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Achtung Reichelt: Nius und die NGO-Verschwörungslegende

In seiner Show „Achtung Reichelt“ wettert Julian Reichelt gegen NGOs. (Quelle: Screenshot)

Das rechte Krawallmedium „Nius“ um den ehemaligen „BILD“-Chefredakteur Julian Reichelt schürt weiter Stimmung gegen Nichtregierungsorganisationen. In einem Video entwirft Reichelt ein Zerrbild der Realität und markiert NGOs als „Schattenregierung“, die linke Narrative im Auftrag der Politik verbreite – bezahlt mit Steuergeldern.

Von Patrick Gensing

Polemik und pauschale Unterstellungen, die bekannten Kampfbegriffe und reichlich Empörung: Julian Reichelt zeigt sich in einem Video vom 10. Juni 2025 mal wieder in hysterischer Höchstform. Der „Nius“-Beitrag basiert auf einem durchgehend polemischen Narrativ, das NGOs pauschal diskreditiert. So versteigt sich Reichelt in dem Video, das nach zwei Tagen bereits mehr als 270.000 Aufrufe allein auf YouTube erreicht hatte, zu einer bemerkenswerten Behauptung, was die Bezeichnung NGOs betrifft:

„Schließlich heißen diese Organisationen ja Nichtregierungsorganisationen. Die Bezeichnung ist auf perfide Weise ganz bewusst irreführend gewählt.“ Und weiter: „Die Menschen sollen nicht merken, dass sie es mit der Regierung zu tun haben.“

Nochmal zum Mitschreiben: Reichelt behauptet, die Bezeichnung „Nichtregierungsorgansation“ sei hinterlistig und strategisch gewählt worden, um Menschen in die Irre zu führen. Damit solle verschleiert werden, dass die NGOs tatsächlich regierungsnahe Organisationen seien.

Erste NGO gegen Sklaverei im 19. Jahrhundert

Wer genau diesen perfiden Move gemacht haben soll, lässt Reichelt offen. Hier ist die Aufklärung: Es waren unter anderem die Vereinten Nationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg dem Begriff einem rechtlichen Rahmen gegeben haben. NGOs gibt es aber schon weit länger, wie das Staatslexikon festhält:

1823 wird die Foreign Anti-Slavery Society, 1874 der Weltpostverein und 1863 – als die älteste, heute noch bestehende humanitäre Organisation der Welt – das Rote Kreuz gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten NGOs einen rechtlichen Status innerhalb der UNO. Als „shooting star“ globaler Politik erscheinen sie bei den Weltkonferenzen der UNO in den 1990er Jahren. Ihre massive Präsenz bei diesen Konferenzen zur globalen Umwelt-, Menschenrechts- oder Sozialpolitik hat zu ausführlichen sozialwissenschaftlichen Debatten über die „NGOisierung der Weltpolitik“ angeregt. Ihr Engagement gegen Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörungen und für eine lebenswertere Welt wird von Regierungen, internationalen Organisationen und in der Bevölkerung größtenteils positiv aufgenommen.

Reichelt ist da also einem ganz großen Skandal in der Weltgeschichte auf der Spur, denn es liegt ja auf der Hand, dass die Anti-Sklaverei-Organisation, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Großbritannien gegründet wurde, sicherlich eigentlich im Auftrag der britischen Regierung gehandelt hat. Möglicherweise muss die Geschichte neu geschrieben werden. Oder etwa nicht?

Selbstverständlich ergibt dies keinen Sinn. Und das Geraune, hier hätten irgendwelche geheimnisvollen Kräfte im Hintergrund einen Namen erfunden, um die Menschen in Deutschland zu überwachen, ist unbelegter Unsinn.

Zwischenfazit:

  • Aussage: Die Behauptung unterstellt eine bewusste Täuschungsabsicht. Der Begriff NGO (Non-Governmental Organization) ist international etabliert und bezeichnet Organisationen, die unabhängig vom Staat agieren – unabhängig davon, ob sie Fördermittel erhalten oder nicht.
  • Bewertung: Die Behauptung ist falsch. NGO ist eine formale Kategorisierung, keine Täuschung. Fördermittel bedeuten keine Weisungsgebundenheit.
  • Quelle: Die UN definiert NGOs als nichtstaatliche, gemeinnützige Akteure mit eigenständiger Zielsetzung.

