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Hintergründe

Der Hass gegen Lisa-Maria Kellermayr

Dr. Lisa-Maria Kellermayr war eine engagierte Ärztin, die auf Twitter für Demokratie und Wissenschaft stritt. (Quelle: Screenshot Twitter)

CN/TW Suizid*: Bedrohungen aus dem Coronaleugner*innen-Milieu treiben die Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr in den Tod. Wie können kritische Stimmen sich schützen, dabei aber ihre Äußerungsfreiheit behalten?

zuerst erschienen auf Belltower.news

 

Twitter ist bisweilen ein gefährlicher Ort. Damit das soziale Netzwerk von einem Ort des Austausches und Wissenstransfers zu einem gefährlichen Ort wird, muss nicht einmal viel passieren. Jede*r, der oder die sich auf Twitter politisch äußern, weiß das. Auch Dr. Lisa-Maria Kellermayr weiß das. Die 36-Jährige ist seit 2011 auf Twitter. Mit Ausbruch der Coronavirus-Pandemie nutzt sie ihren Twitter-Account zunehmend fachspezifisch: Als Allgemeinmedizinerin mit eigener Praxis in Seewalchen am Attersee (Oberösterreich) behandelt sie von Beginn der Pandemie an Covid-Patient*innen, nutzt Twitter etwa, als ihr dabei die gute Wirksamkeit des Asthma-Medikaments Budenosid auffällt – weit vor anderen Mediziner*innen (vgl. Standard). Sie nutzt Social Media, um diese Erkenntnis zu teilen, Kolleg*innen und Patient*innen damit zu helfen. Sie spricht sich für Impfungen aus, die sie in ihrer Praxis auch durchführt. Sie vernetzt sich mit anderen Mediziner*innen, die das auch tun. Kellermayr ist auch schockiert angesichts der Coronaleugner*innen-Proteste – und twittert auch das.

Musste sie das tun? Musste sie das auch weiter tun, als sie dafür ersten Gegenwind bekam aus dem Coronaleugner*innen-Milieu? Diese Frage wird Dr. Lisa-Maria Kellermayr ernsthaft gestellt, von Ermittlungsbehörden, von der Ärztekammer. Auch andere Menschen, die auf Social Media politisch aktiv sind, kennen diese Frage. Aber warum soll sich eine junge Ärztin einschüchtern lassen, in einer Pandemie, in der andere Menschen von ihren Erfahrungen profitieren können? Warum soll sie in einer psychisch für alle belastenden Pandemiezeit dieses Mittels des Austausches und der Entlastung beraubt werden, sich online auszutauschen? Warum soll sie schweigen? Sollte sie nicht eher in ihrer Meinungsäußerungsfreiheit geschützt werden? Ja, das sollte sie. Aber es passiert nicht.

Der Auslöser ist eine kleine Ungenauigkeit, die jedem passieren könnte

Im November 2021 geschieht der endgültige Triggermoment. Coronaleugner*innen blockieren die Zufahrtsstraße zum Krankenhaus in Wels-Grieskirchen. Wie viele andere ist auch Dr. Lisa-Maria Kellermayr schockiert über die Aktion, die gezielt in Kauf nimmt, Menschenleben zu gefährden. Die Menschenverachtung der Protestierenden, die sich Freiheit auf die Fahnen schreiben, aber damit nur ihre eigenen Vorteile meinen, so deutlich zeigt. Sie twittert: „Heute in Wels: Eine Demo der Verschwörungstheoretiker verlässt den Pfad unter den Augen von Behörden und blockiert sowohl den Haupteingang zum Klinikum als auch die Rettungsausfahrt des Roten Kreuzes.“

Ein durchschnittlicher Tweet, nicht einmal emotional. Dr. Lisa-Maria Kellermayr hat rund 16.000 Twitter-Follower. Das sind nicht übermäßig viele, aber auch nicht wenige. Hat die österreichische Polizei deshalb auf den Tweet reagiert? Jedenfalls tut sie es. Das sei eine „Falschmeldung“. Es habe noch eine zweite Zufahrt für Krankenwagen gegeben. Kellermayr tut, was reflektionsfähige Menschen tun, denen in der Hitze des Kommentierens ein Fehler geschehen ist. Sie löscht den Tweet. Doch er bleibt im Netz: Bei der Polizei, die den Tweet mit Reaktion nicht löscht. Obwohl die Ärztin darum bittet (vgl. Standard).

