Lagebild #13: Antisemitische Allianzen seit dem 7. Oktober
Das Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus #13 der Amadeu Antonio Stiftung behandelt das Thema „Antisemitische Allianzen nach dem 7. Oktober“. Ein PDF der Veröffentlichung kann hier heruntergeladen werden. Alle Quellenangaben sind dort zu finden.
Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus sind ein gemeinsames Projekt der Amadeu Antonio Stiftung und dem Anne Frank Zentrum, gefördert vom Bundesbeauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. Unser Lagebild fragt sich: Welche Ausdrucksformen findet der Antisemitismus heute? Welche Ausmaße nimmt er an? Was macht er mit den Betroffenen? Wie nehmen Betroffene ihn wahr und was sagt uns das über aktuelle Entwicklungen? Untersucht werden alle verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus, die teils eine lange Geschichte haben.
Inhalt
- Einleitung
- Kernbeobachtungen
- Islamistischer Antisemitismus
- Fallbeispiel #1: Hamas-Parolen auf dem Potsdamer Platz
- Interview mit Burak Yilmaz: Über Palästina, Provokation und Prävention
- Chronik: Antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober in Deutschland
- Antiimperialistischer Antisemitismus
- Fallbeispiel #2: Linker Kongress der Terrorverherrlichung
- Interview mit Güner Balci: Über Parallelgesellschaften, den „Problembezirk“ und den politischen Islam
- Antisemitismus unter Expats
- Archiv
Kernbeobachtungen
1. Für Jüdinnen*Juden ist die Lage seit dem 7. Oktober katastrophal, auch in der Diaspora
Die sicheren Räume werden weniger und die Bedrohungslage ist dramatisch. Israelbezogener Antisemitismus greift um sich, getragen von einer Allianz aus Islamismus und Antiimperialismus.
2. Die antiimperialistische Linke erneuert im Kampf gegen den Staat Israel ihre altbewährte Allianz mit Islamist*innen
In den Auseinandersetzungen um den Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 fand eine erneute Fusionierung des antiimperialistischen mit dem islamistischen Antizionismus statt. Gruppierungen aus beiden Lagern stehen Seite an Seite, ihre Demosprüche fließen ineinander.
3. Rechtsextreme instrumentalisieren den Kampf gegen Antisemitismus und Israelhass, um ihren Rassismus offen überall platzieren zu können
Die Reaktionen nach dem 7. Oktober 2023 haben einmal mehr gezeigt, dass Teile der extremen Rechten ein instrumentelles Verhältnis zu Jüdinnen*Juden und zur Feindschaft ihnen gegenüber haben. AfD & Co. nutzen die Verherrlichung des Hamas-Terrors als Anlass, um Rassismus zu verbreiten.
4. Israelhass wirkt identitätsstiftend
Die Rede von und die Forderung nach bedingungsloser Solidarität mit Palästina führt immer wieder zu israelbezogenem Antisemitismus und bedeutet schließlich auch die Unterstützung palästinensischer Terrororganisationen wie Hamas und PFLP, was eine Gefahr für die Demokratie darstellt. Sie bietet eine Gelegenheit, sich über Trennendes hinweg eine gemeinsame Identität zu konstruieren.
5. Soziale Medien spielen in der Allianzbildung eine entscheidende Rolle
Die Gruppierungen und Netzwerke der antiimperialistischen Linken und des Islamismus sind in den sozialen Medien sehr aktiv. Einige heizen, durch manipulatives Framing und Desinformation, die Stimmung gegen Jüdinnen*Juden und den Staat Israel an. Gerade antizionistische Influencer*innen nutzen die Dynamik, um Hetze zu verbreiten.
Einleitung
Das Thema ist allgegenwärtig und wird dennoch nicht richtig bearbeitet. Ist Antisemitismus ein Problem von Muslim*innen, muslimisch gelesenen, bzw. (post)migrantischen Communities? Rechte bis rechtsextreme Kräfte in Deutschland versuchen seit vielen Jahren, genau das zu behaupten. Von „importiertem Antisemitismus“ wird gesprochen, wenn auf israelfeindlichen Demonstrationen in Nordrhein-Westfalen oder Berlin Menschen judenfeindliche Parolen skandieren.
Schnell fällt dann auch die Jahreszahl 2015 und damit ist das Framing perfekt. Denn suggeriert wird, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe mit der Entscheidung im Sommer dieses Jahres, die deutsche Grenze nicht zu schließen, unzählige Antisemit*innen ins Land gelassen – und seitdem tobe hier der antisemitische Mob.
Eine steile These, bedenkt man, dass es Antisemitismus schon seit vielen Jahrhunderten in Deutschland gibt. Die Nationalsozialist*innen konnten an diese Geschichte anschließen und den Antisemitismus in den Mittelpunkt ihrer Ideologie stellen. In der Shoah ermordeten sie sechs Millionen Jüdinnen*Juden aus ganz Europa. Aufgehalten wurden sie erst durch die Alliierten, die sie im Mai 1945 zur Kapitulation zwangen. Antisemitismus ist damit nicht aus Deutschland verschwunden. Die Liste der antisemitischen Vorfälle seitdem ist lang – und sie wird täglich fortgeschrieben.
Antisemitismus ist also ein urdeutsches Problem; eines, das lange wenig und dann von unten aufgearbeitet wurde. Abwehr zeigt sich noch heute, wo Antisemitismus aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft kleingeredet wird, wann immer er auftritt. Denn Antisemitismus attestiert man gerne den politischen Rändern und am liebsten „den Anderen“.
Eine Ausdrucksform dieser Abwehr ist die Rede vom „importierten Antisemitismus“. Auch diese Form fand neue Verwendung nach der genozidalen Gewalt der Hamas am 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden terrorverherrlichenden Demonstrationen in Deutschland. Genau einen Monat nach dem Massaker stellte die Alternative für Deutschland (AfD) einen Antrag im Bundestag, in welchem Antisemitismus als Problem der „Zuwanderung“ verortet wurde. Der „importierte Antisemitismus“, wird argumentiert, sei nicht nur eine Gefahr für Jüdinnen*Juden, sondern auch für „unser gesamtes westliches Wertesystem“. Die deutsche Bevölkerung dürfe nicht zum „Leidtragenden importierter Auslandskonflikte auf deutschem Boden werden“. Beatrix von Storch, die Antisemitismusbeauftragte der Bundestagsfraktion der AfD, schrieb in den sozialen Netzwerken, man solle Hamas-Anhänger*innen nach Israel abschieben. Bereits hieran wird deutlich, dass es nicht um eine tatsächliche Bekämpfung von Antisemitismus zum Wohle von Jüdinnen*Juden geht, sondern um Externalisierungsstrategien. Das Problem soll mit „uns“ nichts zu tun haben und deshalb dahin zurück, wo es vermeintlich herkommt. Den Tatsachen entspricht das nicht.
Antisemitismus ist in Deutschland nicht importiert. Judenhass war sogar ein Exportschlager der Nationalsozialist*innen, die zunächst christlich motivierten, europäischen Judenhass mit rassistischen Fantasien per Rundfunk in die arabische Welt übertrugen. Das passte hervorragend zu dem judenfeindlichen Islamismus, der mit dem Antisemitismus des Nationalsozialismus ohne Hindernisse verschmolz und bis heute die Talking Points der islamistisch motivierten Antizionist*innen liefert. Hinzu kommt, dass die spezifisch antisemitischen Traditionen verschiedener Länder bis heute als Resonanzraum für Mobilisierungen dienen, was sich auch auf deutschen Straßen zeigt. In einigen Ländern dieser Erde ist Juden- und Israelhass schlicht Staatsdoktrin. Das findet seinen Ausdruck in schulischen Lehrplänen wie in der staatlichen und privaten Medienberichterstattung – und spielt auch hier in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle beim Nachdenken und Bearbeiten von Antisemitismus.
Bei der Rede vom „importierten Antisemitismus“ sind das Problem weder „die Muslime“ noch „die Migranten“ oder ähnliches. Das Problem zeigt sich in konkreten, benennbaren Gruppen, in Netzwerken und Organisationen, die auf deutschen Straßen und via Social Media ihren Hass verbreiten, indem sie sexualisierte Gewalt und Massaker durch Terrororganisationen abfeiern. Statt allgemeiner Zuschreibungen, die nichts erklären und auch nichts erklären wollen, ist es wichtig, konkret über die Problemlage zu sprechen. Das macht dieses zivilgesellschaftliche Lagebild #13, das die jüngste Allianz von Islamismus und Antiimperialismus seit dem 7. Oktober 2023 unter die Lupe nimmt.
Islamistischer Antisemitismus
Am Morgen des 23. Novembers 2023 werden 21 Wohnungen und Vereine mutmaßlicher Islamist*innen durchsucht, der Großteil von ihnen in Berlin. Die Razzia folgt auf das kürzlich erlassene Verbot der islamistischen Terrororganisation Hamas sowie des internationalen „Solidaritätsnetzwerks“ für palästinensische Gefangene Samidoun, das als Vorfeldorganisation der säkularen Terrororganisation Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) gilt. Der Hamas rechnet das Bundesamt für Verfassungsschutz in Deutschland etwa 450 Mitglieder zu, obwohl sie als Terrororganisation in der EU seit Jahren auch in der Bundesrepublik de facto verboten ist.
Das Verbot des Bundesinnenministeriums ist nach dem Überfall der Hamas auf Israel vor allem ein klares Signal. Die ideologischen Bausteine der Bewegung sind schon längst rund um die Welt verbreitet. Auch in Deutschland.
Dass die islamistische Terrororganisation, die für den tödlichsten Angriff auf Jüdinnen*Juden seit der Shoah am 7. Oktober 2023 verantwortlich ist, auch in Europa eine akute Gefahr für jüdisches Leben darstellt, wird drei Wochen später, am 14. Dezember, nochmal besonders deutlich: Vier mutmaßliche Hamas-Mitglieder werden festgenommen, aufgrund eines Hinweises eines ausländischen Nachrichtendienstes – drei in Berlin, eines in Rotterdam. Sie sollen Waffen gehortet und einen Anschlag auf jüdische Einrichtungen in Deutschland geplant haben.
Der islamistische Terror gegen Jüdinnen*Juden fordert immer mehr Leben. Und findet immer mehr Anhänger*innen. Diese antisemitische Ideologie hat ihre Wurzeln vor allem, aber nicht nur, in der Muslimbruderschaft. Bis heute ist die Bewegung unter Muslim*innen eine wichtige Kraft – auch in Europa.
Die Muslimbruderschaft wird 1928 von Hassan al-Bannā in Ägypten gegründet. Ihr Credo: Islam ist die Lösung – und zwar für alle Probleme. Aus der Religion wird so ein allumfassendes System mit politischen Ambitionen. Ihr Ziel: Ein übernationales Kalifat, in dem der Islam das Gesetz bestimmt. Die Muslimbrüder sind zunächst friedlich, wenden sich aber später zunehmend der Gewalt zu, um dieses Ziel zu erreichen.