NGOs als autoritärer Schattenstaat?!?

Es wird aber noch viel wilder in dem „Nius“-Video: Reichelt erklärt NGOs in Deutschland sinngemäß zu einer Art politisch-korrekter Stasi mit polizeilichen Befugnissen, die nebenbei auch noch Menschen umerzieht und die politische Agenda lenkt:

„Die Menschen sollen nicht merken, dass sie es mit der Regierung zu tun haben, wenn sie von ihrem eigenen Steuergeld eingeschüchtert, umerzogen und überwacht werden. Und genau das geschieht in diesen so genannten Nicht Regierungsorganisationen.“

Nachschlag gefällig?

„Diesen NGOs, die es sich unter dem eigentlich regierungskritischen Begriff Zivilgesellschaft zu ihrer Mission gemacht haben, Regierungskritik mit unerbittlicher Härte zu verfolgen und zu unterbinden. Nicht Regierungsorganisationen: Das ist Staatsmacht ohne die Regeln, an die sich der Staat eigentlich halten muss. Die Zivilgesellschaft: Das sind die Auftragsarbeiter, die Söldner des autoritären Geistes, der in unserem Land inzwischen weht. Wenn die Regierung sich gegen die eigenen Gesetze und Regeln wenden will, dann beauftragt sie NGOs mit der Schmutzarbeit.“

Es geht leider noch weiter; es ist wichtig, diese Ausführungen zu lesen, um zu verstehen, wie Reichelt hier eine Verschwörungslegende und akute Bedrohung samt Feindbild aufbaut – und spricht von einer:

„Welt, in der wir leben, diese ständige von linker Politik befeuerte, flirren und flimmern aus Panik und Angst ist in den letzten Jahren vom NGO-Komplex erschaffen worden. Es waren diese Leute, die steuerfinanziert die passenden Umfragen, die so genannte Wissenschaft, die verfälschten und zurecht gebogenen Fakten oder vielmehr Behauptungen geliefert haben, auf denen linke Ideologie und ihre zerstörerische Politik fußten.“

Im Folgenden kommt Reichelt – endlich – zum inhaltlichen Höhepunkt, zeichnet ein düsteres Bild einer geheimnisvollen Minderheit, die im Hintergrund agiert, um das Volk zu unterjochen: „All diese Parolen, mit denen Politik gegen die Mehrheit begründet wird, finden ihren Ursprung im NGO-Komplex.“

Zwischenfazit:

  • Aussage: Nichtregierungsorganisationen und Zivilgesellschaft – das sei Staatsmacht ohne die Regeln, an die sich der Staat eigentlich halten müsse. Eine steile These.
  • Bewertung: NGOs haben keinerlei exekutive Befugnisse. Sie handeln zivilgesellschaftlich und unterliegen dem Vereinsrecht, Spendenrecht und oft auch der Gemeinnützigkeitsprüfung durch das Finanzamt.
  • Faktenlage: Unbelegt, pauschal und falsch. NGOs sind weder mit Amtsgewalt ausgestattet noch rechtsfreier Raum. Aufklärung und Bildungsarbeit als „Umerziehung“ zu diskreditieren, ist ein beliebter rechtsradikaler Taschenspielertrick, der gut zu „Nius“ passt.

Schon stark, was diese NGOs angeblich alles können, möchte man Reichelt gedanklich folgen – was ich ausdrücklich nicht empfehle, da man sich sonst schnell im verschwörungsideologischen Sumpf verirren könnte.

Bemerkenswert ist neben der aggressiven Rhetorik, dass Reichelt sehr pauschal NGOs über einen Kamm schert. Sie alle sind demnach offenbar Teil eines geheimen Plans, um die Menschen in Panik und Angst zu versetzen. Diese Welt sei vom „NGO-Komplex“ geschaffen worden, behauptet Reichelt.

