Am 30. Mai 1993 stecken vier Täter den Eingangsbereich des Wohnhauses der Familie Genç in Brand. Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç verlieren ihr Leben. Die Opfer sind zwischen vier und 27 Jahren alt. Weitere 14 Familienmitglieder erlitten schwere Verletzungen. Im Solinger Zentrum für verfolgte Künste erinnert nun eine Ausstellung an die Opfer. Sie zeigt auch, wie unterschiedlich heute an Todesopfer rechter Gewalt erinnert wird. Gefördert wird die Ausstellung von der Amadeu Antonio Stiftung.
Von Vinzenz Waldmüller
Die Amadeu Antonio Stiftung zählt seit dem Wendejahr 1990 mindestens 219 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland. Dabei ist das Gedenken an die Opfer von Tat zu Tat sehr unterschiedlich. Die Reaktionen der Gesellschaft schwanken von Fall zu Fall zwischen Wut und Schulterzucken, Trauer und Belanglosigkeit, Aufarbeitungswillen und Verdrängung.
Über die Ausstellung haben wir mit dem Kuratoriumsteam des Zentrum für Verfolgte Künste gesprochen. “Fünf Menschen wurden ermordet, weil sie nicht Hanna oder Birte hießen, sondern Gürsün, Hatice, Gülüstan, Hülya und Saime. Sie wurden ermordet, weil Rassismus tötet. Rassismus ist Teil unserer Gegenwart, wir alle sind dafür verantwortlich”, erklärt Birte Fritsch die menschenfeindlichen Hintergründe der Tat.
Ein Klima der Gewalt
Der Anschlag in Solingen fiel in eine Zeit, in der eine ganze Serie von rassistischen Anschlägen das frisch vereinte Deutschland überzog: Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichtenhagen sind heute Begriffe für die Gewalt dieser Zeit. Das gesamtgesellschaftliche Klima war von einer Stimmung aus Hass, Rassismus und Gewalt geprägt. Davon zeugen nicht nur die offenen Übergriffe und Anschläge auf BIPoC, Linke, Punks und Obdachlose, sondern auch eine migrationsfeindliche Politik der Bundesregierung.
Viele der politischen Entwicklungen finden sich in der Familie Genç wieder. “Es ist eine Familiengeschichte, die exemplarisch gelesen werden kann für viele Familien dieser Generation, die nach dem Anwerbeabkommen nach Deutschland gekommen sind”, erzählt Kuratorin Vanessa Arndt im Gespräch. Die Geschichte solle so greifbarer werden: “Die Ausstellung erzählt eine deutsche Geschichte und stellt dabei die persönlichen Erfahrungen der Familie Genç in den Mittelpunkt. Zwischen soziopolitischen Ereignissen und Taten rechten Terrors blitzen Fotografien glücklicher familiärer Momente und Zeugnisse künstlerischen Schaffens aus der migrantischen Community wie Schätze hervor.”
Während nach der Wiedervereinigung wieder breit über eine deutsche Identität diskutiert wurde, gab es einen Anstieg der Zuwanderung nach Deutschland, vor allem im Zuge der Migration von sogenannten Spätaussiedler*innen und Menschen, die vor dem Krieg in Jugoslawien fliehen mussten. In der Debatte über die Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationsgeschichte gab es Hetzkampagnen gegen Geflüchtete und Migrant*innen, die bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreichten.
Die Politik reagierte darauf mit einer massiven Einschränkung des Grundrechts auf Asyl, mit einer Mehrheit, die durch die Stimmen der Regierungskoalition sowie der SPD zustande kam. Nur drei Tage nachdem der Bundestag diesen sogenannten Asylkompromiss verabschiedet hatte, brannte das Haus der Familie Genç.
Ein Raum der Ausstellung porträtiert die Opfer. Jedes einzelne Portrait besteht aus mehreren übereinander gelegten Schichten eines fragilen, transparenten Stoffes. So entsteht ein Abbild, das nicht nur für das Auge schwer zu fassen ist. Die Portraits stellen Betrachter*innen vor die Herausforderung, das Ungreifbare greifbar und das Unbegreifliche begreiflich zu machen.
“Je nachdem, von wo Sie auf die Bilder schauen, werden Ihnen Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç in unterschiedlicher Intensität begegnen. Einen flüchtigen Augenblick lang werden Sie ihnen in die Augen sehen, bevor das Bild wieder verschwimmt”, so Marielena Buonaiuto über die von der Künstlerin Sandra del Pilars angefertigten, berührenden Bilder.
Leugnen, Abwehren, Verharmlosen – Der Umgang mit rechter Gewalt
Noch in der Brandnacht sagte der damalige Bürgermeister von Solingen, Gerd Kaimer: „In Solingen gibt es kein rechtsextremes Potenzial. Solingen ist eine liberale, weltoffene Stadt.“ Dabei waren – wie sich später herausstellte – alle vier Täter Solinger. Das Zitat zeigt, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft häufig mit Abwehr, Verharmlosung und Leugnung auf rechte Gewalt reagiert. Es zeigt aber auch die Schwierigkeiten, gegen die ein Gedenken erkämpft werden musste.
