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Nahost-Konflikt im Smartphone und Klassenzimmer?

Die Terroranschläge der Hamas auf Israel am 7. Oktober stellen das größte Pogrom an jüdischen Menschen seit der Shoah dar. Der damit einhergehende Anstieg von Antisemitismus in Deutschland sowie die Auseinandersetzungen über den Krieg machen auch vor Schulen nicht Halt. Gleichzeitig sind viele Jugendliche durch familiäre Bezüge von der humanitären Katastrophe in Gaza stark betroffen. Hoch emotionalisierte Inhalte und Desinformation auf TikTok und Co. bergen die Gefahr, einen Radikalisierungsprozess anzustoßen und Antisemitismus Vorschub zu leisten. Wie kann ein pädagogischer Umgang aussehen?

Von Hanna Herweg

Dieser Artikel erschien ursprünglich als Newsletter unser Kolleg*innen von Visualising Democracy. Ihr wollt über aktuelle medienpädagogische Entwicklungen auf dem Laufenden bleiben, dann abonniert ihren zweiwöchigen Newsletter und verpasst nie wieder einen TikTok Trend!

Seit dem 07. Oktober 2023 ist kein Tag ohne eine neue Meldung aus dem Nahen Osten vergangen. Geschichte und Gegenwart des Konflikts sind nicht nur für junge Menschen schwer zu fassen. Auch Erwachsenen fehlt es häufig an Wissen, was eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen zusätzlich erschwert. Zudem ruft die Informationsflut und Einordnung von Meldungen über den Krieg bei vielen eine starke emotionale Überforderung hervor. Medienkompetenz ist wichtiger denn je.

Propagandakrieg in sozialen Medien

Viele Jugendliche nutzen TikTok als Hauptinformationsquelle. Im Kontext des Krieges werden sie dadurch mit einer Flut an gewaltvollen Bildern und Desinformation konfrontiert. Vermeintliche Kriegsszenen in Nahost werden mit KI-generierten Bildern, Aufnahmen aus anderen Kriegen und sogar mit Ausschnitten aus Video- und Fußballspielen gefälscht. Correctiv und andere Faktencheck-Angebote können Abhilfe schaffen, den Überblick zu behalten.

Quelle: https://correctiv.org/faktencheck/naher-osten/

Skandalöse und emotionalisierende Videos gehen auf TikTok besonders viral. Stark emotionalisierte Bilder, die Wut, Trauer oder Angst hervorrufen, festigen Nutzer*innen in ihrer Meinungsbildung und beeinträchtigen ihr Urteilsvermögen. Es geht dann weniger um richtig oder falsch, sondern mehr um „Freund“ oder „Feind“. Inhalte werden als vertrauenswürdiger eingestuft und geteilt, wenn diese die eigene Meinung bestätigen und die entgegengesetzte Meinung falsifizieren bzw. den „Feind“ schlecht dastehen lassen. Die emotionalisierten Kurzvideos liefern stark vereinfachte Feindbilder für einen komplexen Konflikt. Das spielt vor allem dem Propagandakrieg der islamistischen Hamas in die Hände. Die Darstellung von Leid und Tod ist Teil ihrer digitalen Kriegsführung.

Die Reaktionen in Berlin auf die Explosion am 17. Oktober 2023 im Al-Ahli-Arabi Krankenhaus in Gaza mit etwa 500 gemeldeten Toten veranschaulichen die Auswirkungen von erfolgreich gestreuter Desinformation. Die Öffentlichkeit glaubte der Behauptung der Hamas, es habe sich um einen israelischen Luftangriff gehandelt. Innerhalb weniger Stunden waren auf der ganzen Welt, aber auch in der Hauptstadt – mobilisiert durch Demonstrationsaufrufe auf TikTok – mehrere Tausend Menschen auf der Straße. Behelmte Polizist*innen mussten das Denkmal für die ermordeten Juden in Europa schützen.

Auch antisemitische Verschwörungserzählungen sind im Kontext des Kriegs zahlreich im Umlauf. Dabei werden Stereotype über geldgierige Jüdinnen*Juden bedient, die vermeintlich die Weltherrschaft an sich reißen wollen, die Medien kontrollieren oder den Krieg – insbesondere die Gewalt der Hamas – nur inszenieren. Unter dem Hashtag #boycottblackfriday kursierte im Zuge der vier-tägigen Feuerpause zwischen Israel und der Hamas die Behauptung, der jüdische Staat wolle durch die Waffenruhe lediglich einem drohenden schwächeren Umsatz am Black Friday vorbeugen.

