In den 1990er Jahren setzte in Ostdeutschland ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel ein, der mit Hass, Rassismus und Hetzjagden verbunden war. Das Ein-Personenstück „Herrentage“ der Magdeburger Kammerspiele beschäftigt sich mit Ursachen und Folgen der rechten Gewalt, die Generationen prägten und bis heute fortwirken.
Von Vera Ohlendorf
„Die Füße haben gebrannt… vom Rennen. Wenn du daran denkst, wie das war… damals… dann erinnerst du dich zuerst an das Rennen. Scheiße… du hättest auf ner Sportschule sein können so viel bist du gerannt…“
Ein kurzes Video zeigt den Magdeburger Jugendclub „Knast“, in den 1990er Jahren Rückzugsort für viele junge Punks und häufiges Angriffsziel von Neonazis. Dann betritt ein Mann die Bühne, vielleicht Ende 30. Er trägt ein schlabberiges T-Shirt, Jogginghose und Turnschuhe. Eine Glatze hat er nicht. Er übt mit einem Baseballschläger und denkt laut nach. Über seine Jugend in Magdeburg und über das „Werkzeug“ in seiner Hand: „Eigentlich ist der Baseballschläger nicht für Gewalttäter erfunden worden, sondern für Künstler*innen. Er bringt eine der größten Herausforderungen mit sich, die es im Sport überhaupt gibt: Den Ball so zu treffen, dass er aus dem Spielfeld katapultiert wird.“ Es bleibt zunächst unklar, ob er aus der Täter- oder der Opferperspektive spricht.
Rechtsfreie Räume
Der Schläger steht symbolisch für ein Lebensgefühl der 1990er Jahre, besonders in Ostdeutschland. Hier spielte Baseball keine Rolle. Nach dem Ende der DDR brach eine andere Zeit an: Neue Freiheiten einerseits, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven andererseits. Viele junge Menschen zogen in die westdeutschen Bundesländer, deutlich mehr Frauen als Männer. Ein Vakuum entstand, das von rechtsextremen Gruppen gefüllt wurde. Menschen mit Migrationsgeschichte, Wohnungslose, linke Jugendliche und alle, die als „anders“ oder „nicht-deutsch“ galten, wurden zur Zielscheibe. Der Baseballschläger bedeutete Gefahr und ständige Angst. Polizei, Behörden und die Mehrheitsgesellschaft bagatellisierten den Hass oder kapitulierten angesichts der rechtsextremen Gewalt. Für die Betroffenen gab es kaum Unterstützung.
„Herrentag“ von Autor und Regisseur Jochen Gehle widmet sich der Zeit von 1990 bis 1997 in Magdeburg. Auf Grundlage von Recherchen und Gesprächen mit Zeitzeug*innen ist, gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung, ein fiktionales Stück entstanden, das auf Tatsachen beruht, an die sich viele Magdeburger*innen erinnern. Adäquat aufgearbeitet wurden die „Himmelfahrtskrawalle“ bisher aber kaum. Wohl auch deshalb ist die Premiere der Uraufführung Anfang Oktober 2025 an zwei Abenden ausverkauft. Als Kooperationspartner sind die Landeszentrale für politische Bildung und Miteinander e.V. als Beratungs- und Bildungsinitiative im Bereich Rechtsextremismus und Prävention beteiligt.
