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Der Anschlag von Magdeburg: Ein Jahr danach

Ein Jahr nach dem Anschlag beschäftigt viele weiterhin die Frage nach dem Motiv. Magdeburg zwischen Trauer, Aufarbeitung und der Frage, wer gehört wird.

Von Lisa Geffken und Jakob Roßa

Vor einem Jahr verwandelte sich der Magdeburger Weihnachtsmarkt in einen Ort des Grauens. Heute ist er wieder hell erleuchtet. Es ist eine friedliche, fröhliche Szene, die für manche schwer zu ertragen ist. Während Besucher*innen in Vorfreude auf das nahende Weihnachtsfest über den Platz schlendern, kämpfen andere noch immer mit den Schatten des 20. Dezembers 2024: Angehörige, die ihre Liebsten verloren haben, Verletzte, deren Wunden nicht heilen wollen, und Menschen, die sich fragen, ob gesellschaftlich eigentlich wirklich verstanden wurde, was damals geschah. Der Jahrestag des Anschlags ist mehr als ein Datum des Gedenkens. Er ist ein Prüfstein dafür, wie ernst die Stadt Magdeburg und Deutschland die Auseinandersetzung mit rechtsextremer Gewalt, die Gefahr des Vergessens und den empathischen Umgang mit Betroffenen nehmen.

Der Anschlag und die Frage nach dem Motiv

Am 20. Dezember 2024 fährt ein Mann mit einem Auto in den Magdeburger Weihnachtsmarkt am Alten Markt. Sechs Menschen werden getötet, über 300 verletzt, viele davon schwer. Ein neues Gutachten stellt nun die bisherigen Ermittlungen grundlegend infrage: Der Anschlag ist demnach eindeutig politisch motiviert, eine terroristische Tat mit rechtsextremer und verschwörungsideologischer Motivation. Zu diesem Ergebnis kommt der Sozial- und Islamwissenschaftler Hans Goldenbaum in einem Gutachten für den Untersuchungsausschuss des Landtags von Sachsen-Anhalt. Damit widerspricht der Sachverständige für politischen Extremismus deutlich der bisherigen Einschätzung von Generalbundesanwalt und Landeskriminalamt, die den Anschlag als Tat eines isolierten Einzeltäters ohne klare Prägung bewertet hatten.

Das Gutachten untersucht die ideologische Motivation des Täters Taleb A., eines aus Saudi-Arabien stammenden Mediziners. Zwar war er in keine organisierten rechtsextremen Strukturen eingebunden und entsprach nicht dem gängigen Bild eines Rechtsextremisten. Dennoch zeigen seine Weltanschauung, die Wahl des Tatorts und seine Erklärungen deutliche Bezüge zur rechtsextremen Erzählung einer angeblichen „Islamisierung Europas“. Diese Tatideologie speist sich aus einem verschwörungsideologischen und islamfeindlichen Weltbild, das stark vom transnationalem Rechtsextremismus geprägt ist.

Online-Radikalisierung in islamfeindlichen Milieus

Seit den 2010er-Jahren war der Täter in Onlineforen und auf X (ehemals Twitter) aktiv. Anfangs veröffentlichte er vor allem religionskritische Beiträge, später zunehmend militant islamfeindliche Inhalte. In seinen Posts stellte er Muslim*innen als homogenes, feindliches Kollektiv dar und bezeichnete den Islam wiederholt als zivilisationsfeindlich. Er bewegte sich dabei in einem Freund-Feind-Schema zwischen Islam auf der einen und Anders- bzw. Nichtgläubigen auf der anderen Seite.

Das Institute for Strategic Dialogue (ISD) bestätigt diese Beobachtungen in seiner Analyse des X-Profils von Taleb A. Darin finden sich etwa Formulierungen, die den Islam als „schlimmer als die Pest“ bezeichnen, sowie geteilte Zitate, in denen behauptet wird, es sei „Zeit, dass wir zugeben, dass wir uns nicht im Krieg gegen den ‚Terrorismus‘ befinden. Wir befinden uns im Krieg mit dem Islam“.

Das Narrativ vom „islamischen Krieg Deutschlands“

Ein zentrales Motiv der Tat war die rechtsextreme Erzählung einer „Islamisierung Europas“ beziehungsweise eines „großen Austausches“. Laut Goldenbaums Gutachten glaubte Taleb A., der deutsche Staat betreibe aktiv eine solche „Islamisierung“ – ein Kernmotiv rechtspopulistischer und rechtsextremer Diskurse. In seiner Vorstellung führte Deutschland einen „islamischen Krieg“, dessen Ziel die „Verbreitung des Islams in Europa“ sei.

Besonders brisant: Taleb A. war überzeugt, Regierung und Sicherheitsbehörden setzten diese vermeintliche „Islamisierung“ gezielt um – unter anderem durch die angebliche Verfolgung und Unterdrückung islamkritischer Aktivist*innen. So retweetet er etwa einen Beitrag der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel mit dem Kommentar, die „deutsche Polizei (sei) der echte Treiber des Islamismus in Deutschland“.