Zur Theorie und Praxis der Bewegung gehört immer mehr die Idee einer „jüdischen Gefahr“. Die Bruderschaft greift Juden*Jüdinnen in Ägypten an, entsendet Einheiten ins britische Mandatsgebiet Palästina für den Kampf gegen den Zionismus. Dort entsteht die Muslimbruderschaft noch vor der Staatsgründung Israels 1948, der Gazastreifen gilt als ihre Hochburg. Sie setzt zunächst auf Bildung und soziale Arbeit, auf Jugendzentren, Schulen und Hospitäler – und steigert so ihre Anhängerschaft. Scheich Ahmad Yasin gründet zu diesem Zweck 1973 das „Islamische Zentrum“ in Gaza, finanziert mit Geld aus den Golfstaaten. Und mit dem Ausbruch der ersten sogenannten Intifada gründet Yasin, der schon davor bewaffnete Strukturen aufgebaut hatte, die „Bewegung des Islamischen Widerstands“, als Akronym auf Arabisch „Hamas“ – auch das Wort für „Eifer“. In der Gründungscharta bekennt sich die Hamas zur Muslimbruderschaft. Und zum sogenannten Jihad gegen Israel.
Die Charta bezieht sich auch auf das antisemitische Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von Zion“, das eine geheime jüdische Weltverschwörung behauptet. „Der Zionismus macht nirgends Halt: Nach Palästina strebt er eine Expansion vom Nil bis zum Euphrat an“, heißt es in der Charta der Hamas. Gewalt gegen Juden*Jüdinnen wird theologisch begründet. „Der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Heil – sprach: ‚Die Stunde wird kommen, da die Muslime gegen die Juden so lange kämpfen und sie töten, bis sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken‘“, zitieren sie aus einem sogenannten Hadith Muhammads.
Auch Selbstmordattentate werden ab den 1980er Jahren theologisch gerechtfertigt, obwohl der Islam Suizid eigentlich verbietet – ein Wendepunkt im islamistischen Terror gegen Juden*Jüdinnen, der ab dem Ende der ersten Intifada 1993 den Terror gegen Israel stark prägte.
Der islamistische Antisemitismus wird auch von deutschen Nationalsozialist*innen stark geprägt. Mohammed Amin al-Husseini – der Großmufti Jerusalems und Anführer der Palästinenser*innen von 1921 bis zum Unabhängigkeitskrieg 1948 – wird zum glühenden Hitler-Verehrer, verbreitet NS-Propaganda im arabischen Raum, wird SS-Mitglied und mobilisiert Muslime für die Waffen-SS auf dem Balkan. Er lässt sich ab 1941 in Berlin nieder. „Die Juden hassen Mohammed und den Islam“, schreibt er 1937 in einer Proklamation an die islamische Welt. „Ruht nicht, bis euer Land von den Juden befreit ist.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg sagt der Gründer der Muslimbruderschaft al-Banna über al-Husseini: „Was für ein Held, was für ein Wunder von Mann […], der mit der Hilfe Hitlers und Deutschlands ein Empire herausforderte und gegen den Zionismus kämpfte. Deutschland und Hitler sind nicht mehr, aber Amin al-Husseini wird den Kampf fortsetzen.“ So fusioniert der eliminatorische Antisemitismus mit islamistischem Judenhass. Eine Fusion, die bis heute anhält und Opfer fordert.
Die Hamas wird schnell zur Speerspitze der Muslimbrüder weltweit. Denn viele Anhänger aus Ägypten müssen aufgrund von Repression fliehen und schienen in anderen Ländern zu einem Leben in der ewigen Opposition verdammt zu sein. Die Feindschaft gegenüber Israel wird zum zentralen Thema der Bewegung:
Sie verbindet die teils zersplitterten Islamist*innen international. Für die islamistischen Brüder in Palästina werden Spenden gesammelt, die wieder in Terror fließen. Die Vernichtung Israels wird als erster Schritt auf dem Weg zum globalen Kalifat gesehen.
In Europa tritt die Muslimbruderschaft heute selten in der Öffentlichkeit auf. Sie agiert aber durch zahlreiche Organisationen, die ihre Ideologie propagieren – wie etwa die Deutsche Muslimische Gemeinschaft oder der Dachverband Council of European Muslims. In Deutschland hatte die Muslimbruderschaft durch die Deutsche Muslimische Gemeinschft einen erheblichen Einfluss auf den Zentralrat der Muslime, bevor sie 2022 vom Dachverband ausgeschlossen wurde.
Heute steht die Bewegung in Europa für einen legalistischen Islamismus, der seine Ziele hier nicht mit Gewalt, sondern durch Einfluss und Netzwerke durchzusetzen versucht. Die Ideologie des zentralen Ideologen Yusuf al-Qaradawi will die Integration von Muslim*innen in der westeuropäischen Diaspora verhindern – und ihre islamische Identität stärken. Sie gilt somit als Ablehnung der liberalen Demokratie.
Zum Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hieß es von der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft, eine Muslimbrüder-nahe Organisation, lediglich: Die „israelische Kriegsmaschinerie“ bombe Gaza ununterbrochen und wolle das Leben aller Einwohner*innen im Küstenstreifen „auslöschen“. „Wir rufen daher die Muslime in Deutschland auf, ihre Stimmen gegen Unrecht zu erheben“, heißt es weiter. Im November ruft sie Muslim*innen auf, in Solidarität mit Gaza zu fasten.
Nicht nur innerhalb der internationalen Muslimbruderschaft selbst, sondern auch unter anderen islamistischen Strömungen stiftet der antisemitische Hass auf den jüdischen Staat Identität. Er vereint die sunnitischen Muslimbrüder mit schiitischen Hisbollah-Anhänger*innen oder Unterstützer*innen des Mullah-Regimes im Iran sowie Rechtsextremen der türkischen Grauen Wölfe – trotz aller kulturellen, sprachlichen und ideologischen Unterschiede. Sie alle sind in Deutschland aktiv – und fachen antisemitische Ressentiments in muslimischen und (post)migrantischen Milieus an. Islamistische Stimmen, die gegen Jüdinnen*Juden hetzen, sind immer wieder Gäste in Moscheevereinen wie der von der Türkei dirigierten DİTİB oder der islamistischen Millî Görüş.
Ein weiteres Beispiel ist Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung), eine transnationale islamistische Bewegung, die von ehemaligen Muslimbrüdern mit aufgebaut wurde, viele von ihnen nach der Staatsgründung Israels palästinensische Flüchtlinge. Die deutlich radikalere Gruppe strebt ein globales Kalifat fußend auf der Scharia an. Die Bewegung ist in rund 40 Ländern aktiv, in Deutschland unterliegt sie seit 2003 einem Betätigungsverbot. Sicherheitsbehörden gingen 2022 dennoch von rund 750 Anhänger*innen hierzulande aus. Durch Social-Media-affine Tarnorganisationen agiert sie jedoch weiter – und findet im Netz ein Millionenpublikum.
Eine nennt sich Realität Islam und setzt sich laut Instagram-Profil „gegen Islamfeindlichkeit und Assimilation“ und für die „Bewahrung der islamischen Identität“ ein. 32.000 Follower hat sie auf Instagram und 42.000 auf Facebook. Durch stark emotionalisierende Sharepics, gespickt mit Fake News, wird Israel dämonisiert. In einem Beitrag ist von dem „pro-zionistische[n] Denkgefängnis“ der Medien die Rede, weil diese Antisemitismus kritisieren. Dass das öffentlich-rechtliche Format funk sich auf den israelischen Likud-Politiker und sowjetischen Dissidenten Natan Sharansky – Erfinder des sogenannten 3D-Tests gegen Antisemitismus – bezieht, findet Realität Islam „wie Satire“. Premierminister Benjamin Netanjahu wird immer wieder mit blutverschmierten Händen dargestellt. Israel wird konsequent in Anführungszeichen geschrieben, eine Delegitimierung des jüdischen Staates.
Als die Hamas am 7. Oktober israelische Kibbuzim überfiel, veröffentlichte Realität Islam lediglich ein Bild, auf dem es heißt: „Ya Allah, schütze unsere Geschwister in Palästina!“. Und weiter: „Möge Allah (t) die ungerechten Herrscher in der islamischen Welt dafür zur Rechenschaft ziehen, unseren Geschwistern nicht beizustehen!“ Klar wird: Der jüdische Staat hat aus Sicht von Realität Islam keine Legitimität, denn das Land sei allein Teil der islamischen Welt. Zwei Tage später, am 9. Oktober, heißt es auf einem offensichtlich von KI generierten Bild von Muslim*innen vor der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem: „Wir sind eins!“. Der Kampf der Hamas gegen Israel wird als eigener Kampf gesehen.
Eine weitere Gruppe von Hizb ut-Tahrir heißt Generation Islam und hat 75.000 Follower auf Instagram und 72.000 auf Facebook. In einem Beitrag verherrlicht die Gruppe den US-Soldaten Aaron Bushnell, der sich vor der israelischen Botschaft in Washington anzündete und Selbstmord beging, als Held. In einem weiteren Beitrag heißt es: „Eine Ummah, eine Einheit, eine Lösung. Khilafah“. Es ist ein Foto von einer Demonstration in Essen am 3. November 2023, auf der Mitglieder das Banner der Bewegung zeigten – das muslimische Glaubensbekenntnis in weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund, das der Symbolik des Islamischen Staates verdächtig ähnlich sieht. Trotz Verbot der Bewegung Hizb ut-Tahrir. Immer wieder wurde an diesem Tag „Allahu Akbar“ skandiert. Frauen und Männer liefen getrennt.
In Hamburg ist Muslim Interaktiv besonders umtriebig, ebenfalls eine Tarnorganisation von Hizb ut-Tahrir, mit nur rund 3.000 Follower auf Instagram, nachdem ihre Seite nach dem 7. Oktober von der Plattform gelöscht wurde – offenbar aufgrund gewaltverherrlichender Beiträge. In der Vergangenheit trat die Gruppe uniformiert bei martialischen Demos auf, die sie filmten und auf YouTube hochluden.
Auf einer Demonstration im Mai 2021, als der Konflikt zwischen Israel und Gaza zuletzt aufflammte, standen Mitglieder zwischen leeren Särgen. „Israel Kindermörder“, brüllte die Menge. „Deutschland, das Land mit sechs Millionen toten Juden, will uns Muslimen mit erhobenem Zeigefinger über Antisemitismus belehren“, sagte ein Redner.
Zum 27. April 2024 mobilisierte Muslim Interaktiv zu einer Demonstration in Hamburg mit rund 1.000 Teilnehmenden. „Allahu Akhbar“, skandierte die Menge. Immer wieder wurde von der Bühne die Errichtung eines Kalifats gefordert. Auf mehreren Schildern stand „Staatsräson tötet“, in Anspielung auf das Bekenntnis der Bundesregierung zur Sicherheit Israels.
