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Brandanschläge: Rassismus tötet, der Staat schaut zu?

Symbolbild (Quelle: Kira Ayyadi)

Brandanschläge gegen migrantische Familien und BPoC sind keine Relikte der Vergangenheit – sie passieren jetzt: in Solingen, Eberswalde oder Altenburg.

Von Luisa Gehring

Im letzten Jahr wurden Häuser in Altenburg, Solingen, Eberswalde, St. Wendel und Wilhelmshaven gezielt angezündet. Dabei starben Kinder, Eltern wurden schwer verletzt, Familien verloren ihr Zuhause. Diese Taten sind nicht zufällig, sondern oftmals rassistisch oder rechtsextrem motiviert. Dennoch gibt es in den seltensten Fällen eine wirkliche Aufklärung. Das hat auch mit institutionellem Rassismus innerhalb der Behörden zu tun: Betroffene erleben, wie Notrufe mit Akzent ignoriert werden, Rettungskräfte zu spät kommen und Einsatzkräfte mit mangelnder Empathie oder offenen rassistischen Kommentaren reagieren. Die Ermittlungsbehörden schließen rechte Motive oft vorschnell aus und verdächtigen ähnlich wie im NSU-Komplex stattdessen die Betroffenen selbst. Zeug*innen werden entwertet, rassistische Hintergründe verdrängt.

Vor Gericht erfahren Überlebende und Angehörige wenig Anerkennung, werden in ihrer Glaubwürdigkeit infrage gestellt und erleben keine echte Aufarbeitung. Die rassistischen Motive der Täter werden selten benannt oder strafverschärfend berücksichtigt. Der institutionelle Rassismus hinterlässt tiefe Wunden, die weit über die Anschlagsnacht hinausreichen. Er sorgt dafür, dass viele dieser Taten nie als das erkannt werden, was sie sind: rechte Gewalt. Ohne den Druck und das Engagement einer aktiven demokratischen Zivilgesellschaft oder der Nebenklage blieben diese Fälle oft unsichtbar. Die Geschichte der „Baseballschlägerjahre“ ist kein abgeschlossenes Kapitel. Rassistische Brandanschläge und rechte Gewalt sind Realität und Kontinuität – gestern wie heute.

25. März 2024

Ein rechtsextremer Täter zündet in Solingen (NRW) ein Wohnhaus an, in dem vor allem migrantische Menschen leben. Ein dreijähriges Kind, ein Säugling sowie ihre Eltern kommen bei dem Anschlag ums Leben. Laut Ermittler*innen sei die Tat unpolitisch. Doch der Täter besaß rechtsextremes NS-Propaganda-Material und zündelte am selben Haus bereits am 9. November 2022.
https://www.belltower.news/solingen-toedlicher-brandanschlag-von-2024-doch-rechtsextrem-motiviert-159099/  

31. Juli 2024

In der Nacht werden zwei Häuser in Altenburg (Sachsen) angezündet, in denen ausschließlich migrantische Menschen leben und ein Integrationsverein seine Räumlichkeiten hat. Neun Bewohner*innen werden verletzt. Schon zwei Monate vorher war das Haus mit rassistischen Parolen beschmiert worden, die Angreifer verteilten zudem den stinkenden Inhalt einer Bio-Mülltonne.
https://www.lvz.de/lokales/altenburger-land/brandstifter-schlagen-in-altenburg-doppelt-zu-migranten-sind-das-ziel-7Z3JFX6UIFFTVE5LDDYO7IRXA4.html 

14. September 2024

In Eberswalde (Brandenburg) wird ein Wohnhaus angezündet, in dem Menschen mit Einwanderungsgeschichte lebten. Im Erdgeschoss befanden sich ein Dönerladen und ein Barbershop. Ein vierjähriges Kind und seine 45-jährige Mutter sterben bei dem Brandanschlag. Sechs weitere Menschen werden teilweise schwer verletzt.
https://taz.de/Brand-in-Eberswalde/!6034438/ 

3. April 2025

Ein 64-Jähriger zündet in St. Wendel (Saarland) Holzpaletten vor einem arabischen Lebensmittelmarkt an. Über dem Supermarkt lebt eine syrische Familie, die bereits zuvor von dem Täter rassistisch beleidigt wurde. Verletzt wurde niemand. Nachbar*innen gelingt es, das Feuer zu löschen.
https://taz.de/Brandstiftung-im-Saarland/!6079000/

23. Juni 2025

In Wilhelmshaven (Niedersachsen) wird ein Haus angezündet, in dem ausschließlich migrantische Menschen leben. Ein vierjähriges Kind kommt dabei ums Leben, weitere Bewohner*innen werden lebensbedrohlich verletzt. Die Familie des verstorbenen Kindes habe wiederholt unter rassistischen Anfeindungen gelitten – durch Nachbarn, und Verwaltung. Vom Hausmeister sei die Familie regelrecht schikaniert worden, berichtet die taz.
https://www.belltower.news/totes-kind-in-wilhelmshaven-wenn-rassistische-gewalt-auch-vor-kindern-nicht-halt-macht-160803/