Im Jahr 2024 verschärften sich seine Rhetorik und Drohungen deutlich. Taleb A. bezeichnete Gewalt zunehmend als „Notwehr“ gegen eine angeblich islamisierte Regierung. Er forderte die Todesstrafe für die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die er für die Zuwanderung von Geflüchteten verantwortlich machte, und verglich die deutsche Regierung mit dem Islamischen Staat (IS).

Der Täter und die „Counter-Jihad“-Bewegung

Laut den Gutachten von Goldenbaum und dem ISD war der Täter Teil einer transnationalen rechtsextremen Diskursgemeinschaft. Im Jahr des Anschlags teilte er verstärkt Inhalte einschlägiger Accounts, die sich gegen den Islam und Zuwanderung von muslimischen Menschen wendeten. Allein in den zwölf Wochen vor dem Anschlag verbreitete er 35 Beiträge des rechtsextremen Kanals „RadioGenoa“ sowie 14 Beiträge einer rechtsextremen Influencerin.

Nach Einschätzungen des ISD handelte der Täter im Einklang mit der Ideologie der sogenannten „Counter-Jihad-Bewegung“, die durch rechtsextreme Parteien immer mehr Einzug in den politischen Mainstream erhält. „In vielen Beiträgen zeigte der mutmaßliche Attentäter seine Unterstützung für rechtsextreme Politiker und Parteien, die eine antimuslimische Idee vertreten. Dazu gehörten die in Teilen rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) sowie internationale rechtsextreme Politiker*innen und Aktivisten wie Geert Wilders aus den Niederlanden und Tommy Robinson aus dem Vereinigten Königreich“, heißt es in der ISD-Analyse.

Die „Counter-Jihad“-Bewegung vereint seit einigen Jahren antimuslimische Influencer*innen, Thinktanks, Bewegungen und Parteien. Im Kern ihrer Ideologie steht die Vorstellung, der Islam bedrohe den Fortbestand westlicher Gesellschaften. Migration und Multikulturalismus würden eine islamische Unterwanderung Europas fördern. Der Täter von Magdeburg teilte und verbreitete diese verschwörungsideologischen Überzeugungen – bis sie letztlich zur Tat führten.

Betroffene kämpfen bis heute mit den Folgen und für ein würdevolles Gedenken

Während der Prozess und die Gutachten versuchen, die ideologischen Grundlagen der Tat zu fassen und juristisch einzuordnen, bleibt eine andere, nicht weniger wichtige Perspektive oft unterbeleuchtet: die der Menschen, deren Leben der Anschlag aus der Bahn gerissen hat. Hinter den Getöteten, Verletzten und Betroffenen stehen Familien, die trauern, Verletzte, die immer noch mit den Folgen der Tat kämpfen, sowie Augenzeug*innen und Ersthelfer*innen, die mit den Erinnerungen an diesen Tag weiterleben müssen. Wie eine Gesellschaft mit diesen Betroffenen umgeht, sagt am Ende ebenso viel über ihr Selbstverständnis aus wie die Frage, welche Motive dem Täter zugesprochen werden.

Die ARD-Dokumentation „Lange Schatten – Ein Jahr nach dem Anschlag in Magdeburg“ zeigt eindrucksvoll, wie viel die einfühlsame Begleitung und Unterstützung durch Hilfskräfte und psychosoziale Beratung bedeuten. Diese Formen des Beistands sind mehr als Akuthilfe. Denn sie sind Ausdruck einer Haltung, die Menschen in ihrer Verletzlichkeit stärkt. Doch nicht alles, was seither geschah, wurde von Angehörigen als sensibel empfunden. Einige zeigten sich irritiert und verletzt, dass bereits ein Jahr nach dem Anschlag am Tatort wieder ein Weihnachtsmarkt stattfindet. Und damit an genau jenem Ort, an dem ihre Liebsten ums Leben kamen. Angehörige kritisieren zudem, dass seitens der Stadt Magdeburg nach dem Anschlag zu wenig mit ihnen gesprochen und Fehler im Umgang mit ihnen gemacht wurden. Für sie scheint die Rückkehr zum Alltag zu früh, zu schmerzhaft und als Zeichen, dass gesellschaftliche Erinnerung oft schneller verblasst als der Verlust selbst.