Was alle drei Tarnorganisationen gemein haben: Sie schaffen und stärken eine Wir/Ihr-Dichotomie. Die Politiker*innen und Medien, so die Ideologie, würden Israelsolidarität und die Staatsräson von oben aufzwingen. Sie würden dabei Muslim*innen pauschal unter Antisemitismusverdacht stellen, so der Tenor. „Wärst du bereit, für ‚Israel‘ zu sterben?“, fragt etwa Realität Islam in einer Broschüre zur deutschen Staatsräson. „Erhebe deine Stimme gegen das Meinungsdiktat“, so die Losung. Deutsche Qualitätsmedien werden dabei skeptisch gesehen, stattdessen dienen Medien wie der katarische Staatssender Al Jazeera oder das Hamas-nahe Quds News Network eher als Referenz. Ähnlich wie schon bei den verschwörungsideologischen Bewegungen der letzten Jahre versteht man sich dabei als ein Kollektiv der Rebellion und der Bescheid-Wissenden.
Fallbeispiel #1: Hamas-Parolen auf dem Potsdamer Platz
„Hamas Ya Shabiya!“, ruft ein Mann mit einer Kufiya auf dem Berliner Potsdamer Platz am Sonntag, den 15. Oktober 2023. Zu Deutsch: „Hamas, du Bewegung des Volkes!“ Der brutale Überfall der islamistischen Terrororganisation auf Israel ist kaum eine Woche her, als sich mehr als 1.000 Demonstrierende in der deutschen Hauptstadt versammeln. Offiziell ist der Protest als „Mahnwache für die zivilen Opfer der Menschen in Nahost“ angemeldet. Zu diesem Zeitpunkt sind noch keine israelischen Truppen in den Gazastreifen einmarschiert, in Israel wurden rund 1.200 Menschen, größtenteils Zivilist*innen, ermordet und mehr als 240 von der Hamas verschleppt. Ein Chor aus wütenden Stimmen mitten in Berlin wiederholt die Parole des Wortführers. „Lasst die Waffen nicht los“, so skandiert der Mann weiter auf Arabisch. Die Menge antwortet unisono. Und: „Lasst die Zionisten nicht laufen.“
Später ruft die überwiegend männliche Menge auf Arabisch im Takt: „Mit unserem Blut und unserer Seele werden wir uns für al-Aqsa aufopfern“ – in Bezug auf die drittheiligste Stätte im Islam, die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Oder: „Millionen von uns gehen als Märtyrer nach Jerusalem.“ Und immer wieder: „Allahu Akbar!“. Ein Meer aus Palästina-Flaggen weht über dem Potsdamer Platz. Die Stimmung ist aufgeheizt, bald wird es zu Ausschreitungen mit der Polizei kommen. Und auf Angriffe auf Jüdinnen*Juden.
Nicht alle Sprüche sind auf Arabisch, manche können von allen skandiert werden, wie etwa: „Intifada bis zum Sieg! Stoppt die Besatzung! Krieg dem Krieg!“ Eine Verherrlichung terroristischer Gewalt. Und eine Querfront schlechthin: Denn neben Islamist*innen, die die Hamas anfeuern, stehen linke Trotzkist*innen und alternative Expats. Auch die sich als links verstehende Gruppierung Palästina Spricht hat zur Demonstration mobilisiert. Mitglieder der antizionistischen Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost sind ebenfalls anwesend. Sie alle sind in ihrem Hass gegen Israel vereint.
Ein bebrillter Mann mit Dreitagebart und pinken Haaren hält ein Schild hoch, auf dem auf Englisch zu lesen ist, dass seine Großeltern für die Shoah nicht verantwortlich seien – „eure aber schon!“. „Wer seid ihr, uns Antisemiten zu nennen? Stop Israel Apartheid“, heißt es weiter. Im Hintergrund wehen Flaggen der trotzkistischen Jugendsekte Revolution, die in der Vergangenheit in Instagram-Beiträgen zu einer dritten Intifada gegen Israel aufgerufen hat.
Eine Frau gibt dem Fernsehteam von Kontraste ein Interview, in dem sie die Shoah relativiert: „Muss ich jetzt sozusagen zusehen, wie Deutschland einen Shoah [sic] an die Palästinenser [sic] verübt, indem sie das unterstützt und finanziert?“
Zum 13. Oktober, gerade einmal zwei Tage her, hatte die Hamas zum globalen „Tag des Zorns“ aufgerufen. Die ganze muslimische Welt solle „aufstehen“. Der Aufruf hatte durchaus Erfolg. Seitdem rollt eine Welle des Antisemitismus über den Globus.
In Berlin wurden mehrere Demonstrationen verboten, weil es in der Vergangenheit bei ähnlichen Versammlungen immer wieder zu antisemitischen Straftaten und Ausschreitungen gegen Presse und Polizei gekommen war. Ein Vorgehen, das immer wieder als rassistisch und pauschalisierend kritisiert wird.
Der Anmelder auf dem Potsdamer Platz erklärt die Mahnwache am 15. Oktober, die eigentlich nur für 50 Personen angemeldet wurde, sofort für beendet, er meldet stattdessen mit sofortiger Wirkung eine Demonstration für alle Anwesenden auf dem Potsdamer Platz an. Diese sieht die Polizei als Ersatz für eine Demonstration, die am 12. Oktober stattfinden sollte, aber verboten wurde – und will sie deshalb auflösen. Nicht ohne Gegenwehr: Demonstrierende widersetzen sich der Auflösung, teilweise mit Tritten, Schlägen und Schubsen gegen Polizist*innen. Böller knallen. Laut einer späteren Polizeimeldung werden Flaschen und Pyrotechnik auf Beamt*innen geworfen. Die Polizei, die angesichts der vielen Teilnehmenden überrumpelt wirkt, reagiert aggressiv: Sie zerrt mutmaßliche Rädelsführer*innen gewaltsam aus der Menge heraus, setzt Pfefferspray und Faustschläge ein.
Die Bilanz der Polizei: 153 Festnahmen, 80 Strafanzeigen, 68 Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten und 24 verletzte Einsatzkräfte. Später wird die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses um Verständnis bitten müssen: Drei Stunden lang wurde mitten in der Hauptstadt Terror gegen Jüdinnen*Juden verherrlicht.
Direkt nach den Ausschreitungen am Potsdamer Platz berichtet die Polizei von einem Angriff auf ein jüdisches Restaurant in der benachbarten Stresemannstraße. Mutmaßliche Teilnehmende der Demonstration sollen gegen die Scheibe des Restaurants getreten und gespuckt haben, sie hätten laut Augenzeugen über Handgesten ein Maschinengewehr imitiert und auf das Restaurant gezielt, bevor sie fliehen konnten. Berlinweit kommt es am selben Abend zu aufgemalten Davidsternen und israelfeindlichen Parolen vor Wohnhäusern.
Die Demonstration zeigt exemplarisch: Islamistische Parolen gegen Israel werden von immer mehr linken antizionistischen Aktivist*innen zumindest in Kauf genommen, wenn nicht aktiv gefeiert. Und die Parolen vom Potsdamer Platz münden in reale Bedrohungen gegen Jüdinnen*Juden in Deutschland. In den folgenden Monaten kommt es bundesweit zu ähnlichen Szenen.
Palästina, Provokation und Prävention: Ein Interview mit Burak Yılmaz
Burak Yılmaz lebt als selbständiger Pädagoge und Autor in Duisburg. Sein Buch „Ehrensache: Kämpfen gegen Judenhass“ (2021) erschien im Suhrkamp Verlag. Burak Yılmaz initiierte das Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“ und leitet die Theatergruppe „Die Blickwandler“, die nach einer gemeinsamen Fahrt nach Auschwitz das Stück „Benjamin und Muhammed“ inszenierte.
Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus: Herr Yılmaz, für Sie ist der Kampf gegen Antisemitismus „Ehrensache“ – so lautet der Titel Ihres Buches. Warum eigentlich?
Burak Yılmaz: Als Kollegah und Farid Bang 2018 den Echo-Preis gewonnen haben, mit einem Album, das die Songzeile „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ enthält, waren Begriffe wie „Ehrenmann“ und „Ehrenfrau“ in der Jugendkultur starke Trendwörter. Und ich habe an vielen Schulen mitbekommen, dass die beiden Rapper als Ehrenmänner und dass Antisemitismus an sich als etwas Ehrenhaftes beschrieben wurden. Das hängt häufig mit einem patriarchalen Weltbild zusammen, nach dem Motto: Du musst entweder „Alpha“ sein – oder du bist Opfer. Mit diesem Opferbild werden etwa Jüdinnen und Juden, Frauen und Homosexuelle verbunden. In meiner Arbeit an Schulen erkläre ich, dass das einen historischen Kontext hat.
Nämlich?
Der Begriff „Ehre“ hat eine längere Geschichte, die mit Antisemitismus in Deutschland verwoben ist. Im Nationalsozialismus waren Beziehungen mit Jüdinnen und Juden als „Schande“ konnotiert und strafbar. Und Schande ist das Gegenteil von Ehre. Ich will diesen Begriff umdeuten: sich für Menschenrechte einzusetzen, und gegen Rassismus und Antisemitismus – das ist für mich eine Ehrensache. Und das kommt bei den Jugendlichen gut an.
Oft wird behauptet, Jugendliche mit Migrationsgeschichte könnten mit der deutschen Erinnerungsarbeit wenig anfangen, das seien schließlich doch nicht ihre Vorfahren, ihre Schuld. Spiegelt das Ihre Erfahrung wider?
Den Spruch, „was interessiert mich das, was damals passiert ist“, höre ich eher von Jugendlichen aus der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft. Was ich von migrantischen Jugendlichen vielmehr höre, ist: Ja, aber was hat das denn mit unserer Diskriminierung zu tun? Dieses Gefühl kann sich in einer Art Opferkonkurrenz manifestieren. Mein Ansatz ist daher, ihre Lebenswelt erstmal aufzufangen und von dort aus Verbindungen in die Vergangenheit zu schaffen – etwa durch Videos auf YouTube und TikTok, die gerade trenden, oder Sprüche, die im Alltag fallen.
Vor allem seit dem 7. Oktober kursieren viele Videos und Sprüche, die als antisemitisch beschrieben werden könnten. Wie haben Sie die Situation direkt nach dem Angriff der Hamas erlebt?
Ich kann mich noch an den Morgen sehr gut erinnern, als ich die Pushnachricht bekommen habe, dass die Hamas durch den Grenzzaun gebrochen ist. Ich wusste sofort, dass das nicht nur den Nahen Osten verändern wird, sondern auch Deutschland. Und die Tage danach, an denen zum Beispiel Baklava in Neukölln zur Feier des Angriffs verteilt wurde oder Menschen die Dimension dieser Gewalt überhaupt nicht sehen oder verstehen wollten, hat mich zwar schockiert, aber nicht überrascht. Dass das Ausmaß antisemitischer und sexualisierter Gewalt an dem Tag viele Menschen nicht zum Umdenken gebracht hat, hat mir noch einmal ganz deutlich gezeigt: Es muss noch so viel in Bildungsarbeit investiert werden, wir haben noch so viel zu tun.
