Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen dokumentiert mit 392 Meldungen einen neuen Höchststand antisemitischer Vorfälle in Thüringen. Die Gesamtzahl der von der Meldestelle dokumentierten Vorfälle stieg im Vergleich zum Vorjahr (297) um rund ein Drittel an. Jeder achte antisemitische Vorfall ist Thüringer Hochschulen zuzuordnen. Erstmals seit Beginn der Dokumentation wurden die meisten Vorfälle der Erscheinungsform „israelbezogener Antisemitismus“ zugeordnet.
Von den 392 Gesamtvorfällen entfielen 291 auf die Kategorie verletzendes Verhalten wie antisemitische Beleidigungen, Kommentare oder Beschmierungen. 54 auf gezielte Sachbeschädigungen, 38 auf Massenzuschriften, 7 auf Bedrohungen und 2 auf Angriffe. Im bundesweiten Vergleich liegt Thüringen mit der dokumentierten Vorfallzahl im Mittelfeld, unter den ostdeutschen Bundesländern (ausgenommen Berlin) steht der Freistaat allerdings an der Spitze.
Auch im Jahr 2024 stand der Großteil der Vorfälle in direktem Zusammenhang mit den Auswirkungen und Folgen des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Militäreinsatz in Gaza. Mit insgesamt 197 erfassten Vorfällen entfielen erstmals seit Beginn der Dokumentation der Großteil der gemeldeten Vorfälle auf die Erscheinungsform „israelbezogener Antisemitismus“. Damit einher geht eine deutliche Steigerung der Vorfälle mit Hintergründen aus dem links-antiimperialistischen Spektrum (26 Vorfälle) und dem antiisraelischen Aktivismus (63 Vorfälle).
RIAS Thüringen beobachtet in diesem Kontext eine zunehmende Aggressivität und Enthemmung im antiisraelischen Protestgeschehen. So fanden beide erfassten Fälle von tätlichen Angriffen am Rande von antiisraelischen Versammlungen statt. Etwa die Hälfte aller Vorfälle fand an öffentlichen Orten wie der Straße, öffentlichen Gebäuden und Grünanlagen sowie im öffentlichen Personennahverkehr statt. Diese Zahlen verdichten das Bild einer deutlichen antisemitischen Raumnahme, welche für Betroffene einen alltagsprägenden Charakter annehmen kann. Es droht die Entstehung von Angsträumen.
In besonders zugespitzter Form äußert sich diese Entwicklung an den Thüringer Hochschulen, wo sich antisemitische Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr vervierfachten. Hier stieg die Anzahl von 10 Vorfällen im Jahr 2023 auf 46 in 2024. Da jüdische Studierende oder Hochschulmitarbeitende diese Orte nicht meiden können, ohne ihre Ausbildung oder ihren Arbeitsplatz zu gefährden, entstehen für Betroffene an hier besondere Belastungen.
„Das antisemitische Vorfallgeschehen ging 2024 in Thüringen verstärkt von gefährlichen Allianzen verschiedener scheinbar progressiver Gruppierungen, aus dem akademischen, migrantischen und
antiimperialistischen Milieu aus. Hier kam es zu einer deutlichen Steigerung der Aggressivität antisemitischer Äußerungen. Schmierereien wie „Gas Jews“ oder „Zionisten schlachten“ schaffen ein
Klima der Bedrohung und Angst für Jüdinnen und Juden“ erläutert Susanne Zielinski, Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen. „Antisemitismus aus diesen Milieus wird allerdings weitaus weniger kritisch adressiert als der aus dem rechtsextremen Spektrum. Diese Verharmlosung führt dazu, dass israelbezogener Antisemitismus ungehindert ins akademische und gesellschaftliche Leben einsickern kann.“
Der Post-Shoah-Antisemitismus blieb mit 40% der Gesamtvorfälle auch 2024 auf einem konstant hohen Niveau. Erneut äußerte sich diese Erscheinungsform durch zahlreiche enthemmte und planvolle Angriffe auf die Erinnerungskultur, die darauf abzielen die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu delegitimieren. So stellen Stolpersteinbeschädigungen und rechtsextreme Provokationen und Bedrohungen gegenüber NS-Gedenkstätten und ihren Mitarbeitenden ein kontinuierliches Grundrauschen im Vorfallgeschehen dar.
„Die im aktuellen RIAS-Bericht vorgelegten Zahlen spiegeln eine bittere Realität wider: Seit dem 7. Oktober 2023 hat antisemitische Gewalt und Anfeindung in erschütterndem Maße zugenommen. Auch Jüdinnen und Juden in Thüringen sind betroffen – viele sind in Sorge, manche leben in Angst. Antisemitismus – in welcher Form auch immer – richtet sich gegen uns alle. Für eine sachliche
Auseinandersetzung und wirksame Gegenmaßnahmen ist die Arbeit von RIAS unverzichtbar. Die Bekämpfung des Antisemitismus erfordert das Engagement der gesamten Zivilgesellschaft“, kommentiert Prof. Dr.-Ing. habil. Reinhard Schramm, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.
RIAS Thüringen ist eine zivilgesellschaftliche Dokumentations- und Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Thüringen in der Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung und wird von der Thüringer Staatskanzlei gefördert.