26. Juni 2025

In Aachen (NRW) wird das indische Restaurant „Maharaja“ Opfer eines rassistischen Brandanschlags. Am Tatort: Hakenkreuze und rassistische Parolen, das Restaurant selbst verwüstet. Die Staatsanwaltschaft sieht kein rassistisches Motiv. U. a. weil auch Penisse an die Wand gemalt wurden. Eineinhalb Wochen später, am 8. Juli, kam es in Aachen erneut zu mehreren Bränden. Betroffen war unter anderem das chinesische Restaurant „Yangguofu“. Durch die starke Rauchentwicklung im Gebäude, konnten die Bewohner*innen des darüberliegenden Wohnhauses nicht eigenständig fliehen. Die Feuerwehr evakuierte 21 Personen, fünf wurden zur Sicherheit ins Krankenhaus gebracht. Die Kriminalpolizei kann Brandstiftung in diesem Fall nicht ausschließen. Die Fälle werden bisher nicht in Zusammenhang gebracht.
https://www.t-online.de/region/aachen/id_100795758/rassistischer-brandanschlag-auf-maharaja-in-aachen-hilfsaktionen-starten.html 

https://www.t-online.de/region/aachen/id_100809274/aachen-feuer-in-chinesischem-restaurant-ausgebrochen-menschen-verletzt.html 

Der Skandalfall Solingen

Der Brandanschlag in Solingen aus dem Jahr 2024 steht exemplarisch für das Versagen staatlicher Institutionen im Umgang mit rassistischer Gewalt. Das Tatmotiv wurde in großem Umfang vertuscht. Die Polizei entfernt den Hinweis „rechtsextrem“ aus den Akten – per Hand und ignorierte dann weitere Indizien. 166 Dateien mit Nazi-Inhalten (Hakenkreuze, Hitlerbilder, Hetztexte) werden zunächst für den Prozess nicht ausgewertet – erst nach Druck durch die Nebenklage. Zudem gibt es diverse Aktenlücken. Von der Polizei gefundene NS-Literatur, rassistische Gedichte und Chatverläufe tauchen nicht in den Ermittlungsakten auf. Trotz allem schließt die Staatsanwaltschaft ein rassistisches oder rechtsextremes Motiv lange aus – obwohl alles darauf hinweist. Die Betroffenen werden systematisch übergangen. Überlebende und Angehörige werden nicht ernst genommen – ihre Perspektive zählt nicht.

Institutioneller Rassismus am Einsatzort

Betroffene von rechtsextremer und rassistischer Gewalt berichten immer wieder von Rassismus am Einsatzort, durch die Ermittlungsbehörden und vor Gericht.

  • Notrufe werden ignoriert oder nicht ernst genommen, insbesondere wenn die Anrufenden gebrochen oder mit Akzent sprechen
  • Rettungskräfte treffen zu spät am Einsatzort ein
  • mangelnde Kommunikation und fehlende Empathie durch Einsatzkräfte
  • rassistische Kommentare
  • Opfer werden basierend auf rassistischen Zuschreibungen beschrieben, Zahlen zur Anzahl der Betroffenen sind oft falsch

Institutioneller Rassismus durch Ermittlungsbehörden

  • Rechtsextreme Tatmotive werden vorschnell ausgeschlossen, stattdessen wird in migrantische „Milieus“ oder Familiendynamiken hinein verdächtigt
  • Betroffene oder Angehörige geraten selbst ins Visier der Ermittlungen
  • Stereotype Annahmen, mangelndes Vertrauen und die Delegitimierung von Zeugenaussagen
  • Verdachtsmomente gegen rechtsextreme Täter werden heruntergespielt oder ignoriert
  • Oft gelingt es erst durch das Engagement der Nebenklage oder Recherchen aus der Zivilgesellschaft, die rechtsextreme Tatmotivation aufzudecken

Institutioneller Rassismus vor Gericht

  • Betroffene und Überlebende werden als Zeug*innen nicht ernst genommen, in ihrer Glaubwürdigkeit infrage gestellt oder sie werden retraumatisiert
  • Fragen des strukturellen Rassismus und der institutionellen Mitverantwortung werden systematisch ausgeklammert
  • Rassistische Motive der Täter werden nicht konsequent benannt oder strafverschärfend gewertet
  • Opferfamilien fühlen sich alleingelassen. Sie berichten von mangelnder Aufarbeitung und fehlender Empathie seitens der Justiz
  • Beamt*innen decken sich oft gegenseitig. Der institutionelle Korpsgeist verhindert interne Ermittlungen

Baseballschlägerjahre 2.0?

Wenn von den Baseballschlägerjahren die Rede ist, meint das die enorme rechte Gewalt der frühen 1990er Jahre nach der Wende. In dieser Zeit kam es verstärkt zu Angriffen auf Geflüchtete, Migrant*innen oder alternative Jugendliche – aber auch zu rassistischen Brandanschlägen. Neonazis dominierten vielerorts den öffentlichen Raum, mit offener Gewalt. Man denke nur an die Bilder der ausgebrannten Häuser in Mölln (1993) und Solingen (1993) oder das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (1992). Auch sie zählen zu den ikonischen Zeugnissen der „Baseballschlägerjahre“. Wenn wir also von einer Zunahme rechtsextremer Gewalt in Deutschland sprechen, dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass viele Fälle, wie Brandanschläge, nie als solche erfasst werden. Ohne eine aktive Zivilgesellschaft bliebe oft nicht einmal eine Aktennotiz. Wir müssen laut bleiben, sichtbar machen und gemeinsam gegen Rassismus und rechte Gewalt kämpfen.


Dieser Artikel ist am 10. Juli 2025 zuerst auf Belltower.News erschienen.

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