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Angriffe auf Geflüchtete: „Wir brauchen eine flächendeckende, demokratische Reaktion“

Es brennen wieder Flüchtlingsunterkünfte. Was müssen wir jetzt machen? Ein Interview mit Tahera Ameer vom Vorstand der Amadeu Antonio Stiftung. 

Dieses Interview führte Simone Rafael.

Aktuell überschlagen sich die Nachrichten wieder mit Gewaltmeldungen: Flüchtlingsunterkünfte mit Hakenkreuzen markiertUnterkünfte in Brand gesteckt, manche wurden vorher mit Hakenkreuzen und „Heil Corona“ beschmiert. Angriffe auf Häuser mit Pyrotechnik, in denen Geflüchtete wohnen. Autos von ukrainischen Geflüchteten werden rassistisch beschmiert, die Reifen zerstochenAngriffe auf Menschen, die erkennbar einen Migrationshintergrund haben. Es erinnert an die 1990er Jahre, es erinnert an 2014/2015. Zum Teil sind es sogar die gleichen Orte, an denen es brennt. Was machen wir jetzt?

Tahera Ameer ist Teil des Vorstandes der Amadeu Antonio Stiftung. Zuvor hat sie unter anderem die „Aktion Schutzschild“ geleitet, die nach dem Anstieg der Gewalttaten gegen Geflüchtete ab 2015 exemplarisch in Kommunen im ländlichen Raum gearbeitet hat, um die Situation für Geflüchtete vor Ort zu verbessern.

Tahera Ameer. (c) Peter van Heesen

Tahera, fühlst Du Dich dieser Tage auch an 2015 erinnert? Die Zeit, als es so viele Übergriffe auf Geflüchtete gab, dass die Amadeu Antonio Stiftung sogar eine eigene Chronik aufgebaut hat, um das Ausmaß überblicken zu können?

Ja, das geht mir leider auch so. 2014 fingen die rassistischen Straßenproteste an, mit Pegida, 2015 stieg die Zahl der Gewalttaten. Jetzt haben wir demokratiefeindliche „Spaziergänge“ auf den Straßen, zuletzt vermehrt von pro-russischen, demokratiefeindlichen Gruppen – und die Gewalttaten gegen Geflüchtete steigen wieder, und zwar unabhängig davon, ob sie aus der Ukraine flüchten oder aus anderen Ländern. Was anders ist: Wir starten auf einem höheren Niveau. 2014 hatten wir im Schnitt einen Übergriff auf Geflüchtete pro Tag, 2016 waren wir bei 10 Übergriffen auf Geflüchtete pro Tag. Aktuell sind wir bei etwa 2 Übergriffen auf Geflüchtete pro Tag. Das ist besser als 2016, hat aber jetzt schon mehr Eskalationspotential  als 2014. Während der Coronavirus-Pandemie gab es vermehrt Übergriffe auf Politiker*innen. Die wurden aber stets gesellschaftlich verurteilt. Schutzkonzepte wurden zumindest verbessert. Jetzt scheinen wieder einmal die Flüchtlingsunterkünfte die leichter erreichbaren Gewaltziele zu sein.

Oft sind es ja sogar die gleichen Landkreise, die gleichen Orte, an denen sich jetzt wieder Gewalt gegen Geflüchtete entlädt. Wie ist das möglich?