Welche Reaktionen haben Sie besonders schockiert?
Vor allem die Glorifizierung dieser terroristischen Gewalt. Es gab kurz danach eine Demo in Duisburg, auf der diese Gewalt gefeiert und der 7. Oktober als heldenreicher Tag bezeichnet wurde. Sie hoffen, dass alle das nachmachen. Aber es gibt auch Menschen, die sagen: Die palästinensische Sache ist ihnen wichtig, die brauchen einen eigenen Staat, aber so kann es mit der Hamas nicht weitergehen, weil sie ihre eigenen Leute total in Gefahr bringt. Solche Momente finde ich erhellend.
Gibt es Parallelen zwischen dem 7. Oktober und 9/11 für die Radikalisierung von Jugendlichen, vor allem mit Migrationsgeschichte?
Ja, ich hatte einen krassen Flashback. Cousins und Cousinen erleben gerade in der Schule, dass sie nach dem Angriff der Hamas Rede und Antwort stehen müssen. Aber sie fragen sich: Was hat die Hamas mit mir zu tun? Nur weil ich muslimisch bin, heißt das nicht, dass das meine Verwandten sind, die Israel angegriffen haben. Diese Rechtfertigung führt zu einem extrem unangenehmen Gefühl, sie werden in einen Topf mit den Terroristen des 7. Oktober geworfen. Sie müssen ständig gegen einen Pauschalverdacht des Antisemitismus arbeiten. Und das ist ermüdend.
Welche Auswirkungen hat das?
Ich weiß das von meiner eigenen Biografie nach 9/11: Ich wurde von der deutschen Mehrheitsgesellschaft mehr zum Muslim gemacht als von der muslimischen Community selbst. Letztere fragte mich eher: Bist du für Schalke oder Dortmund? Aber die Deutschen sagten: Na, rechtfertige dich mal für die islamistischen Terroranschläge. Man wird von außen als muslimisch gelabelt. Und mein Umgang als Jugendlicher damit war: Wenn sie sowieso denken, dass wir alle Terroristen sind, dann lass uns denen das doch mal richtig fett spiegeln. Mit vierzehn bin ich mit Freunden in die Bahn eingestiegen und wir haben „Allahu Akbar“ geschrien. Das war meine provokante Art, mit diesem Schmerz umzugehen. Und diesen Mechanismus erlebe ich heute ganz oft in der Jugendarbeit: Wenn die Mehrheitsgesellschaft die Jugendlichen nur als Hamas-Unterstützer sieht, dann geben sie der Hamas ihre Unterstützung – als Provokation. Denn sie bekommen oft nicht beigebracht, mit diesen Zuschreibungen umzugehen. Wir müssen über diesen Schmerz reden – und darüber, dass es auch Alternativen im Umgang damit gibt.
Zum Beispiel?
Bei mir persönlich haben diese Zuschreibungen eine starke Krise ausgelöst, weil ich bemerkt habe: Ich orientiere mein gesamtes Verhalten an den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft, indem ich diese Zuschreibungen völlig überspitze. Ich fragte mich: Wer bin ich persönlich? Was ist mein Charakter? Und für welche Werte trete ich ein? Es ist eine emotionale Leere. Aber es ist wichtig, betroffenen Jugendlichen zu sagen: Ich kenne dieses Gefühl sehr gut aus meinem Leben. Lasst uns zusammen gucken, wie wir gemeinsam aus all diesen Nummern rauskommen können. Wie wir Worte für unsere Erfahrungen finden, aber auch Worte dafür, wenn Gewalt von uns ausgeht.
Gleichzeitig haben islamistische Gruppierungen ein leichtes Spiel und fangen diese Frustration effektiv auf. Inwiefern bestimmen sie das Denken über Israel und den 7. Oktober?
Islamistische Bewegungen haben es geschafft, die Deutungshoheit an sich zu reißen – zum Thema Palästina, Israel oder muslimische Identität. Auf TikTok sagen sie: Wenn du ein richtiger Muslim bist, dann stehst du hinter Palästina. Und sie wissen, dass der Nahostkonflikt in den sozialen Medien das emotionalste Thema der Welt ist. Sie schneiden Videos von toten Kindern, weinenden Müttern und kaputten Gebäuden in Gaza. Islamisten haben es geschafft, 24/7-Dauerangebote zu schaffen – für die Fragen, für die Zweifel, für die Unsicherheiten dieser Jugendlichen. Mit Erfolg: Der 7. Oktober hat leider sehr viele Jugendliche emotionalisiert, die nun denken, Israel sei an allem schuld. Und die Accounts, die ich schon vor diesem Tag beobachtet habe, haben jetzt drei- oder viermal so viele Follower. Manche dieser Accounts haben inzwischen über 200.000 Abonnent*innen. Wo diese Entwicklung hinführt, macht mir Angst.
Wie schätzen Sie den Einfluss der Muslimbruderschaft ein?
Sehr groß, vor allem ideologisch. Wir müssen diese Gefahr endlich ernst nehmen. Aber stattdessen fördert man gerne muslimische Bewegungen, die den Muslimbrüdern inhaltlich nahestehen und ihre Ideologie verbreiten. Zu ihrer Strategie gehört auch, dezentral zu agieren. Es ist auch die Strategie der Grauen Wölfe, die jetzt schon im Falle eines Verbots darauf hinarbeiten, dass sie dezentral organisiert sind. Das bedeutet in der Praxis, dass beide nicht offen unter diesen Labels agieren.
Es gibt auch progressive muslimische Stimmen, die islamistische Organisationen kritisieren. Werden sie alleine gelassen?
Ich finde es immer wieder bemerkenswert, welche Hoffnung die deutsche Politik in die muslimischen Verbände hat, die beim Thema Antisemitismus oder Islamismus einfach nicht liefern – und zwar nicht nur seit dem 7. Oktober. Es gibt so wenig Selbstkritik, so selten eine klare Haltung von diesen Verbänden. Und ja, die progressiven Stimmen werden alleine gelassen. Das hat zur Folge, dass noch weniger Personen aus der Community sich kritisch äußern: Warum sollen sie sich in Gefahr bringen, wenn die Mehrheitsgesellschaft sie nicht schützt? Laut gegen Antisemitismus zu sein, kann schlimmstenfalls bedeuten, unter Polizeischutz leben zu müssen. Ohne Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft überlegt man zweimal, ob man so ein Leben möchte. Gleichzeitig werden diejenigen in der muslimischen Community, die gegen Antisemitismus arbeiten, selbst unter Verdacht gestellt oder als Antisemiten beschimpft. Das führt zu einer großen Frustration unter progressiven Kräften. Und das spitzt sich seit dem 7. Oktober zu. Denn sie machen eine doppelte Bildungsarbeit: Auf der einen Seite klären sie über Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft auf, auf der anderen Seite über Antisemitismus in der eigenen Community.
Oft wird Neukölln zum Problembezirk schlechthin erklärt. Aber auch in Nordrhein-Westfalen, wo Sie herkommen, sind islamistische Gruppierungen erfolgreich. Woran liegt das?
Nach dem Samidoun-Verbot wusste ich sofort, dass sie nach Nordrhein-Westfalen ausweichen würden. Weil sie hier zwei Sachen finden: Jugendliche, die von Armut betroffen sind, was zu Frustration und Wut führt. Und Jugendliche, die von Rassismus betroffen sind, was nochmal frustrierter und wütender macht. Genau dieser Nährboden ist im Bundesland weit verbreitet. Das haben türkische Faschisten wie die Grauen Wölfe begriffen, das haben die Muslimbrüder begriffen, und das hat Samidoun, eine Vorfeldorganisation der palästinensischen Terrorgruppe PFLP, auch begriffen.
Wie sehen also effektive Präventionsstrategien aus?
Wir müssen radikal umdenken und in Bildung stark investieren. Und wir brauchen pädagogische Angebote, die längerfristig angedacht sind und entsprechend gefördert werden. Eine Finanzierung für ein halbes Jahr ergibt keinen Sinn mehr, wir brauchen eine für mindestens fünf Jahre. Und zwar nicht nur in der Jugendbildung, sondern auch in der Erwachsenenbildung – die Eltern vergessen wir in dieser Debatte sehr häufig. Wir brauchen endlich ein Demokratiefördergesetz. Oft stelle ich meine eigene Arbeit infrage, besonders seit dem 7. Oktober. Ich denke: Das bringt doch alles gar nichts. Viele im Bildungssektor sind momentan an ihren Grenzen.
Wie können wir Rassismus und Antisemitismus gemeinsam bekämpfen?
Es beginnt, indem wir beide Phänomene ernst nehmen – und genau das machen viele nicht. Der Attentäter von Halle kam in die Synagoge nicht rein, also griff er einen Dönerladen an: Wenn Rechtsextreme Rassismus und Antisemitismus zusammendenken, dann müssen wir das als demokratische Gesellschaft auch in unserer Bekämpfung tun.
Chronik: Antisemitische Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023 in Deutschland
Nicht erst seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 zeigt sich: Sobald es im Nahostkonflikt eskaliert, nehmen auch in Deutschland die antisemitischen Vorfälle deutlich zu. Doch das Ausmaß ist diesmal erschreckender denn je. Die folgende Auswahl von Vorfällen verdeutlicht das Ausmaß an Sachbeschädigungen, Schändungen, Bedrohungen, Beleidigungen und tätlichen Angriffen. Sie befinden sich in der von der Amadeu Antonio Stiftung geführten Chronik antisemitischer Vorfälle. Diese Chronik hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist nicht repräsentativ. Sie zeigt jedoch auf, wie alltäglich und allgegenwärtig Antisemitismus ist. Seit dem 7. Oktober nochmal mehr. Zur Online-Chronik antisemitischer Vorfälle: www.chronik-antisemitismus.de
9. Oktober 2023, Hamburg: Angriff auf zwei Frauen nach israelsolidarischer Kundgebung
Zwei Männer greifen zwei Frauen von hinten an, schlagen und treten sie. Die Angreifer reißen den Frauen eine Israelfahne aus der Hand und bespucken die Fahne. Die beiden Frauen sind zu diesem Zeitpunkt mit dem Abbau der Kundgebung beschäftigt.
16. Oktober 2023, Berlin: Paar wird mit Feuerwerkskörper angegriffen
Unbekannte greifen ein Paar, das sich auf Hebräisch unterhält, mit einem Feuerwerkskörper an.
18. Oktober 2023, Berlin: Brandanschlag auf jüdisches Gemeindezentrum
Zwei Menschen werfen nachts Molotowcocktails in die Richtung eines jüdischen Gemeindezentrums, in dem sich unter anderem eine Synagoge, eine Schule und eine Kita befinden. Das Gebäude wird dabei verfehlt. Später fährt ein Mann am jüdischen Gemeindezentrum vorbei und versucht, einen Gegenstand aus seiner Tasche zu ziehen. Die Polizei nimmt ihn direkt fest.