Die Instrumentalisierung der Tat schürt neue Ängste und Gewalt

Die Tat hat nicht nur Leben zerstört, sondern auch neue Ängste geschürt, insbesondere unter Muslim*innen und als muslimisch wahrgenommenen Menschen, die in den Wochen danach vermehrt Anfeindungen und Übergriffe erfuhren. Aus migrantischen Selbstorganisationen heraus sind nach dem Anschlag Initiativen entstanden, die das Sicherheitsgefühl von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Stadt stärken sollen. Das Projekt „Das Sicherheitsgefühl von Menschen mit Migrationsgeschichte in Magdeburg erhöhen“, das vom Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) e. V. von März bis Mai 2025 umgesetzt und durch die Amadeu Antonio Stiftung gefördert wurde, reagierte direkt auf das anhaltende Klima der Verunsicherung unter Magdeburger*innen mit Migrationsgeschichte, die seit dem Anschlag deutlich häufiger von Diskriminierungen, Bedrohungen und körperlichen Angriffen betroffen sind. Im Rahmen des Projekts wurden Betroffenen Taschenalarme zur Verfügung gestellt, um ihnen mehr Sicherheit im Alltag zu geben und das Bewusstsein für Zivilcourage in der Stadt zu stärken. Das Ziel war klar: konkrete Hilfe im Alltag leisten und zugleich sichtbar machen, dass jede Form von Rassismus und Gewalt eine Antwort aus Solidarität braucht.

Diese Welle rechtsextremer Gewalt macht deutlich, wie gefährlich die Logik von Hass und Ausgrenzung ist, die der Täter selbst reproduzierte. Nach solch erschütternder Gewalt kann es keine Antwort in Gegenhass geben. Was direkt nach der Tat angebracht war, gilt auch heute, am ersten Jahrestag: Es zählt, die Betroffenen schützend in die Mitte der Gesellschaft zu nehmen, ihnen zuzuhören, ihre Erfahrungen ernst zu nehmen und ihnen die Solidarität zu geben, die staatliche Institutionen und Öffentlichkeit viel zu oft nur verspätet leisten.

Politische Einstellungen sind nicht an Herkunft gebunden

Ein Gedenken, das die Perspektive der Betroffenen ins Zentrum rückt, muss daher auch anerkennen, wo Aufarbeitung und Erinnerungspolitik blinde Flecken aufweisen. Die Initiative „München OEZ erinnern“, die sich nach dem rechtsextremen Attentat im Olympia-Einkaufszentrum 2016 gründete, hat schmerzlich erfahren, wie lange es dauern kann, bis eine rassistische oder rechtsextreme Motivation anerkannt wird. Erst recht, wenn der Täter selbst eine Migrationsgeschichte hat. Nach dem Anschlag von Magdeburg wiesen sie auf diese Parallelen hin: „Politische Einstellungen sind nicht an Herkunft gebunden“, schrieben sie in einem Statement. Dieser Vergleich macht deutlich, dass gesellschaftliche und mediale Deutung von Gewalttaten oft entlang von Herkunft und Identität verzerrt wird und dass Gerechtigkeit und Empathie nur dort beginnen, wo man allen Opfern dieselbe Anerkennung und Respekt entgegenbringt.

Wie die Stadt, Politik und Zivilgesellschaft mit diesem Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Alltag umgehen, zeigt sich nun am ersten Jahrestag und daran, wie dieser Raum des Gedenkens gestaltet ist.

Gedenken, Respekt und Solidarität gehören zusammen

Ein Jahr nach dem Anschlag ist Magdeburg erneut zum Ort des Innehaltens geworden. Zum ersten Jahrestag der Tat kommen Überlebende, Betroffene, Zivilgesellschaft, Vertreter*innen aus Politik und religiösen Gemeinschaften zusammen, um der Opfer zu gedenken. Angehörige und Unterstützer*innen betonten im Vorfeld, dass der Ort des Gedenkens nicht nur symbolisch, sondern emotional aufgeladen ist. Doch nach der Kritik von Angehörigen und Betroffenen an der Stadt in den Monaten nach dem Anschlag, wurde in diesem ersten Jahr nach dem Anschlag offenbar gelernt und die Zivilgesellschaft frühzeitig einbezogen.

Gleichzeitig zeigt sich rund um den Jahrestag auch, wie lebendig und entschlossen zivilgesellschaftliches Engagement in Magdeburg ist. Begleitend zum Gedenken in der Magdeburger Johanneskirche organisiert ein breites Bündnis aus Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaft am 20. Dezember ab 18:00 Uhr eine Menschen-Lichter-Kette um den Weihnachtsmarkt am Alten Markt. Unterstützt von der Stadt verteilen Engagierte mehrere tausend Kerzen für eine menschliche Lichterkette und zeigen, dass „Gedenken, Respekt und Solidarität“ in ihrer Stadt zusammengehören. Für viele ist dieses gemeinschaftliche Handeln nicht nur ein Symbol des Zusammenhalts, sondern eine klare Absage an den Hass, den der Täter mit seiner Tat befördern wollte.

Über die Autor*innen: Lisa Geffken und Jakob Roßa arbeiten im Kompetenzzentrum Rechtsextremismus und Demokratieschutz der Amadeu Antonio Stiftung und befassen sich dort mit aktuellen Entwicklungen im Rechtsextremismus und zivilgesellschaftlichen Gegenstrategien.

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