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Gedenken

Demmin: Wie Rechtsextreme Opfergedenken instrumentalisieren

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs begehen in Demmin Hunderte Menschen Selbstmord. Seit fast 20 Jahren „trauern” deswegen Rechtsextreme. 

Inhaltswarnung: Sexualisierte Gewalt und Suizid

Demmin Ende April 1945. Die Rote Armee nähert sich der ostdeutschen Kleinstadt. Mehrere tausend Kriegsflüchtlinge kommen in der Hansestadt an und finden Unterschlupf in bereits verlassenen Häusern. Es werden Erfahrungen ausgetauscht. Viele haben Schlimmes erlebt und gesehen. Hinzu kommt die nationalsozialistische Propaganda-Erzählung von der kommunistischen Sowjetunion als das universell Böse. Insbesondere Frauen haben begründete Angst vor sexualisierter Gewalt. Langsam beginnen einige Deutsche, das unvorstellbar große, genozidale Ausmaß der Verbrechen und die eigene Schuld zu erkennen. Sie fürchten Rache.

Andere sind desillusioniert. Die nationalsozialistische Ideologie, die alle Bereiche ihres Lebens dominierte, fällt Stück für Stück in sich zusammen. Es herrscht Untergangsstimmung. Adolf Hitler ordnet die Zerstörung der zivilen Infrastruktur an, um diese nicht dem immer näher rückenden Feind zu überlassen. Rüstungsminister Albert Speer fasst den sogenannten Nerobefehl in einem Brief so zusammen: „Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zum primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil ist es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Was nach dem Kampf übrig bleibt, sind ohnehin die Minderwertigen; denn die Guten sind gefallen.“

Als die deutsche Wehrmacht Demmin in den letzten Tagen des April 1945 verlässt, sprengt sie hinter sich drei Brücken, um das weitere Vorrücken der Roten Armee gen Westen, Norden und Süden zu verlangsamen. Bürgermeister, Landrat, Polizei und viele NSDAP-Funktionäre setzen sich gemeinsam mit der Wehrmacht ab. In Demmin befinden sich zu dieser Zeit noch etwa 15.000 Einwohner*innen sowie mehrere tausend Geflüchtete, die nach den Brückensprengungen nun nicht mehr weg können.

Am 30. April 1945 erreicht die Rote Armee Demmin. Sowjetischen Soldaten beginnen mit dem Bau von Behelfsbrücken, sitzen jedoch erst einmal in der Stadt fest. Demmin entwickelt sich zum rechtsfreien Raum. Deutsche Bewohner*innen der Stadt schießen aus ihren Häusern heraus auf sie Sowjets. Die wiederum plündern Wertgegenstände und Alkohol aus Wohnhäusern und Geschäften. Vor allem Frauen und Mädchen werden Opfer von Racheexzessen der Soldaten. Viele werden vergewaltigt. Offizielle Opferzahlen gibt es nicht. In der Nacht zum 1. Mai brennen zwei Drittel der Stadt nieder. Wer die Brände ausgelöst hat, bleibt unklar.

Im Zeitraum vom 30. April bis zum 4. Mai 1945 begehen hunderte Menschen in Demmin Suizid. Brigitte Roßow, damals zehn Jahre alt, berichtet in der ARD-Doku „Kinder des Krieges” von leblos hängenden Körpern in der Stadt. Von Frauen, die Rasierklingen verteilten und die Pulsadern ihrer eigenen Kinder aufschnitten. Von Müttern, die sich ihre Kinder um den Körper banden und dann mit Steinen in den Taschen in die Flüsse Tollense, Trebel und Peene gingen. Andere vergifteten oder erschossen sich. Demmin wurde zum Schauplatz des wohl größten Massensuizids in der deutschen Geschichte. Wie viele Menschen sich zum Kriegsende das Leben nahmen, ist unklar. Die Zahlen über die (erweiterten) Selbsttötungen variieren je nach Quelle zwischen einigen hundert bis über tausend.

In seinem Buch „Kind versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945” beschreibt der Historiker Florian Huber die Suizide im ganzen Reichsgebiet als „zwingendes Begleitphänomen der finalen Kämpfe um das Dritte Reich”: „Die Selbstmordwelle war der extreme Ausdruck einer Sinnleere und eines Schmerzes, in den sich die Menschen angesichts von Irrtum, Niederlage, Demütigung, Verlust, Scham, persönlichem Leid und Vergewaltigung geworfen sahen.“

Neonazis melden jedes Jahr einen Trauermarsch” an

Seit 2007 meldet die rechtsextreme Partei „Die Heimat”, ehemals NPD, zum 8. Mai regelmäßig einen „Trauermarsch” in Demmin an. Ähnlich wie in anderen Orten Deutschlands, in denen das Kriegsende in der kollektiven Erinnerung mit Zerstörung und Gewalt verbunden wird, missbrauchen auch in Demmin Rechtsextreme das menschliche Leid der deutschen Zivilbevölkerung, um die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verharmlosen.