31. Oktober 2023, Frankfurt am Main: Antisemitische Graffiti am Gedenkort der ehemaligen Synagoge
Am Gedenkort der ehemaligen Synagoge werden Graffiti mit den Slogans „Stop Bombing Gaza, Free Palestine, Zionist Assassin“ gesprüht.
31. Dezember 2023, Berlin: Mahnmal zur Rettung jüdischer Kinder beschmiert
Unbekannte beschmieren ein Mahnmal, das an die Kindertransporte erinnert, an die Rettung von jüdischen Kindern während des Nationalsozialismus. Die Schmiererei stellt die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem dar.
6. Januar 2024, Berlin: Angriff auf zwei Personen
Zwei Männer unterhalten sich in einem Schnellrestaurant abfällig gegenüber einer Frau und einem Mann, die Hebräisch sprechen. Nach einem Wortgefecht verschüttet einer der Männer in Richtung der Frau ein Getränk und schlägt sie mit einem Stuhl. Als sich ihr Begleiter schützend vor sie stellt, schlägt ihm der Angreifer ins Gesicht.
2. Februar 2024, Berlin: Angriff auf einen jüdischen Studenten
Als ein jüdischer Student der Freien Universität Berlin eine Bar in Berlin-Mitte verlässt, wird er aufgrund seines Aktivismus für die Freilassung der Geiseln in Gaza von einem Kommilitonen erkannt. Dieser verfolgt ihn und greift ihn mit Tritten und Schlägen an. Der jüdische Student wird mit starken Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht.
18. Februar 2024, Babenhausen: Holocaust-Mahnmal mit roter Farbe beschmiert
Unbekannte übergießen eine weiße Gedenkstele, die an die Holocaust-Opfer aus Babenhausen erinnert, mit roter Farbe.
8. März 2024, München: Verbotener antisemitischer Slogan auf Bungalow nahe Olympiastadion München
Unbekannte schmieren den strafbaren antisemitischen Slogan „From the River to the sea, Palestine will be free“ auf Arabisch an einen Wohnungseingang. Der Schriftzug bleibt monatelang unentdeckt. Er befindet sich genau in der Straße des Olympiadorfs, in der 1972 ein palästinensischer Terrorangriff mit Geiselnahme stattfand, bei dem elf israelische Athleten starben.
23. März 2024, Freiburg im Breisgau: Syrisches Restaurant bietet israelisches Gericht an und wird daraufhin bedroht
Ein syrisches Restaurant teilt über Social Media, dass es einen israelischen Auberginenaufstrich anbieten wird. Daraufhin werden die Betreiber*innen über Privatnachrichten und Anrufe terrorisiert, antisemitisch beleidigt und im privaten Wohnumfeld bedroht, weiterhin werden Hauswände beschmiert.
Antisemitischer Antiimperialismus
Eine junge Frau, die eine Kufiya über ihrer Schulter trägt, hält eine Baklava-Schachtel in ihren Händen. Sie wird begleitet von einem jungen Mann, der eine Palästina-Flagge auf seinen Rücken gespannt hat. Als sie das Gebäck aus Blätterteig, Pistazie und Zuckersirup an einer belebten Straße verteilt, bleiben einige Männer stehen.
Die Szene findet am 7. Oktober 2023 in Berlin-Neukölln statt – erst wenige Stunden, nachdem islamistische Terroristen das Supernova-Festival in der Negevwüste sowie dutzende weitere Kibbuzim an der Grenze zu Gaza überfallen haben. Rund 1.200 Menschen wurde ermordet, über 250 entführt. Für Mitglieder des Samidoun-Netzwerks ist der brutale Terror ein Anlass, um Süßigkeiten zu verteilen.
Samidoun schreibt via Instagram: „Es lebe der Widerstand des palästinensischen Volkes.“ Das Netzwerk teilt mit, es verteile Süßigkeiten „zur Feier des Sieges des Widerstandes“. Die offene Verherrlichung des Hamas-Terrors ruft Entsetzen hervor und markiert den Anfang vom Ende des Samidoun-Netzwerks in Deutschland.
Der Name kommt aus dem Arabischen und bedeutet „standhaft“. Die Gruppierung hat den Anspruch, ein „Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene“ zu sein. Für die Standhaften. Allzu oft: für Terroristen. Samidoun wurde 2012 von Mitgliedern der PFLP in den USA gegründet. Die PFLP steht auf der Terrorliste der USA, der EU und Israels. In einer Pressemitteilung auf ihrer Webseite äußerte sie Unterstützung für die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober.
Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz das Samidoun-Verbot angekündigt hatte, teilt das Netzwerk mit, „dass wir standhaft bleiben und uns für das palästinensische Volk einsetzen werden, bis zum Sieg, zur Rückkehr und zur Befreiung“. In der Erklärung legt Samidoun ihr antiimperialistisches Weltbild offen. Eine antagonistische Sichtweise wird konstruiert: Unterdrücker vs. Unterdrückte, die Bösen vs. die Guten. Auf der einen Seite: der Imperialismus; genauer: die „imperialistischen Mächte“ – USA, Israel, Deutschland – die gewissenlos, machthungrig und zerstörungswütig seien. Auf der anderen Seite: die Ausgebeuteten, Entrechteten, Kolonialisierten.
All dies wird gerade mehr denn je auf die Situation der Palästinenser*innen projiziert. Der Glaube an eine Verschwörung klingt an: „Alle imperialistischen Mächte der Welt stehen Schlange, um die Zerstörung des palästinensischen Volkes zu bejubeln, zu finanzieren und zu bewaffnen.“ Gleichzeitig wird der Widerstand beschworen: „Palästinenser, Araber und internationale Menschen mit Gewissen werden sich nicht an dieser Zerstörung beteiligen.“
Der konstruierte Antagonismus ist unterkomplex. Die eine Seite wird zum absolut Guten, die andere zum absolut Bösen stilisiert. So werden die Israelis – ob Zivilist*innen oder Soldat*innen – zur Zielscheibe. Der Antagonismus lässt keine Gleichzeitigkeiten zu. Er hat keinen Platz für Solidarität mit den israelischen Geiseln der Hamas. Stattdessen wird Israel nicht selten mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt.
In der Linken hat der Antagonismus eine lange Tradition. Schon in den 1920er-Jahren wurde er propagiert. „Hierbei wurden die antikolonialen Befreiungskämpfe als Teil des weltweiten Klassenkampfes gegen den ‚Weltimperialismus‘ gedeutet“, stellen Thomas Haury und Klaus Holz in ihrem Buch „Antisemitismus gegen Israel“ (2021) fest.
1947 verkündete die Sowjetunion auf dem Gründungskongress der Kominform die „Zwei-Lager-Theorie“. Diese „Theorie“, die zwischen kriegslüsternen und friedliebenden Mächten unterschied, verteufelte den Feind. Hinter dem „Weltimperialismus“ glaubte man, eine Elite von „Dollarkönigen“ zu erkennen.
Die Sowjetunion ging in den frühen 1950er-Jahren, im Zuge der israelischen Westorientierung, auf die arabischen Nachbarstaaten Israels zu. Jene Entwicklung hatte strategische und machtpolitische Gründe. Nach dem Sechstagekrieg im Juni 1967 wurde die Entwicklung von antizionistischer Propaganda begleitet.
Antiimperialismus und Antizionismus waren aber sowohl in der DDR als auch in der Linken Westdeutschlands fest verankert. 1969 verübten westdeutsche Linksterrorist*innen einen Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße. Technische Mängel verhinderten letzten Endes die Explosion. Die Tupamaros West-Berlin begründeten ihren Anschlag mit „faschistischen Gräueltaten Israels“. Die Israelis werden hier als die neuen Nazis gezeichnet.
Auch andere Linksterrorist*innen wie Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) besuchten paramilitärische Ausbildungslager samt Schießtrainings der Fatah. Die Fatah ist Teil der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die maßgeblich am Münchner Olympia-Attentat 1972 beteiligt war. Sie überfiel damals das israelische Wohnquartier und ermordete insgesamt elf Israelis.
Bis heute ist das antiimperialistische und antizionistische Weltbild, das Gewalt gegen Israelis und Jüdinnen*Juden gutheißt, in Teilen der deutschen Linken fest verankert. Im November 2020 schrieb das Samidoun-Netzwerk: „Welche Sprache verstehen die zionistischen Verbrecher, außer der Sprache des bewaffneten Kampfes?“
In Deutschland wurde Samidoun von der Roten Hilfe unterstützt: Die linke Rechtshilfeorganisation stellte der Gruppierung ihr Bankkonto für Spenden zur Verfügung. Im Oktober 2023 erklärte der Bundesverband der Roten Hilfe die Zusammenarbeit jedoch für beendet, bevor die Berliner Ortsgruppe diese Distanzierung wieder zurückwies. „Unabhängig von unserer Position zu Samidoun verurteilen wir die staatlichen Bestrebungen, Samidoun zu verbieten“, heißt es im Statement.
Der deutsche Samidoun-Ableger, der rund 4.500 Instagram-Follower hatte, wurde Anfang November 2023 durch das Bundesinnenministerium verboten. Bis heute wird, trotz Verbot, im Netz aufgerufen, Samidoun Deutschland per Spende zu unterstützen. „Wir können derzeit keine Online-Spenden annehmen, verarbeiten jedoch Papierschecks“, heißt es. Man solle Schecks an die Alliance for Global Justice in den USA senden. Nach dem Verbot erklärten antiimperialistische Gruppen wie Palästina Spricht ihre Solidarität: „Wir verurteilen das Verbot von Samidoun und stehen in diesem Kampf für die Befreiung Palästinas solidarisch an der Seite unserer Genoss:innen von Samidoun.“
Schon zuvor hatte die Gruppierung Palästina Spricht einen Post des Netzwerks, in dem das Süßigkeiten-Verteilen gefeiert wurde, geteilt. Im Vergleich zu Samidoun hat Palästina Spricht eine deutlich größere Reichweite. Der deutschsprachige Instagram-Account hat fast 50.000 Follower. Hinzu kommen Accounts mehrerer Lokalgruppen in Hamburg, München und Stuttgart.
Laut Eigenaussage war die Gründung von Palästina Spricht eine Reaktion auf den Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages vom Juni 2019. Die BDS-Kampagne („Boycott, Divestment and Sanctions“) fordert offiziell, Israel zu boykottieren. Ihre Argumentationsmuster und Methoden werden vom Deutschen Bundestag sowie unzähligen jüdischen und antisemitismuskritischen Organisationen weltweit als antisemitisch eingestuft.
In den vergangenen Jahren spielte insbesondere die BDS-Kampagne eine zentrale Rolle. Mittlerweile lässt sich vielfach beobachten, dass die Argumente und Narrative von BDS weite Verbreitung finden, oft ohne, dass dieses Label offen benutzt wird. Nach dem 7. Oktober zeigte sich, wovor Expert*innen lange warnten: dass die BDS-Bewegung keineswegs ein harmloser Zusammenschluss ist, der gewaltfreien Protest organisiert, sondern dass sie Antisemitismus verbreitet und durchaus mit Terrororganisationen zusammenarbeitet.