„Es ist unser Kernanliegen, Geschichten für die Menschen hier zu erzählen, am besten mit Geschichten von hier“, erzählt Betty Magel, Produktionsleiterin der Magdeburger Kammerspiele. „Die Baseballschlägerjahre sind in Magdeburg ein gesellschaftlich sehr randständig behandeltes Kapitel. Wir wollen den Magdeburger*innen damit einen Gesprächsanlass bieten, über rechtsradikale Gewalt zu sprechen.“
„Himmelfahrtskrawalle“ 1994
In Magdeburg stehen die Baseballschlägerjahre vor allem mit den sogenannten „Himmelfahrtskrawallen“ am 12. Mai 1994 in Verbindung. Bei dem rassistischen Pogrom wurden Migrant*innen von bis zu 200 Neonazis über Stunden nahezu ungestört vor laufenden TV-Kameras und unter Beifall von Passant*innen durch die Innenstadt gehetzt. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, Geschäfte zerstört. Der 30jährige Algerier Farid Boukhit erlitt schwere Verletzungen durch zahlreiche Schläge mit Baseballschlägern und Knüppeln. Er verstarb vier Monate später am 27. September 1994. Da die Staatsanwaltschaft einen Zusammenhang zwischen der Körperverletzung und dem Tod ausschloss, wurde der Leichnam nicht obduziert. Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt setzte sich vergeblich für eine Überprüfung der Todesursachen ein. Bis heute ist Farid Boukhit nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Wer ihn getötet hat, wurde bis heute nicht ermittelt. Polizei und Behörden leugneten die rassistische Motivation der Hetzjagd. Ermittlungen wegen Fehlverhaltens von Polizeibeamt*innen wurden schnell wieder eingestellt. Von 86 ermittelten mutmaßlichen Tätern wurden nur acht zu Haftstrafen verurteilt.
Im Stück werden die Schilderungen der Hetzjagd und ihrer Folgen flankiert von fiktionalisierten Aussagen eines Politikers und eines Polizisten, die die rassistischen Ausreden für das Behördenversagen der Zeit widergeben, darunter auch die zynische Aussage des damaligen Polizeichefs, „Sonne und Alkohol“ seien Gründe für die gewalttätigen Ausschreitungen gewesen, „die Afrikaner“ seien selbst verantwortlich und Asylrechtsverschärfungen unumgänglich. Im Theater bleibt es jedoch nicht beim Beschreiben der rassistischen Realität. Der fiktive Politiker hält eine alternative Rede, die bis heute nicht zu hören war und die vielleicht gerade deshalb 30 Jahre später betroffen macht:
„Ein Staat, der nicht in der Lage ist, allen Personen gleichermaßen das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu sichern, ist das Papier nicht wert, auf dem seine Verfassung geschrieben ist. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die Problematik durch ein konsequenteres Einschreiten der Polizei oberflächlich einzudämmen ist, allerdings wird das nicht helfen, die toxische Mischung aus Perspektivlosigkeit, Frustration und tief verinnerlichtem Rassismus und Hass aus den Köpfen und Herzen der oft sehr jungen Gewalttäter herauszubekommen.“
15 Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt seit 1992
Rechtsextrem motivierte Tötungsdelikte beschränkten sich in Magdeburg nicht auf den Himmelfahrtstag 1994. Am 9. Mai 1992 wurde der 23-jährige Punk Torsten Lamprecht während eines Überfalls von 60 Neonazis auf eine Geburtstagsfeier in der Gaststätte „Elbterrassen“ getötet. Die Täter waren mit Stahlrohren, Baseballschlägern und Leuchtkugeln bewaffnet. Die Polizei wartete zunächst ab und griff erst ein, als die Angreifer bereits geflüchtet waren. Drei Jahre später wurde ein 24-jähriger Wolfsburger wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren Haft verurteilt. Wer genau Lamprecht tötete, wurde nie ermittelt. Auch diese Geschichte ist Teil des Stücks, ebenso wie die von Frank Böttcher. Der 17-jährige Punk wurde im Februar 1997 Opfer eines rechtsextremen Angriffs, als er auf dem Weg von einem Krankenhaus nach Hause war. Er wurde durch Stiefeltritte und Messerstiche getötet. Der Täter wurde zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren verurteilt. Der Schauspieler Kevin Schulz spielt diese Szene mit quälender Langsamkeit und vielen Details, die für viele Gäste im Publikum nur schwer zu ertragen sind.
Die drei Personen stehen stellvertretend für insgesamt 15 Opfer, die seit 1992 in Sachsen-Anhalt getötet wurden. Nur sieben von ihnen sind durch die Bundesregierung offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.