Diese Aussage gibt einer heterogenen Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen die Verantwortung für gesellschaftliche Debatten und Ängste. Sie unterstellt eine bewusste Steuerung durch NGOs. Belege für absichtliche Massenbeeinflussung oder zentral gesteuerte Koordination der NGOs? Die gibt es nicht. In diesem Kontext gewinnt dann aber die Geschichte der „Welt“ über Verträge zwischen EU und NGOs an Bedeutung, denn diese „Recherche“ dient nun dazu, diese Leerstelle zu füllen und eine vermeintliche Steuerung zu beweisen.

Feindbild ProAsyl, geflüchtete Menschen und Richter*innen

Was fehlt bei diesem verschwörungsideologischen Geraune noch? Richtig, das Thema Migration: „Aktivisten der NGO ProAsyl haben alles dafür getan, die sogenannte Migrationswende zu sabotieren.“

Das ist interessant; haben wir doch eben von Reichelt lernen dürfen, dass die NGOs im Auftrag der Regierenden die Schmutzarbeit verrichteten, sind sie nun aktiv, um die Regierungspolitik zu sabotieren. Klaffende Logiklöcher und eklatante Widersprüche, die in der Empörung und dem Getöse untergehen.

Nius präsentiert nun ein Schaltgespräch mit dem Autor des Buchs „Der NGO-Komplex“. Darin wird unter anderem der Anschein erweckt, der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin zu rechtswidrigen Zurückweisungen an deutschen Grenzen sei politisch motiviert – „mit einem Richter aus dem linksextremen Milieu“. In der Vergangenheit habe sich der Richter kritisch dazu geäußert, Flüchtlinge ausschließlich unter dem Aspekt der „inneren Sicherheit“ zu betrachten.

Selbst für Nius-Verhältnisse sind das sehr dünne Indizien, die keinen Vorwurf der Befangenheit begründen. Weder eine Parteimitgliedschaft noch empathische Äußerungen zum humanen Umgang mit geflüchteten Menschen reichen hierfür aus. Zudem wichtig ist in diesem Kontext: Die betreffenden Beschlüsse wurden von der Kammer gefasst – nicht von einem Einzelrichter. Die ursprünglich zuständigen Richterinnen hatten die Verfahren gemäß § 76 Abs. 4 Asylgesetz wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung an die Kammer verwiesen. Die beiden weiteren Berufsrichterinnen hätten den – angeblich befangenen – Vorsitzenden überstimmen können. Haben sie aber nicht. Der Beschluss wird von Fachleuten als solide und gut begründet gelobt.

Auch hier liefert „Nius“ also keine Belege, sondern versucht lediglich, den Eindruck einer Befangenheit zu konstruieren, um eine Gerichtsentscheidung zu delegitimieren. Der Co-Geschäftsführer von ProAsyl, Karl Kopp, sagte dazu in der taz:

„Der Vorwurf, wir hätten Einfluss auf das Gericht genommen, ist absurd. Es ist klar geregelt, dass das Verwaltungsgericht Berlin zuständig ist. Und im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts ist festgelegt, welche Kammer zuständig ist. Dramatisch ist in einem Rechtsstaat, wenn Rich­te­r*in­nen so massiv angegriffen werden. Es ist unser aller Aufgabe, den Rechtsstaat, die Unabhängigkeit der Gerichte, die bundesdeutsche Demokratie zu verteidigen.“

Zwischenfazit: „Der Vorsitzende der Kammer ist ein grüner Richter, schreibt in linken Fachzeitschriften – der Beschluss ist also ideologisch motiviert.“

  • Bewertung:
    Parteizugehörigkeit oder Meinungsäußerungen sind kein Ausschlusskriterium für Richter. Befangenheit wird durch Verfahren geprüft, nicht durch politische Zuschreibungen.
  • Faktenlage:
    Spekulation. Kein Beweis für Befangenheit.
  • Quelle:
    § 41 ZPO – Ausschluss wegen Befangenheit

Alles nur inszeniert?