Etliche BDS-nahe Gruppierungen verklärten oder verherrlichten die genozidale Gewalt der Hamas als Befreiungsschlag, die offizielle Webseite rief am 8. Oktober verstärkt dazu auf, die Kampagne zu unterstützen. Und die Terrorgruppen Hamas, PFLP, Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) und Islamischer Jihad in Palästina (PIJ), die Israel am 7. Oktober angriffen, sind durch die Koalition „Palästinensische nationale und islamische Kräfte“ bis heute Teil des sogenannten BDS-Nationalkommittees.
Palästina Spricht verfolgt das Ziel, die „illegale Besatzung Palästinas durch den Staat Israel sowie dessen Apartheid-System [zu] beenden“. Gemeint ist offenbar auch das Kernland Israel – und damit das Ende des jüdischen Staates. Und um dieses Ziel zu erreichen, sind offenbar alle Mittel recht. „Today is a revolutionary day to celebrate“, erklärte Palästina Spricht anlässlich des Hamas-Terrors vom 7. Oktober 2023: „Gaza just broke out of prison.“ Was Hamas getan hat, sei „Widerstand“ und „kein Akt des Terrorismus“. Bei einem Mitglied von Palästina Spricht fand aufgrund des Verdachts, den Terror gebilligt zu haben, eine Hausdurchsuchung statt.
Der Name Palästina Spricht wirkt harmlos. Er suggeriert, Palästinenser*innen hätten eine Stimme – und die werde von dieser Gruppe gesprochen. Fakt ist: Nicht alle Palästinenser*innen heißen den Terror gut. Mit dem Gruppennamen werden die Palästinenser*innen vereinnahmt und mit Gewalt und Terror in Verbindung gebracht.
Dass antiimperialistische Gruppierungen mit radikalen Islamist*innen immer wieder liebäugeln, ist nichts Neues. Nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan sang das trotzkistische Portal Marx21 – organisiert in der Linkspartei – ein Loblied auf das „faire“ Justizsystem der Taliban.
Eine mögliche strategische Zusammenarbeit zwischen Linken und Islamist*innen war auch Thema eines Vortrags des ägyptischen Aktivisten Hossam el-Hamalawy mit dem Titel „Leftists and Islamists working together?!“. Die Veranstaltung, organisiert von der Marx21-Splittergruppe Revolutionäre Linke, sollte zunächst im Berlin-Kreuzberger Mehringhof stattfinden, bevor sie nach Kritik wieder ausgeladen wurde. Beim zweiten Versuch sollte die Veranstaltung im Projektraum H48 in Neukölln stattfinden, doch auch dieser Veranstaltungsort platzte. Schließlich fand die Revolutionäre Linke einen Raum im Stadtteilladen Zielona Gora in Friedrichshain.
Der Vortrag, den es auf Spotify nachzuhören gibt, beschäftigt sich überwiegend mit dem Verhältnis zwischen der Muslimbruderschaft und linken Studierendengruppen in Ägypten. Das Setting suggeriert, die Zusammenarbeit könne auch eine Lehre für Deutschland sein. Islamismus habe seine Wurzeln in antikolonialen Kämpfen, das Ziel sei nicht die Zerschlagung der Arbeiterbewegung, sagt el-Hamalawy fast als Entwarnung für sein linkes Publikum. Die Position der ägyptischen Linken in den 1990ern hieß: „Wir sind manchmal mit den Islamisten, aber niemals mit dem Staat.“ Durch Solidaritätsveranstaltungen für die Palästinenser*innen und den Irak oder Parolen gegen die USA gab es durchaus ideologische Anknüpfungspunkte, auch wenn Linke eine andere, eine marxistische Analyse mitbrachten.
Die Idee ist nicht neu. Bereits 1994 schrieb Chris Harman, der Aktivist der Marx21-Schwesterorganisation Socialist Workers Party in Großbritannien war, in der Broschüre „The Prophet and the Proletariat“ (auf Deutsch unter dem Titel „Politischer Islam – eine marxistische Analyse“ erschienen): „In manchen Fragen werden wir uns auf der gleichen Seite wie die Islamisten gegen den Imperialismus und den Staat wiederfinden. Das war beispielsweise der Fall in vielen Ländern während des ersten Golfkriegs. Das gilt auch für Länder wie Großbritannien oder Frankreich im Kampf gegen Rassismus. Da, wo sich die Islamisten in der Opposition befinden, sollte unsere Leitlinie sein: ‚Mit den Islamisten manchmal, mit dem Staat niemals.‘“
Ramsis Kilani, ein Sprecher der Gruppe Palästina Spricht und Anhänger von Marx21, zitierte diese Passage im August 2022 in einer Story auf Instagram. Seit dem 7. Oktober nahm diese Idee an Fahrt auf, weil immer mehr Antiimperialist*innen den ideologischen und aktivistischen Schulterschluss mit Islamist*innen suchen. In einem anderen Text forderte Harman, dass man den „Befreiungskampf bedingungslos unterstützen“ müsse. Erst dann sei man „berechtigt, seine Führung zu kritisieren“. Während im Text selbst kein Bezug zu Israel oder islamistischen Gruppierungen besteht, bezog Kilani diese Aussage in einem Post vom April 2024 auf den „militärischen Widerstand“ gegen Israel. Und damit auf Hamas & Co.
Fallbeispiel #2: Linker Kongress der Terrorverherrlichung
Am Ende geht alles ganz schnell: Nach weniger als einer Stunde, nachdem der umstrittene „Palästina-Kongress“ mit rund 250 Besucher*innen im Bürohaus „Germaniabogen“ in Berlin-Tempelhof begonnen hat, löst die Polizei die Veranstaltung auf. Die anderen 550 Ticketbesitzer*innen durften nicht mehr rein, teilweise demonstrieren sie dann stattdessen vor dem Gebäude.
Der Kongress, der vom 12. bis 14. April 2024 stattfinden sollte, wird von vielen jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen sowie Vertreter*innen aller demokratischen Parteien kritisiert. Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union in ver.di moniert in einer Pressemitteilung: Der Kongress zeige „eine beunruhigende Missachtung des grundlegenden demokratischen Prinzips der Pressefreiheit“.
Eingeladen hat eine Vielzahl antiimperialistischer linker Gruppierungen, wie Palästina Spricht, Revolutionäre Linke oder Arbeiterinnenmacht. Auch BDS Berlin, die mit dem Boykott Israels ein Ende des jüdischen Staates anstrebt, unterstützt die Veranstaltung. Im Impressum der Website wird die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, ebenfalls eine BDS-nahe Gruppe, genannt.
In der Ankündigung werfen die Veranstalter*innen dem Staat Israel vor, er verübe einen Genozid: Und die Bundesregierung helfe dabei. Daher soll der Kongress auch ein Tribunal sein. Das Motto: „Wir klagen an!“
Doch während Salman Abu Sitta, ein Historiker und palästinensischer Aktivist, seine Ansprache via Zoom beginnt, stellt die Polizei den Strom ab. Der Grund: Abu Sitta hat, neben einem Einreiseverbot, ein politisches Betätigungsverbot in Deutschland. Jenes Betätigungsverbot greift im Falle eines Livestreams. Die Polizei erklärt in den sozialen Netzwerken: „Es besteht die Gefahr, dass wiederholt ein Redner zugeschaltet wird, der sich schon in der Vergangenheit antisemitisch bzw. gewaltverherrlichend öffentlich geäußert hat. Daher wurde die Versammlung beendet und auch für Samstag sowie Sonntag ein Verbot ausgesprochen.“
Dass Salman Abu Sitta ein politisches Betätigungsverbot in Deutschland hat, lässt sich mit seiner Nähe zum islamistischen Terrorismus erklären. Nach Recherchen der Welt soll er bereits mit einem der ranghöchsten Hamas-Führer auf einer Konferenz der islamistischen Terrororganisation in Gaza aufgetreten sein. Der Tagesspiegel berichtete, Abu Sitta habe geäußert, er bewundere die „Courage“ der Hamas-Terroristen. „Heldenhaft“ würden sie ihr Land verteidigen. Weiter schrieb die Zeitung: „Wäre er jünger, sagt Salman Abu Sitta, hätte er am 7. Oktober vielleicht selbst an den Attacken auf Israel teilgenommen.“
In Politik und Medien wurden Redner*innen wie Salman Abu Sitta, die im Rahmen des Events auftreten sollten, bereits Wochen vor dem Kongress kontrovers diskutiert. Auch der Arzt Ghassan Abu Sitta, der reden sollte: Er lobte den verstorbenen Mitgründer palästinensischen Terrororganisation PFLP und an dessen Trauerfeier teil.
Francesca Albanese, Juristin und UN-Sonderberichterstatterin zur Menschenrechtssituation in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten, sollte eine Headlinerin sein. Doch sie stellt gegenüber dem Tagesspiegel klar: Ihr Name sei ohne ihr Wissen auf der Rednerliste gelandet. Trotz einer Bitte an die Veranstaltenden, den Fehler zu korrigieren, wirbt der Kongress wochenlang weiter mit dem Namen des vermeintlichen Stargasts.
Yanis Varoufakis hingegen, der ehemalige Finanzminister Griechenlands und heutige Chef der Partei DiEM25, kontert auf kritischer Nachfrage zu seiner Teilnahme: Das sei eine „großartige“ Veranstaltung, die er verteidigen werde. Auch er wurde unter noch ungeklärten Umständen mit einem temporären Einreiseverbot verhängt, nach eigenen Angaben soll er auch mit einem Betätigungsverbot verhängt worden sein. Zu den anderen eingeladenen Redner*innen gehören weniger bekannte Aktivist*innen, die in den sozialen Medien mit beleidigenden, aggressiven und antisemitischen Beiträgen auffallen. Bei weiteren Teilnehmer*innen und Mitplaner*innen kommt es im Vorfeld zu Hausdurchsuchungen, unter anderem offenbar wegen Nötigung.
Die Kontroverse um das geplante Programm des Kongresses dürfte vermutlich zur Entscheidung der Sparkasse beigetragen haben, das Konto der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost einzufrieren. Der Berliner Verein hat sein Konto mutmaßlich genutzt, um Spenden für die Durchführung der Veranstaltung zu sammeln. Bis zum Einfrieren des Kontos sammelt der Verein rund 15.000 Euro auf der Crowdfunding-Plattform GoFundMe. Er beklagt, „im Jahr 2024 wird jüdisches Geld erneut von einer deutschen Bank beschlagnahmt“. Eine Anspielung auf die „Arisierung“ im Nationalsozialismus.