Wir haben leider ein Grundproblem, gerade in ländlichen Räumen: Wer wird in einer Kommune als Akteur*in ernst genommen? Erinnern wir uns an 2015: Da war von Ängsten, von frustrierten Bürger*innen die Rede. Mit denen haben etwa Bürgermeister*innen den Dialog gesucht. Deren Ängste wollte man ernst nehmen. Teilweise hat das sogar zu Ergebnissen geführt, zu weniger Gewalt vor Ort. Aber was es zu wenig gab, und noch weniger öffentlich: Die (lokal)politisch Verantwortlichen, die Geflüchtete und ihre Unterstützer*innen als Menschen mit Ängsten wahrnehmen oder sie unterstützen. Ich hatte mit Menschen zu tun, die für die Unterbringung von Geflüchteten zuständig waren, und mir sagten: „Sie fahren da hin? In die Unterkunft? Zu denen? Ist das nicht gefährlich?“ Wenn schon diejenigen vor Ort, die Schutzsuchende von staatlicher Seite aus unterstützen sollen, Geflüchtete nicht als Menschen wahrnehmen, als Menschen mit Bedürfnissen, mit Menschenrechten, sondern als etwas Fremdes, Gefährliches – da gibt es eben auch andere, die sich legitimiert sehen, selbst zu Gewalt zu greifen. Oft habe ich auch die Unterscheidung gehört: Die einen sind „Bürger“, die Geflüchteten aber sind das nicht, die werden nicht als „Bürger“ beschrieben und werden damit auch als Menschen mit weniger Rechten angesehen – und behandelt.

Und auf einer anderen Ebene erklärt diese Berührungsangst auch, warum 2022 wieder Menschen in schlecht ausgestatteten, gesellschaftlich isolierten und ungeschützten Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Dabei wissen wir, dass diese immer wieder Angriffsziele für Gewalttäter werden und fatale, traumatisierende Folgen für die dort verwahrten Menschen haben. Im Moment gilt als Standard 6 Quadratmeter pro geflüchtetem Menschen. Für Familien heißt das: Babys, die dort aufwachsen, haben nicht genug Platz, um krabbeln zu lernen – was auch zu enormen gesellschaftlichen Folgekosten führen wird, weil das später über Förderung wieder aufgefangen werden muss. Kein Landrat würde seine eigene Familie so aufwachsen lassen – und er könnte auch verfügen, dass etwa Familien nicht mehr in Sammelunterkünften unterkommen dürften, sondern eigene Wohnungen brauchen. Wenn er bereit wäre, die Sorgen der Geflüchteten zu hören und zu bearbeiten.

Viele Menschen fühlen sich angesichts dieser bekannten, aber nicht bearbeiteten Probleme gerade ratlos. Können wir denn gar nichts lernen? Wie lässt sich die Situation verändern? Wie können wir Geflüchtete schützen?

Wenn es immer noch nicht der gesellschaftliche Grundkonsens ist, dass Geflüchtete schutzsuchende Menschen sind, Menschen mit Rechten, Menschen genau wie wir, müssen wir da anfangen. Ich nenne es politische Übersetzungsarbeit, die in Kommunen nötig sein kann. Wenn wir nicht wollen, dass Unterkünfte brennen, brauchen wir Kommunen, die Pluralität ermöglichen. Das kann durch eine offizielle Aussprache von Stadtvertreter*innen oder Lokalpolitiker*innen für Geflüchtete und ihre Unterstützer*innen geschehen, durch Dialogangebote, oder auch durch den Entschluss, den Schutz von Unterkünften durch Sicherheitsdienste zu ermöglichen – das ist auch ein Zeichen. Immer wieder haben wir gesehen, dass engagierte Verwaltung, engagierte Stadtpolitik eine große Verbesserung vor Ort ausmacht. Wenn es vor Ort eine „Tafel“ gibt, die alle Bedürftigen unterstützen möchte, und die Anwohner*innen aber der Meinung sind, jetzt äßen die Geflüchteten den einheimischen Bedürftigen alles weg, dann muss es Widerspruch geben: Nein, allen Bedürftigen soll geholfen werden. Wo das nicht passiert – in Kahla war es so – wurde die Vorsitzende der Tafel schließlich bedroht, niemand hat sie unterstützt, die Tafel wurde dann ganz geschlossen. Kurz gesagt: Wir brauchen Reaktionen. Deutliche demokratische Reaktionen, die sich schützend vor Bedrohte stellen, und zumindest einen Konsens herstellen wie: Keine Gewalt, keine brennenden Unterkünfte.