In der Bundesrepublik galt der 8. Mai lange Zeit als Chiffre für die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg, als vor allem negativ konnotierte „Stunde Null”. Die Rede vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985 gilt als Ausdruck einer erinnerungspolitischen Wende: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Die circa 200 Rechtsextremen, die jedes Jahr dem Aufruf der „Heimat” folgen und nach Demmin pilgern, haben einen deutlich anderen Blick auf das Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie nutzen das Datum, um das geschichtsrevisionistische Narrativ eines deutschen Opfermythos zu verbreiten. „Mit Schmerz erinnern wir uns an die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte und die Zerstörung des Reiches. Wir erinnern uns an das große Leid, das über uns Deutsche hereingebrochen war – ein Leid mit all seinen Schrecken”, so der ehemalige Parteivorsitzende der „Heimat” Frank Franz in einem Redebeitrag zum 8. Mai 2019. Er relativiert die Singularität der deutschen Schuld am Holocaust und am Zweiten Weltkrieg, indem er diese mit Kriegsverbrechen der Alliierten aufwiegt: „Während die Eliten dieses Staates nur an die Opfer anderer Völker denken, ist es uns ein Anliegen der Angehörigen unseres eigenen Volkes zu gedenken. Befreit wurden wir nicht!” Mit Fackeln und Fahnen rechtsextremer Gruppierungen wie den Jungen Nationalisten in der Hand tragen die Neonazis ihre Propaganda auf die Straßen Demmins. Manche sind als verletzte Kriegsgeflüchtete verkleidet. Andere tragen Eselsmasken, um all jene zu verspotten, die den 8. Mai als Tag der Befreiung feiern.

Tatsächlich begann die NS-Ideologie zu Kriegsende durch ihre allumfassende Propaganda und Kriegssucht neben ihren direkten, als „Volksfeinde” definierten Opfergruppen auch ihre eigenen Kinder zu fressen. Das kollektive Trauma Demmins bleibt unbestritten. Rechtsextreme nutzen jedoch die nicht schließbaren wissenschaftlichen Lücken innerhalb der transgenerationalen Erinnerung über das Geschehene. Denn Kriegsgeschehen machen eine objektive Wissenschaft meist unmöglich. Rechtsextreme missbrauchen diese dünne, kaum verifizierbare Quellenlage, um ihre eigenen Fakten zu verbreiten. Noch heute sind diese gefärbt von der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda, die durch das einseitige Gedenken an die Opfer Demmins von Generation zu Generation weitergegeben wird. Mit ihrer Wiederholung der immer gleichen Erzählung des deutschen Leidens beeinflussen sie den innerdeutschen Diskurs über die Kapitulation der deutschen Wehrmacht und den Untergang des Dritten Reiches bei. „Eine Lüge ist eine Lüge, aber eine Lüge, die ohne Konsequenzen wiederholt wird, wird zur Wahrheit”, schreibt Rechtsextremismus-Expertin Natascha Strobl. Verkleidet als „Trauermarsch” transportieren Rechtsextreme über ein zunächst legitimes Gedenken nationalsozialistisches Gedankengut in bürgerliche Kreise. Menschen, die den 8. Mai als Tag der Befreiung feiern, stellen sie als moralische Mittäter*innen der Verbrechen an der Zivilbevölkerung dar. Der Appell an das Gewissen wird zur Waffe der Rechtsextremen. Ihnen gelingt damit eine Verschiebung der Art und Weise, wie wir auf den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch und das Ende des Dritten Reiches blicken.

Wer nicht die Verantwortung der vielen zivilen Opfer im Nationalsozialismus sucht, sondern stattdessen von einem „Konstrukt der Befreiungslüge” schwadroniert, entlarvt den wahren Grund seiner Trauer. Die Trauer der Rechtsextremen gilt nicht den vielen Menschen, die sich in Demmin und anderswo zum Kriegsende das Leben nahmen. Ihre Trauer gilt dem Ende des nationalsozialistischen Terrors, dem Zusammenbruch des Hitlerregimes und der Niederlage im Zweiten Weltkrieg.  Dieser Protest, der sich dennoch anmaßt, für die gestorbenen Menschen zu sprechen, braucht vor allem eins: Gegenwind.

„Auch 80 Jahre später, den Nazis keinen Meter!”

Seit 2009 mobilisiert nicht nur die „Die Heimat” nach Demmin. Das Aktionsbündnis 8. Mai des Vereins Demminer Bürger organisiert Jahr für Jahr ein Friedensfest mit Live-Musik und DJ-Sets. Über Mitmachaktionen, Infostände, Mahnwachen und einen Stadtspaziergang wollen die Veranstalter*innen ein klares Zeichen gegen Faschismus setzen.

Da sich der Tag der Befreiung dieses Jahr zum 80. Mal jährt, ruft das Bündnis Menschen in ganz Deutschland dazu auf, sich an den Gegenprotesten in Demmin zu beteiligen. Sie wollen das rechtsextreme Opfernarrativ entkräften, einem ambivalenten Gedenken Raum geben und das Ende des Nationalsozialismus feiern. Aus vielen Städten Deutschlands wird eine gemeinsame Busanreise organisiert.

Mehr Infos auf der Veranstaltungswebsite

 

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