägt. Es soll nicht das letzte Mal in dieser Nacht gewesen sein. Die Hilfe eines Autofahrers lehnt Klaus-Dieter ab.
Sie kommen am Supermarkt in der Gützkower Landstraße an – dort beginnt die Tortur. Der 21-Jährige schlägt Klaus-Dieter zu Boden. Über eine Stunde lang treten, schlagen und erniedrigen die drei den Obdachlosen, legen Raucherpausen mit dazugekommenen jugendlichen Mopedfahrern ein. Auf die Frage, was sie machen, antwortet der Neonazi schamlos „Penner wegschlagen”. Als die Mopedfahrer Zigaretten holen gehen, raten sie dem Täter, wegen seiner blutigen Schuhe nicht mitzukommen. In dieser Zeit treten auch die beiden 18-jährigen Frauen auf Klaus-Dieter ein – denn der 21-jährige Rechtsextreme hat sie davor aufgefordert, „auch mal was zu machen“. Die drei hören erst auf, als sie von ihm nicht mal mehr ein Röcheln wahrnehmen können. Die beiden Frauen verständigen unter falschem Vorwand die Polizei, der junge Haupttäter flüchtet in eine Telefonzelle – dort schläft er angetrunken mit seinen blutigen Klamotten ein. Klaus-Dieter ist tot, als die Rettungswagen eintreffen.
Selbst das Geständnis des Täters strotzt vor Sozialdarwinismus – dem Gericht ist es egal
Der Neonazi wird noch mit seinen blutigen Klamotten gestellt, festgenommen und angeklagt. Da sich auch die beiden Frauen von Beginn an in Widersprüche verwickeln, gelten sie sofort als tatverdächtig und werden ebenfalls angeklagt. Als der 21-Jährige vor dem Landgericht Stralsund ein Geständnis ablegt, zeigt der Neonazi keine Reue und grinst sogar, während er die Tat schildert. Er gibt an, die beiden Frauen hätten ihn mit den Worten „Da ist der Assi, klatsch ihn tot“ aufgehetzt. Als der Richter ihn nach der überaus langen Zeitspanne fragt, sagt der Täter nur, er könne in solchen Momenten einfach nicht aufhören. Obwohl der Täter also seine Menschenfeindlichkeit vor Gericht offen zur Schau stellt, sieht weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht ein rechtsextremes Tatmotiv. Dabei kann dem Täter sogar eine Verbindung in die lokale rechtsextreme Szene nachgewiesen werden – demnach hat er zuvor an rechtsextremen Demonstrationen teilgenommen.
Stattdessen aber wird die Tat entpolitisiert. Das Gericht übernimmt ohne Not die Schutzbehauptung des Täters, die Forderung nach Bier wird als Motiv, nicht als bewusste Provokation für weitere Gewalt interpretiert. Das Landgericht Stralsund verurteilt den 21-jährigen Haupttäter zu siebeneinhalb Jahren Haft. Die zwei 18-jährigen Frauen erhalten Bewährungsstrafen – sie verlassen den Gerichtssaal als freie Menschen. Die Mopedfahrer, welche als Mitläufer die Tat nicht verhindert haben, werden gar nicht erst ermittelt.
Im Januar 2010 hat die Polizei auf Nachfrage im „Nordkurier“ die Angaben in der Bilanz der Amadeu Antonio Stiftung über den Mord vom November 2000 in Greifswald bestätigt. So sagte Polizeisprecher Alex Falkenberg, dass das Gericht zwar „niedere Beweggründe“ festgestellt habe, „von der Motivlage her ging es aber eindeutig gegen Obdachlose“. Die Bundesregierung jedoch hat Klaus-Dieter bis heute nicht als Opfer rechter Gewalt anerkannt.
Allein schon diese Aussage belegt – ebenso wie das gesamte Verhalten des Täters vor Gericht – klar dessen sozialdarwinistisches Tatmotiv. “Assi” und “Penner” sind Paradebeispiele für diese Weltsicht, die – zusammen mit sozialchauvinistischen Einstellungen – nicht arbeitende und vor allem sozioökonomisch benachteiligte Menschen als minderwertig ansieht. Sozialdarwinismus ist dabei fest im rechtsextremen Weltbild verankert – ebenso wie Obdachlosenfeindlichkeit ein integraler Bestandteil von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist. Dennoch wird bei Obdachlosen das rechtsextreme Tatmotiv so häufig ausgeblendet wie bei keiner anderen Opfergruppe.
Der Mord löst eine breite Welle der Solidarität aus – aber was bleibt davon?
Vor allem aber: Der Mord an dem obdachlosen Klaus-Dieter war kein Einzelfall. In den sogenannten “Baseballschlägerjahren” töteten Neonazis allein in Greifswald vier Obdachlose, darunter Eckhard Rütz und Klaus-Dieters Bruder Rainer, die allesamt im Jahr 2000 umgebracht wurden. Dessen Tod wenige Monate vor dem seines Bruders wurde zwar nie vollständig aufgeklärt, aber auch hier gibt es Hinweise auf rechtsextreme Gewalt als Todesursache.
Der Tod Klaus-Dieters löst kurzfristig eine große Welle der Bestürzung und Solidarität aus – wenige Tage nach dem Mord versammeln sich rund 300 Menschen zum Gedenken an „Kläuser“ an der Stelle seines Todes. In der Folge gibt es eine Masse an Beileidsbekundungen und Spenden für eine würdige Beerdigung – tausende Mark kommen zusammen. Nach der offiziellen Gedenkfeier im Greifswalder Dom nehmen rund tausend Menschen an einem Trauermarsch teil. Auf dem Grundstück, auf dem Klaus-Dieter getötet wurde, wird ein Gedenkstein installiert. Mittlerweile ist die Inschrift allerdings bis zur Unleserlichkeit verblasst.
Doch die Solidarität währte nicht lange: Als im November 2000 Eckhard Rütz ermordet und der Spiegel Greifswald als “Zone der Angst” bezeichnet, sorgen sich viele Bürger*innen mehr um das Image ihrer Stadt als an die Getöteten zu denken. Dennoch bemühen sich in den Jahren danach immer wieder Teile der Greifswalder Zivilgesellschaft, das Gedenken an Klaus-Dieter Gerecke zu bewahren. Zum 15. Todestag ruft die Initiative „Uni ohne Nazis Greifswald“ zu einer Gedenkveranstaltung auf, im Zuge dessen auch die bisherige Greifswalder Gedenkpolitik kritisch betrachtet werden soll. Außerdem stößt ebenfalls 2015 das Bürgertheaterstück »Klaus« von Henriette Sehmsdorf das Gedenken an Klaus-Dieter und die Debatte um seinen Tod neu an.