Den an den Brandanschlag anschließenden Trauerfeierlichkeiten bleibt der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl fern. Seine Absage, wie er über seinen Regierungssprecher verlauten ließ, lag darin begründet, dass er nicht in „Beileidstourismus“ verfallen wolle. Der Sprecher verwies auch auf die „weiß Gott anderen wichtigen Termine“ des Kanzlers.
Die Absage hinterließ eine tiefe Wunde auch in der starken Mevlüde Genç, die bei dem rassistischen Brandanschlag fünf Familienmitglieder verlor. Sie war lange Zeit die große Kämpferin für das Gedenken und Toleranz. Ohne sie wäre vieles vom heutigen Gedenken in Solingen niemals zu Stande gekommen. “Die Ausstellung Solingen’93 würde ohne die mühsame und jahrzehntelange Arbeit und die fortlaufenden Kämpfe um Anerkennung und Aufarbeitung von Betroffenen rechter Gewalt sowie zahlreichen Gedenkinitiativen nicht existieren. Ihnen und all jenen, die immer noch nicht gehört und gesehen werden, möchten wir mit der Ausstellung unseren Respekt zollen”, sagt Kuratorin Hanna Sauer.
Der Kampf für das Erinnern
Denn die Aussagen des Bürgermeisters und die Absage des Bundeskanzlers sind nur eine Seite der Geschichte. Personen aus der Solinger Zivilgesellschaft und Politik wie der Türkische Volksverein, der unmittelbar gegründete „Solinger Appell“ und die Solinger Antifa rufen am Tag nach der Tat zu Protesten und Kundgebungen auf, um sich mit den Betroffenen zu solidarisieren. In den Tagen danach versammeln sich auf Demonstrationen in Solingen bis zu 10.000 Menschen, um ihrer Wut und Trauer Ausdruck zu verschaffen. Am ersten Jahrestag wird ein Mahnmal auf dem Gelände des Mildred-Scheel-Berufskollegs eingeweiht, wo Gürsün İnce Kurse der VHS besuchte. 10.000 Menschen nehmen an der Gedenkveranstaltung teil.
In Solingen wird deutlich, was traurige Realität war und ist: Große Teile der Mehrheitsgesellschaft reagieren mit Gleichgültigkeit, oder sogar mit Verdrängung. So bedarf es dem Kampf der Zivilgesellschaft und Aktivist*innen, damit das Gedenken an die Opfer rechter Gewalt in der Öffentlichkeit Raum findet. Und noch etwas anderes zeigt sich: Sobald Migrant*innen sich gegen die Angriffe organisieren, werden sie in der Öffentlichkeit als unkontrollierbare aggressive Gruppen stigmatisiert. All das dokumentiert die Ausstellung.
Das Museum Zentrum für verfolgte Künste ist ein Ort, wo den Zeug*innen zugehört werden soll. Davon zeugen die Zeitzeug*inneninterviews, die sich in der Ausstellung befinden. Über die Art des multiperspektivischen Gedenken erzählt Kuratorin Judith Steinig-Lange: „Im Rahmen unseres Interviewprojektes verstehen wir Erinnerungskultur als public history; als etwas, dass von der Stadtgesellschaft mitgetragen wird. Durch die Vielfalt der Erzählungen wird der Blick auf die Folgen von und Umgangsweisen mit rechter Gewalt als lokale Erinnerungskultur verstetigt und diversifiziert.”
Im Oktober letzten Jahres verstarb Mevlüde Genç mit 79 Jahren, sie hat die Stadt Solingen nie verlassen, hat ihre Schmerzen dort in sich getragen. Unermüdlich war ihr Einsatz für Toleranz. Nur wenige Tage zuvor wurden ihr, ihrem Mann, ihrem Sohn, der Schwiegertochter und einem der Enkel die Ausstellung und das dazugehörige Programm vorgestellt. Im Nachruf auf Mevlüde Genç bekannte sich der Oberbürgermeister Solingens, Tim-O. Kurzbach, zur Fortführung des Gedenkens:
„Noch vor wenigen Tagen haben wir zusammengesessen, um über den 30. Jahrestag des Brandanschlages im nächsten Jahr zu sprechen. Es war ihr wichtig, dass das Gedächtnis an ihre ermordeten Kinder Teil der Erinnerungskultur Solingens bleibt, auch über die Lebensspanne der Zeitzeugen [sic.] hinaus, und dass junge Menschen in die Erinnerungsarbeit einbezogen würden. Weil der Brandanschlag zeige, welche brutalen Konsequenzen Ausländerhass und Fremdenfeindlichkeit haben müssen, wenn wir Ihnen nicht immer entschieden entgegentreten. Ich habe Mevlüde Genç und der Familie versprochen, dass die Stadt dieses Gedächtnis, das jetzt ihr Vermächtnis ist, wahren wird.“
Diesem Schritt gingen aber fast dreißig Jahre unerlässlicher Kampf für Erinnerung voraus.