Eine Pressekonferenz der Veranstalter*innen, die kurz vor Beginn des Kongresses stattfindet, macht nochmal deutlicher, wohin die Reise geht: Auf die Frage, ob man die Hamas und deren islamistischen Terror verurteile, weicht der Vorsitzende der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost aus. „Es geht hier weder um Verurteilung noch um Rechtfertigung“, erklärt er. Nach der Auflösung des Kongresses veröffentlicht Varoufakis die Rede, die er gehalten hätte. Darin heißt es, er verurteile zwar Gewalt gegen Zivilist*innen. Aber: „Was ich nicht verurteile, ist bewaffneter Widerstand gegen ein Apartheidsystem.“
Für die Veranstalter*innen war der Kongress offenbar dennoch ein Erfolg. Ein angekündigter Redner schreibt in den sozialen Netzwerken: „Heute war ein Riesenerfolg. Die Bilder und Berichte werden auf der ganzen Welt gesehen und Deutschland blamieren und weiter isolieren.“ Die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost stimmt ein: „Super, Deutschland hat sich vor der ganzen Welt blamiert. Mehr Aufmerksamkeit hätte man nicht bekommen können.“
Das ist eine altbekannte Taktik: Verbot als Erfolg. Die Veranstalter*innen nutzen die Auflösung zur Opferinszenierung. Das hat zur Folge, dass der Fokus von den kritischen Positionen zum Islamismus und zur Hamas auf das Verbot gelenkt wird. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des polizeilichen Vorgehens rückt die Verhältnismäßigkeit antisemitischer Positionen in den Hintergrund. Der Kongress hätte zur Normalisierung antisemitischer und terrorverherrlichender Positionen beigetragen, während eine Auflösung die Täter/Opfer-Rollen bestätigt. Ein Dilemma, worunter am Ende vor allem Betroffene leiden. Der Unterstützung islamistischen Terrors konnte Raum gegeben werden, tausende Interessierte trugen zur Normalisierung bei. Trotz Verbot hat die Allianzbildung linker und islamistischer Kräfte, deren Emanzipation sich einzig in der Befreiung von Israel erschöpft, ihre nächste Stufe erreicht.
Parallelgesellschaften, der „Problembezirk“ und der politische Islam: Interview mit Güner Balcı
Güner Balcı wurde 1975 in BerlinNeukölln geboren. Ihre Eltern waren aus der Türkei zugewandert. Nach dem Studium arbeitete sie in einem Projekt zur Gewaltprävention, später als Journalistin für ARD und ZDF über die Lage von Migrant*innen. Bekannt wurde sie mit den Romanen „ArabBoy“ und „ArabQueen“. Seit 2020 ist sie die Integrationsbeauftragte von Berlin-Neukölln.
Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus: Sie sind in Neukölln geboren und aufgewachsen. Seit 2020 sind Sie Integrationsbeauftragte des Bezirks. Was bedeutet Neukölln für Sie?
Güner Balcı: Neukölln ist mein Heimatdorf. Und wenn ich hier nicht aufgewachsen wäre, wäre ich nie so ein politischer Mensch geworden. Ich habe deshalb auch eine sehr enge berufliche und emotionale Verbundenheit zu Neukölln. Es ist sehr reich an allem. Neukölln ist aber auch ein Ort, an dem sich viele weltpolitische Konflikte widerspiegeln. Für mich ist zurzeit das Allerschlimmste, dass sich jüdische Menschen hier auf der Straße nicht sicher fühlen können. Ich empfehle derzeit Menschen, die aus Israel kommen, nicht Hebräisch zu sprechen, wenn sie in Neukölln unterwegs sind. Und das will ich nicht akzeptieren.
Warum nicht?
Meine Eltern sind in den Sechzigerjahren aus der Türkei hierhergekommen, weil Deutschland ein freies Land ist, weil es hier Demokratie gibt. Diese Freiheit muss für alle, also natürlich auch für Jüdinnen und Juden gelten. Ich will, dass sich etwas hier in Neukölln ändert – auch wenn das zwanzig Jahre dauert.
Wird es wirklich so lange dauern, Antisemitismus in Neukölln erfolgreich zu bekämpfen?
Jahrzehntelang wurde das Problem nicht nur verschlafen, sondern ignoriert. Es gab eine Gleichgültigkeit gegenüber diesem Erstarken von Antisemitismus im Alltag. Aber wer in Neukölln zur Schule gegangen ist, wusste schon relativ früh, was Phase ist. Das gilt übrigens auch für Islamismus. Seit 20 Jahren mache ich auf beide Themen aufmerksam – und muss mich ständig wiederholen. Bis heute ist das scheinbar nicht angekommen.
Nach dem 7. Oktober vermeldete RIAS einen Höchststand antisemitischer Vorfälle in Berlin. Auf Platz zwei hinter Mitte: Neukölln mit 58 Vorfällen alleine in den fünf Wochen nach dem Anschlag der Hamas. Warum gibt es dort so viele antisemitische Vorfälle?
Wir haben hier eine sehr große Gruppe von Menschen, die aus Palästina kommen oder sich sehr stark mit Palästina identifizieren. Dass die Gruppe um Samidoun vor fünf Jahren Neukölln als ihr Revier auserkoren hat, weil sie hier auf eine große Anzahl von gleichgesinnten Menschen stoßen können, hat auch dazu beigetragen. Die arabischsprachige Community in Neukölln ist vielfältig und vielschichtig. Es gibt große Unterschiede zwischen denen, die seit drei Generationen hier leben, und denen, die gerade erst ankommen. Aber oft haben wir es mit Strukturen zu tun, in denen die Familie die oberste Priorität hat und über dem Individuum steht. Und in denen ein Bekenntnis für Palästina zur muslimischen Identität gehört. Hinzu kommen islamistische Moscheevereine, die den politischen Islam leben und verbreiten. Und damit hat man eigentlich die beste Basis, um antisemitische Propaganda zu verbreiten.
Wie würden Sie das antisemitische Weltbild dahinter beschreiben?
Israel ist für zu viele dieser Menschen ganz klar der Teufel, das Land wird als übelster Aggressor schlechthin dargestellt. Und sie sehen sich als die großen Befreier. Sie denken: Wenn „der Jude“ weg ist, wird die Welt wieder in Ordnung sein. Und das ist brutal gefährlich.
In der Boulevardpresse wird Neukölln auch deshalb als Problembezirk schlechthin gebrandmarkt. Zu Unrecht?
Es ist falsch, wenn wir das Problem nur auf Neukölln verkürzen. Aber Neukölln macht es seinen Kritikern auch leicht. Zumindest die Bezirkspolitik ist in den letzten Jahrzehnten sehr offen mit dem Problem umgegangen. Und ich glaube, das zeichnet Neukölln besonders aus. Das heißt konkret: Hier wird nicht versucht, irgendwas zu vertuschen oder schönzureden. Hier stellt sich der Bürgermeister hin und sagt: Wir haben ein massives Problem, und wenn Samidoun auf der Straße rumrennt und Terror legitimiert, dann muss Samidoun verboten werden. Ich finde, die Politik in Neukölln hat auch dazu beigetragen, dass inzwischen auf Bundesebene erkannt wird: Das Problem sind nicht nur weiße deutsche Neonazis. Und nur um das nochmal zu betonen: Ja, weiße deutsche Rechtsradikale sind auch ein massives Problem.
Die Debatte wird dennoch bewusst instrumentalisiert und rassistisch aufgeladen. Wie gehen Sie damit um?
Zum Populismus gehört auch rechte Hetze gegen Menschen, die zugewandert sind. Das gab es schon immer und wird es leider immer geben. Das darf aber niemals der Maßstab sein: Wir dürfen nicht deswegen vor einer Debatte zurückschrecken. Ganz im Gegenteil. Für mich als Gastarbeiterkind ist eigentlich immer diese mangelnde Bereitschaft der Gleichbehandlung eine extreme Diskriminierung gewesen. Mein Vater kam hier als Gastarbeiter mit wenig Schulbildung an, aber er hat sich nie als Opfer gefühlt. Er wollte nicht, dass Leute ihn als den armen, unterdrückten „kleinen“ Mann aus der Türkei sehen. Leute, die wie ich eine Zuwanderungsgeschichte haben, sind sehr wohl in der Lage, kritisch zu reflektieren und Ideologien zu hinterfragen. Es ist ein Problem, wenn wir Menschen mit Migrationsgeschichte von dieser Kritik herausnehmen. Und es ist kein Widerspruch, bestimmte Einstelllungen von Menschen zu kritisieren, reaktionäre Ideologien zu hinterfragen und gleichzeitig immer und überall gegen gruppenbezogenen Hass und Hetze einzustehen.
Der Begriff Integration wirft Fragen auf: Wer integriert sich worin und was hat das mit einer pluralen, multikulturellen Gesellschaft zu tun?
Die Basis meiner Arbeit sind die Regeln und Gesetze dieses Landes. Das war auch so, als ich Journalistin war. Ich bin der Demokratie verpflichtet. Wir leben in keiner Diktatur, sondern in einem Land mit freiheitlichen Grundrechten. Das ist der Maßstab der Integration. Leute können so leben wie sie wollen, aber das müssen sie im Rahmen der demokratischen Regeln tun.
Welche Erklärungen haben Sie für den Erfolg islamistischer Verbände in Neukölln? Liegt das daran, dass viele Jugendliche in Armut aufwachsen und Diskriminierung erfahren?
Es gibt genug Beispiele dafür, dass Armut und Diskriminierung nicht automatisch dazu führen, dass Menschen extremistische Ideen entwickeln. Es wird nicht reichen, nur Diskriminierung zu bekämpfen und Geld zu investieren. So funktioniert Integration nicht. Identität und Sozialisation spielen dabei eine viel größere Rolle, daraus ergibt sich für viele Jugendliche der moralische Kompass. Anerkennung von Menschen, die einem nahestehen, ist wirkmächtig. Die nächste politische Moscheegemeinde, der angesagte islamistische TikTok-Prediger bieten Jugendlichen das.
Welche Rolle spielen islamistische Verbände und Moscheen beim Thema Antisemitismus genau?
Die allermeisten stehen der Ideologie der Muslimbruderschaft nahe. Das heißt: Sie sind für die Auslöschung Israels. Und auch wenn sie teilweise interreligiösen Dialog mit Jüdinnen und Juden fördern, stehen viele ihrer Moscheen immer wieder islamistischen Predigern nahe, die Hass gegen Juden verbreiten. Die muslimischen Verbände sind keine rein spirituellen Institutionen, sie sind politische. Und sie werden finanziert aus verschiedenen Ländern, ob aus der Türkei, Qatar, Saudi-Arabien oder dem Iran.
Geld fließt in beide Richtungen: In Neukölln wird auch für Hamas, Hisbollah und andere Terrororganisationen gesammelt.
Viele Läden im Bezirk haben sogar eine Spendenbox, mit arabischen Aufklebern darauf, die erklären, wofür genau gesammelt wird. Auch die organisierte Kriminalität hat Verbindungen zum Beispiel zur Hisbollah. Manche Jugendliche von hier machen Urlaub im Libanon, wo sie sich Militäruniformen der Hisbollah anziehen und ein Maschinengewehr in der Hand halten dürfen. Sie machen Fotos davon und zeigen sie dann stolz auf ihren Handys hier in Neukölln. Ich frage mich: Wie kann es sein, dass ein Jugendlicher, der hier aufgewachsen ist, sich eher mit der Hisbollah identifiziert?