Islamistische Influencer auf TikTok

Das Vertrauen in eine Information oder Meldung steigt, wenn sie von einem Medium oder einer Person stammt, die wir sympathisch finden. Gerade junge Leute vertrauen auf die Inhalte ihrer Identifikationsfiguren. Dieser Umstand wird auf TikTok von vielen antidemokratischen Akteur*innen für ihre Propaganda ausgenutzt: In den letzten Wochen hat sich mehr denn je gezeigt, dass Islamismus popkulturell anschlussfähig ist. So sorgten einige Videos für medialen Aufruhr, in denen Influencer*innen einen Brief von Osama Bin Laden mit dem Titel „Letter to America“ anpreisen und ihre Follower*innen dazu aufrufen, ihn zu lesen. Auch in der deutschsprachigen TikTok-Sphäre wird Islamismus und Salafismus plattformgerecht gepredigt. Radikale Imame treten als Influencer auf und beantworten in Livestreams die Fragen junger Muslim*innen. Dabei wird nicht selten ein antisemitisches und misogynes Weltbild vermittelt.

Arafat Abou-Chaker erklärt Pierre Vogel, dass der Holocaust verwerflich war, da er nicht im Namen von Allah geschah und dass Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu für ihn schlimmer als Hitler sei. Quelle: Screenshot

 

Für viele Nutzer*innen stellt die Plattform auch einen Ort der Vernetzung dar: Junge Menschen verabreden sich in Kommentarspalten, um sich gemeinsam antisemitischen Protesten anzuschließen.
Durch die erhöhte Interaktion in der Kommentarspalte generiert das Video dann noch mehr Reichweite. Ein Schneeballeffekt tritt ein.

Orientierungslosigkeit (junger) Palästinenser*innen in Deutschland
Neben dem enormen Anstieg an antisemitischen Straftaten und Übergriffen, ist auch eine Zunahme rassistischer Stimmungsmache zu beobachten, insbesondere gegen Menschen mit palästinensischem Hintergrund. Diesen fehlt es in Deutschland an Hilfsangeboten und Räumen zu trauern.

Vor allem junge Palästinenser*innen erleben eine emotionale Orientierungslosigkeit und Dissonanz, die durch mehrere Faktoren gefüttert wird: Unterschiedliche Berichterstattung deutscher und arabischer Medien über den Krieg sowie die Nutzung von TikTok als Informationsquelle können zu inneren Ambivalenzen führen. Gleiches gilt für eine potenzielle Diskrepanz zwischen dem, was in der Schule zum Nahostkonflikt und Zuhause durch Familienmitglieder vermittelt wird. Zudem fühlen sich Jugendliche mit palästinensischem Hintergrund in Deutschland häufig nicht gesehen. Dabei dienen soziale Plattformen wie TikTok nicht selten als emotionaler Katalysator.

Trotz des begrenzten Einflusses von Schulen und anderen pädagogischen Räumen stellen diese eine wichtige Sozialisationsinstanz für junge Menschen dar. Gerade jetzt haben sie die Aufgabe, Raum für Trauer zu schaffen und aufzuklären. Jugendliche bleiben mit der Flut an gewaltvollen Bildern auf TikTok und Co. oft alleine. Das kann traumatisierend sein. Trauer, Wut und das Gefühl der Orientierungslosigkeit begünstigen zudem eine erhöhte Anfälligkeit für islamistische und antisemitische Propaganda. Darüber hinaus können gruppenzwang-ähnliche Dynamiken unter Jugendlichen Druck hervorrufen, sich anti-israelisch positionieren zu müssen. Wie kann ein pädagogischer Umgang Jugendliche unterstützen und gleichzeitig gegen antisemitische Denkweisen vorgehen?

Voraussetzung für eine (selbst)kritische Auseinandersetzung
Für die Bildungsarbeit gegen Antisemitismus in Jugendräumen ist es wichtig, sich zuerst der eigenen Position innerhalb antisemitischer und rassistischer Strukturen bewusst zu werden und diese transparent zu machen. Das bietet die Grundlage dafür, dass Jugendliche offener für eine selbstkritische Auseinandersetzung sind. Eine klare Haltung gegen Antisemitismus sollte ohne Generalverdacht, Schuldzuweisung und Beschämung deutlich gemacht werden. Gefühle wie Scham führen häufig zu einer Abwehrhaltung, sich mit eigenen problematischen Denkweisen oder Unwissenheit kritisch auseinanderzusetzen.

Begegnung, Nähe und Empathie schaffen
Begegnungsprojekte wie „Meet a Jew“  sorgen dafür, jüdisches Leben für Kinder und Jugendliche sichtbar zu machen. Dabei können die Lernenden in einem offenen und persönlichen Austausch Fragen an jüdische Menschen stellen und somit Vorurteile und die oftmals abstrakte Vorstellung von Jüdinnen*Juden abbauen.
Zudem kann es hilfreich sein, gemeinsam Videos oder Filme mit jüdischen Darsteller*innen und Creator*innen zu gucken. Auch zur Aufklärung der NS-Zeit gibt es mittlerweile einige jugendgerechte digitale Formate (siehe Newsletter-Ausgabe 17 und 21 “NS-Gedenken mit der Gen Z”).

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