Gut, offenbar passieren diese schützenden Reaktionen aber nicht immer von selbst. Wie lässt sich die Situation konkret verbessern?

Wir brauchen vor Ort engagierte Menschen. Die gibt es immer, und die Amadeu Antonio Stiftung unterstützt solche Engagierten nicht nur seit Jahren, sondern fragt sie auch nach ihren Bedarfen. Was brauchen sie, um sich effektiv für Geflüchtete, gegen Rassismus und Rechtsextremismus zu engagieren? Es sind vier Dinge. Das Gute ist: Mit Geld kann man sie alle verwirklichen!

Immer wünschen sich Menschen vor Ort Informationen. Wie funktionieren rechtsextreme Netzwerke, welche gibt es hier, welche Strategien fahren sie, warum erleben wir den Hass, den wir erleben? Aber auch: Mit wem vor Ort müssten wir sprechen, um ein konkretes Problem zu bearbeiten? Wo sind die Anknüpfungspunkte, um zu intervenieren? Informationen ermöglichen es, zu verstehen, was man selbst gerade erlebt, etwa dass es vielleicht kein Nachbarkeitsstreit ist, sondern eine rechtsextreme Raumergreifungsstrategie. Das ermöglicht, selbst aktiv zu werden.

Dann brauchen Menschen die Möglichkeit, sich mit anderen Engagierten zu treffen. Dafür brauchen sie Ressourcen. Also: Geld. Dann kann jemand die Treffen organisieren, Räume organisieren, einen Aufruf starten: Wer möchte auch nicht, dass hier bald eine Unterkunft brennt? Vernetzung ist sehr wichtig. Auch um zu sehen: Ich bin vielleicht in meinem Job, auf meinem Posten allein, aber andere in meiner Region treibt der Rassismus oder die Gewalt auch um.

Engagement braucht Öffentlichkeit. Vor Ort haben Menschen aber oft Angst, sich durch Öffentlichkeit in Gefahr zu bringen. Eine große Institution wie die Amadeu Antonio Stiftung kann dann ein Sprachrohr sein, dass Probleme anspricht, ohne dass Einzelne sich in Gefahr begeben müssen.

Wer Partner*innen gefunden hat, kann ein Netzwerk schaffen, das die tatsächlichen Bedarfe vor Ort benennen kann. Wo sind die Probleme? Wo sind die Ansatzpunkte, sie zu beheben? Wer kann strategisch helfen? Wir haben anfangs viel mit Migrantenselbstorganisationen gearbeitet, und wo es keine gab, Gründungen von Vereinen unterstützt. Es ist nur so: Wenn ich in einer Region lebe, in der ich viel Rassismus erlebe – was mache ich, sobald ich diesen Ort verlassen kann? Ich gehe. Und das ist sehr verständlich. Deshalb kommen beständigere Unterstützer*innen für Geflüchtete oft doch eher aus der Zivilgesellschaft ohne Migrationshintergrund, die vor Ort bleibt.

Du sagtest, mit Geld kann man sie alle verwirklichen? Wie?

Wir brauchen, gerade in gefährdeten Regionen, gerade im ländlichen Raum, jetzt sofort Netzwerktreffen für diejenigen, die nicht hinnehmen wollen, dass in Deutschland wieder Flüchtlingsunterkünfte brennen. Wir müssen jetzt sofort Strategien entwickeln, wie politisch verantwortliche Strukturen, wenn nötig daran erinnert oder unter Druck gesetzt werden können, ihre Verantwortung für geflüchtete Menschen ernst zu nehmen, damit nicht diejenigen, die hier Schutz suchen, wieder keinen Schutz finden. Wir brauchen jetzt eine flächendeckende Reaktion, die lautet: Wir dulden Gewalt gegen Geflüchtete nicht. Wir dulden rassistische und rechtsextreme Gewalt nicht. Schon diese Sichtbarkeit macht Mut. Und wir kennen die Akteur*innen vor Ort, die mit finanzieller Unterstützung diese Aufgabe annehmen können.

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