Auch Samidoun sammelt Geld, das an palästinensische Terroristen fließt. Neukölln war eine Hochburg des Netzwerkes in Deutschland. Ist es auch nach dem Verbot durch das Innenministerium im November 2023 dort aktiv?
Ja, Samidoun ist hier weiterhin aktiv. Sie fühlen sich hier so sicher. Sie versuchen, unterschiedliche Locations und Vereine zu unterwandern. Unmittelbar nach dem Verbot haben sie vor Schulen mit Flyern geworben. 2020 wurde der Gründer Khaled Barakat, der auch Mitglied der Terrorgruppe PFLP ist, vom Berliner Landesamt für Einwanderung mit einem vierjährigen Einreiseverbot verhängt. Das dürfte jetzt bald vorbei sein und ich frage mich, ob er weiter in Neukölln agitieren wird, wenn es nicht verlängert wird.
Wenn wir von Antisemitsmus in Neukölln sprechen, müssen wir auch über eine weitere Gruppe reden: Expats. Auch manche von ihnen skandieren antisemitische Parolen auf Demonstrationen, suchen den Schulterschluss mit Islamisten. Was tun?
Da mache ich mir keine besonders großen Sorgen, ich schätze ihren Einfluss auf die Kinder und Jugendlichen in Neukölln als gering ein: Diese Leute sind nach wie vor auf der Durchreise, auch wenn sie einige Jahre hier verbringen. Für sie ist Berlin nur eine Spielwiese. Eine Handvoll von ihnen bleibt übrig und arbeitet überwiegend im Kultursektor. Ich kämpfe sehr dafür, dass solche sogenannte Expats in dem Fall dann nicht von öffentlichen Förderungen profitieren. Die „Queers for Palestine“ wissen ganz genau, dass sie in so einer Gesellschaft, für die sie sich einsetzen, nicht einen Tag Überlebenschance hätten. Und die Moscheeverbände in Neukölln sind da sehr konsequent: Sie werden Homosexuelle und Transmenschen nicht dulden. Ich kann mir also eine längerfristige Schnittmenge zwischen den beiden nicht vorstellen. Früher oder später werden sie mit Gruppen wie Generation Islam und Muslim Interaktiv physisch aneinandergeraten.
Antisemitismus unter Expats
„Expat“ bezeichnet in der Regel hochausgebildete Auswanderer*innen aus überwiegend westlichen Ländern. Menschen, deren Aufenthalt zeitlich begrenzt ist, die die Sprache ihres Gastlandes oft wenig beherrschen, die eine eigene Community bilden, statt sich in die hiesige Gesellschaft zu integrieren. Klassischerweise sind Expats Führungskräfte oder Fachpersonal. In Berlin aber auch: Kleinkünstler*innen, Techno-DJs, Barkellner*innen. Sie kommen aus New York, Melbourne oder London. Auch Expats aus nicht englischsprachigen Herkunftsländern, die Englisch als Lingua franca sprechen, lassen sich vor allem in der deutschen Hauptstadt nieder. Man könnte zugespitzt sagen: eine Parallelgesellschaft der Hipster.
In den vergangenen Jahren sind es auch oft die Berliner Expats, die lautstark Stimmung gegen Israel gemacht haben. Eine Stimmung, die immer wieder in Antisemitismus mündet. Ihr Aktivismus duldet immer wieder terrornahe oder islamistische Gruppen, die Werte vertreten, die ansonsten in starkem Widerspruch zu der liberalen, progressiven Community der Expats stehen.
Das wird am 11. Oktober 2023 deutlich, vier Tage nach dem Massaker der Hamas gegen Israel, auf dem Richardplatz in Berlin-Neukölln. Auf dem Platz sollte eine Demonstration stattfinden, die jedoch von den Behörden verboten wurde. Gekommen sind trotzdem ein paar Dutzend antiisraelische Demonstrant*innen. Eine junge Frau mit einem lilafarbenen, bauchfreien Top, einer bunten Mütze und Spitzenärmel gekleidet, spricht die Menge und die Fernsehkameras mit US-amerikanischem Akzent an.
Die Palästinenser*innen seien immer wieder aus ihrem Land herausgeschmissen worden, heißt es in ihrer leidenschaftlichen Rede, ihr Land sei kleiner und kleiner geworden. Die jüdischen Israelis wiederum seien dort fremd, „kommen nicht aus der Region“, behauptet sie – obwohl Israel das historische Land der Jüdinnen*Juden ist, die von dort in die Welt vertrieben worden sind, und obwohl über die Hälfte jüdischen Israelis heute Mizrahim sind und aus Nachbarländern nach Israel geflohen sind. Die Frau im Raver-Look wird unterbrochen von einem bärtigen Mann im weißen Gewand (Thawb) und Turban, der schreit: „Wir werden übernehmen. Allahs Sieg wird kommen.“
Die verbotene Demonstration auf dem Richardplatz in Neukölln wurde unter anderem organisiert und beworben von Gruppierungen wie Palästina Spricht und Samidoun. Nichtsdestotrotz mobilisierte etwa Room4Resistance, eine queerfeministische Partyreihe in Berlin, deren DJs zum Beispiel aus Spanien, Frankreich, den USA oder Tunesien kommen, ihre Fans zur Demonstration in einer Instagram-Story.
Palästina Spricht nennt den 7. Oktober – der Tag, an dem israelische Frauen systematisch vergewaltigt wurden und viele nach Gaza als Geisel verschleppt wurden – einen „revolutionären Tag“, auf den man „stolz“ sein müsse. Samidoun forderte bis zum Verbot auch in Deutschland die Freilassung inhaftierter palästinensischer Terrorist*innen, auch Kämpfer*innen der Hamas oder des Islamischen Jihads. Gruppierungen, mit denen eine internationale Partyreihe aus der queerfeministischen Linken normalerweise wenig zu tun hätte.
In den Monaten seit dem 7. Oktober häufen sich die Beispiele aus der sogenannten Expat-Community in Deutschland: „Free Palestine from German Guilt“ wird zur geschichtsrevisionistischen Parole der Stunde auf vielen international geprägten Demonstrationen in Deutschland. Die antiisraelische Kampagne „Strike Germany“, die „internationale Kulturarbeiter*innen“ dazu aufruft, deutsche Kultureinrichtungen aufgrund von Deutschlands Position gegen Antisemitismus zu boykottieren, wird von vielen in der internationalen Kunst- und Kulturszene in Berlin unterstützt. Und internationale Techno-DJs, die Berlin ihr Zuhause nennen, relativieren immer wieder den Terror der Hamas.
Das zeigte sich exemplarisch Ende Februar 2024: New Yorker DJs starteten die antiisraelische Kampagne „DJs Against Apartheid“. In dem Aufruf heißt es: Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober sei „bewaffneter Widerstand“ und eine „natürliche“ und „unausweichliche Reaktion“ auf die Besatzung. Die Kampagne wirbt mit einer Zitat-Kachel auf Instagram, auf der es von einem der DJs heißt: „Ruhm den Märtyrern, segne die Achse des Widerstands und befreie Palästina und sein Volk von der zionistischen Besatzung!“ Von den mehr als 2.000 DJs, die den Aufruf unterzeichnet haben, leben 137 in Berlin. Die große Mehrheit kommt nicht aus Deutschland, sondern aus Neuseeland, Großbritannien, Spanien, Irland, aus dem Libanon, Ägypten oder dem Iran.
Es war nicht der einzige Vorfall dieser Art in der international geprägten elektronischen Musikszene in Berlin, die viele Expats nach Deutschland zieht. Die antiisraelische Instagram-Seite „Ravers for Palestine“ startete im Oktober eine Boykottkampagne gegen einen Online-Sender, der von zwei Israelis betrieben wird. Resident Advisor, ein in Berlin ansässiges Online-Portal der elektronischen Musikszene, das auf Englisch veröffentlicht, teilte den Aufruf von Palästina Spricht zum „globalen Streik“ für Palästina am 20. Oktober und bewarb eine Benefizcompilation aus der Szene mit dem Titel „From the river to the sea“. Solidarität oder Empathie mit den Ermordeten, Entführten und schwer traumatisierten Überlebenden des elektronischen Supernova-Festivals, findet unter den feiernden Expats in Berlin kaum statt.
Die Expat-Szene in Berlin mag zwar eine politisch eher unbedeutsame Gruppierung sein. Aber seit dem 7. Oktober wird sie zum Komplizen einer antisemitisch aufgeladenen Protestwelle, die online und offline Wirkung zeigt. Die Berührungsängste mit Terrorversteher*innen werden offenbar immer weniger.
Was ist Antisemitismus?
Antisemitismus ist auf dem Vormarsch. Das zeigt sich nicht nur, aber auch in den stetig steigenden Zahlen antisemitischer Vorfälle – insbesondere seite dem 7. Oktober 2023. Die Grenzen des Sagbaren wurden schon durch das Pandemiegeschehen zunehmend verschoben, der schon immer dagewesene, latente Antisemitismus wird wieder offener, ungehemmter und skrupelloser gezeigt – und das von verschiedenen und durch alle Milieus. Der 7. Oktober fungiert hier als Katalysator. Wir sehen Antisemitismus auf der Straße, im Internet, an Universitäten, am Stammtisch und im Feuilleton. Die Lage ist also unübersichtlich.
Um sie abzubilden und zu analysieren braucht es Lagebilder: Diese Analyse muss zivilgesellschaftlich sein, um Partei ergreifen zu können und auf der Seite der Betroffenen zu stehen. Gleichzeitig werden damit Unabhängigkeit gewährleistet und Leerstellen ergänzt – auch die Leerstellen, die die staatlichen Erhebungen hinterlassen. Wir ergänzen, korrigieren und zeigen auf, was andernorts schlicht nicht abgebildet werden kann.
Unser zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus fragt sich: Welche Ausdrucksformen findet der Antisemitismus heute? Welche Ausmaße nimmt er an? Was macht er mit den Betroffenen? Wie nehmen Betroffene ihn wahr und was sagt uns das über aktuelle Entwicklungen? Untersucht werden alle verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus, die teils eine lange Geschichte haben. Das Lagebild erscheint ein bis zweimal jährlich.
Wir blicken von der Praxis auf den Antisemitismus; mit den Fragen und Debatten aus Vernetzungstreffen, Workshops und Veranstaltungen im Gepäck und inspiriert vom Austausch mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen der Antisemitismusbekämpfung.
Besonders wichtig ist uns hierbei der Blick von jüdischen Organisationen und Gemeinden auf Antisemitismus. Das Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung macht jüdische Perspektiven sichtbar. Nicht zuletzt, indem Jüdinnen:Juden selbst zu Wort kommen und deren Lebensrealitäten in Deutschland abgebildet werden.