Auch der wortreich vorgetragene Vorwurf von Nius gegen ProAsyl, drei Menschen aus Somalia in Polen versorgt und bei dem Antrag auf Asyl in Deutschland unterstützt zu haben, ist kein Skandal, auch wenn Reichelt sehr angestrengt empört schaut und den Kopf schüttelt. Denn NGOs wie Pro Asyl vertreten juristisch Geflüchtete. Dieses Recht ist grundgesetzlich geschützt. Dass NGOs Verfahren strategisch vorbereiten, ist legitim. Karl Kopp von ProAsyl stellt dazu fest:

„Unsere Aufgabe ist es, Schutzsuchende bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen. Das tun wir im Fall der drei somalischen Asylsuchenden genauso wie seit knapp 40 Jahren in Deutschland und Europa.“

Die jungen Menschen seien mittellos und obdachlos gewesen, führt Kopp aus, die Jugendliche unter ihnen „musste dringend medizinisch behandelt werden“. Ohne diese humanitäre Hilfe, ohne Gewährleistung von Menschenwürde, gäbe es „kein rechtsstaatliches Verfahren, weil die Betroffenen das gar nicht durchstehen würden. Die Kombination aus Rechtshilfe in beiden Staaten und Menschlichkeit ist keine Inszenierung, sondern ein menschenrechtlicher Ansatz“, so Kopp.

Der eigentliche Skandal sei, dass sie mehrfach europarechtswidrig zurückgewiesen wurden, betont der ProAsyl-Geschäftsführer: „Die drei haben eine harte Fluchtgeschichte und einen monatelangen Fluchtweg, begleitet von Gewalterfahrungen, hinter sich. Und hier wurden sie dann europarechtswidrig und unmenschlich behandelt. Wenn das kein Grund ist, dass eine Menschenrechtsorganisation tätig wird – was dann? Wir haben die rechtliche Vertretung der drei deshalb aus unserem Rechtshilfefonds unterstützt.“ Mit anderen Worten: ProAsyl hat das getan, wofür eine Menschenrechtsorganisation da ist – und was notwendig ist angesichts von EU-Staaten, die einen rücksichtslosen Kurs gegen Menschen in Not verfolgen.

Angriff auf NGOs

Es ist wahrlich kein Quell der Freude, sich Beiträge auf Nius anzuschauen und die Zitate zu lesen: Die gespielte Empörung, das andauernde Entwerfen von Skandalen und Verschwörungen, wo keine sind. Es ist eine anstrengende Welt des permanenten Ausnahmezustands. Dennoch ist es notwendig, sich mit diesen Inhalten zu beschäftigen, denn hier wird deutlich, wie Feindbilder geschaffen und markiert werden.

Nius vermischt reale Förderbeziehungen, politische Interpretationen und unbelegte Unterstellungen sowie schlicht falsche Behauptungen zu einem umfassenden Anti-NGO-Narrativ. „Die NGO-Kaste wird dahin gehen, wo sie hingehört – in die Arbeitslosigkeit und Bedeutungslosigkeit“, frohlockt Reichelt. Diese Rhetorik reiht sich ein in eine internationale Strategie autoritärer Kräfte, die gezielt Nichtregierungsorganisationen delegitimieren, diffamieren und finanziell austrocknen wollen. Es handelt sich um einen Angriff auf die demokratische Infrastruktur, denn NGOs helfen dabei, wie im Fall von ProAsyl, Regierungshandeln rechtsstaatlich zu hinterfragen.

Autoritäre Machtkonsolidierung

NGO-Feindlichkeit ist ein roter Faden autoritärer Machtkonsolidierung. Wo freie Presse, kritische Wissenschaft und unabhängige Gerichte attackiert und eingeschränkt werden, stehen NGOs als nächstes auf der Abschussliste. Die Kampagnen gegen NGOs in deutschen Medien übernehmen zunehmend Sprachmuster autoritärer Regime, dazu gehören abwertende Begriffe wie „NGO-Kaste“ oder „Schattenstaat“, die Unterstellung verdeckter Steuerung durch die Regierung und die Forderung nach finanzieller Entziehung und rechtlicher Einschränkung.

Nius treibt unter dem Deckmantel kritischer Aufklärung ein autoritär inspiriertes Framing voran. Menschenrechtsgruppen, Umweltverbände und weitere werden nicht als demokratischer Stützpfeiler betrachtet, sondern als Bedrohung. Diese Sichtweise gefährdet das Fundament offener Gesellschaften. Wer NGOs schwächt, stärkt nicht den Staat – sondern autoritäre Machtkonzentration.

Dieser Artikel ist am 3. Juli 2025 zuerst auf Belltower.News erschienen.

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