Angst und Gewalt
Die gleichzeitig dokumentarische und fiktionalisierte Erzählform erlaubt es den Zuschauenden, einen emotionalen Zugang in die Welt der 1990er Jahre in Magdeburg zu finden. Die fiktionale Person Andi erzählt eindrücklich von der ständigen Angst junger Menschen, die zur Zielscheibe werden und ihr Leben präventiv einschränken. Eine ähnliche Funktion hat auch die fiktive Figur des Sportlehrers, der den Sportunterricht kurzerhand anpasst und nur noch den Umgang mit rechtsextremer Straßengewalt unterrichtet. Zynisch und an manchen Stellen überspitzt wird einem jüngeren Publikum heute so verständlich, wie ausweglos die Situation für viele Jugendliche in Magdeburg und in ganz Ostdeutschland gewesen ist, angesichts fehlenden Schutzes durch Erwachsene oder die Schule.
Das Stück stößt in Magdeburg nicht überall auf Zustimmung. „Wir haben einen Förderantrag bei der Stadt gestellt. Die AfD-Stadtratsfraktion hat daraufhin nachgefragt, weshalb ein so „politisch einseitiges Projekt“ Geld erhalten solle, wurde aber überstimmt“, erzählt Betty Magel. Die Vorstellungen wurden auf Anraten des Miteinander e.V. durch einen professionellen Security-Dienst abgesichert.
Das Schweigen brechen
„Herrentag“ erzählt auch davon, wie die Baseballschlägerjahre zwei Generationen bis heute prägen. Viele Menschen leben mit traumatischen Erinnerungen an Bedrohungen, eingeschränkte Bewegungsräume oder erlittene Körperverletzungen, die keine Statistik abbildet. Darüber wird kaum gesprochen, weder in den Familien noch in der Öffentlichkeit. Während des Publikumsgesprächs zeigen sich viele Magdeburger*innen sehr bewegt. Eine Frau erzählt davon, dass sie als junge Mutter in den 1990er Jahren nur wenig von den Hetzjagden mitbekommen hat und lange nicht nachvollziehen konnte, weshalb Magdeburg für viele junge Menschen eine „No-Go-Area“ war. Sie hofft, dass sich mehr Jugendliche heute mit dem Thema auseinandersetzen können. Einige Zuschauer*innen ziehen Parallelen in die Gegenwart, in der die Zustimmungswerte zu rechtsextremen Ideologien und Parteien steigen und rechts motivierte Gewalt statistisch nachweisbar wieder zunimmt. Hat sich wirklich etwas verändert? Pascal Begrich von Miteinander e.V. beantwortet diese Frage mit einem klaren „Ja“: Heute bleiben Opfer nicht sich selbst überlassen. Es gibt Beratungsstellen, Präventionsprojekte und eine Zivilgesellschaft, die hinschaut, skandalisiert und solidarisch handelt.
Der Theaterabend ist ein wichtiger Schritt hin zu einer vertieften Auseinandersetzung, die nicht bei der Erinnerung an die Todesopfer enden soll. Die Magdeburger Kammerspiele planen eine Bürgerbühne, bei der auch Magdeburger*innen mit Rassismuserfahrungen und Migrationsgeschichte zu Wort kommen und ihre Erfahrungen und Geschichten der letzten 30 Jahre teilen. Ihre Perspektiven bleiben in den Gedenkveranstaltungen zu den Baseballschlägerjahren bis heute häufig unsichtbar.
Als mobile Schulproduktion geht „Herrentag“ ab Frühjahr 2026 auf Tour – in gekürzter Form, die extreme Gewaltszenen weglässt. Schon im Oktober 2025 hatten 260 Schüler*innen von sechs Schulen Gelegenheit, bei zwei Aufführungen dabei zu sein. Das Theater stellt pädagogisches Begleitmaterial zur Verfügung. Am 10. und 11. März 2026 wird es weitere Abendveranstaltungen für Erwachsene geben. Obwohl die Magdeburger Stadtpresse bisher nicht über das Stück berichtete, ist die Nachfrage groß.