War sie schon vorher in der einen oder anderen Coronaleugner*innen-Gruppe Thema – jetzt ist sie der Hauptgewinn. Eine engagierte Impf-Ärztin, die die Coronaleugner*innen nun mit polizeilicher Bestätigung – so empfinden sie es – als „Lügnerin“ darstellen können. Sie erhält wüsteste Drohungen über Social Media und per Email. Die Menschen, die so etwas tun, haben oft eine Freude an detaillierten Ausmalungen der Gewalt, die sie ausüben wollen. Die Beispiele, die Lisa-Maria Kellermayr selbst veröffentlicht, als sie im Juni 2022 ihre Praxis schließt, sind brutal explizit. Am Ende steht die Ermordung der Ärztin und ihrer Angestellten. (Triggerwarnung rohe Gewalt, aber wer sie lesen möchte: wp.de, krone.at, Website der Praxis: https://www.dr-kellermayr.at).

Die Wirkung der Gewaltfantasien

Die detailliertesten Bedrohungen sind von „Claas“, ein mit Gemeinheit gewähltes Pseudonym, da Kellermayr Fan von TV-Moderator Klaas Heufer-Umlauf ist – was derjenige wissen kann, der ihre frühen Tweets gelesen hat. Das suggeriert: Ich beobachte Dich. Dazu wird in die perfide psychologische Trickkiste gegriffen. Die Ermordung müsse ja nicht jetzt geschehen, der Bedroher habe Zeit. Das sind die Widerhaken der Unsicherheit, die nicht schnell zu kappen sind.

Dann fangen Mails an, Details zu enthalten, die Kenntnisse ihrer Praxis vermuten lassen. Eine Ärztin ist eine öffentliche Person, die Adresse ihrer Praxis ist öffentlich. Coronaleugner*innen kommen in die Praxis, fotografieren, stellen die Bilder in ihre Hass-Gruppen. Menschen ist die Zugehörigkeit zum verschwörungsideologischen, antidemokratischen und antiwissenschaftlichen Coronaleugner*innen-Milieu nicht anzusehen, das ist praktisch nicht zu verhindern. Kellermayr macht dies im Februar 2022 öffentlich. Im Anschluss wird eine engagierte Hackerin herausfinden, dass einer der Bedrohenden ein Neonazi aus dem Raum Berlin ist, ein anderer kommt aus Oberbayern (vgl. Standard). Beide werden Kellermayrs Praxis vermutlich nie gesehen haben. Aber sie haben in Coronaleugner*innen-Hass-Gruppen alle Informationen gefunden, die sie für die Bedrohung brauchten. Diese beiden und viele, viele andere.

Wie ernst können, wie ernst müssen solche Bedrohungen online genommen werden? Es gehört zur psychologischen Kriegsführung des Online-Hasses, dass diese Frage niemand sicher beantworten kann. Millionen solcher Bedrohungen werden geschrieben, ohne dass sie ausgeführt werden, weil die Autor*innen nur feige Personen sind, die sich an der Vorstellung ergötzen, einem verhassten Menschen Angst einzujagen. Werden die Drohungen allerdings in rechtsextremen oder verschwörungsideologischen Räumen geteilt, können sie andere inspirieren, zur Tat zu schreiten – denken wir an die Online-Hetze gegen den ermordeten CDU-Politiker Walter Lübke, aber auch an den Mord in Idar-Oberstein und an die vielen pandemieleugnungsbedingten Gewalttaten gegen Ärzt*innen, Wissenschaftler*innen, Schuldirektor*innen, Lokalpolitiker*innen, die nichts taten außer ihren Job.

Die Praxis ist der Angriffspunkt

Im Fall von Lisa-Maria Kellermayr wird ihre Praxis der Angriffspunkt. Als sie im November die Bedrohungen anzeigt, steht sie „unter Polizeischutz“: Das heißt praktisch, einmal am Tag fährt eine Streife vorbei. Das hilft nicht gegen das Bedrohungsgefühl. Deshalb organisiert sie später einen privaten Sicherheitsdienst. Der findet vier Mal bei vorgeblichen Patienten Butterfly-Messer (vgl. tagesschau, Standard). Damit wird die Bedrohung noch realer.

Wann kommt der Punkt, an dem der Druck zu hoch wird? Dr. Lisa-Maria Kellermayr reagiert auf die Bedrohungen mit Sicherheitsmaßnahmen für ihre Praxis, ihre Mitarbeiter*innen und ihre Patient*innen, deren Kosten ihr über den Kopf wachsen, bis sie die Praxis im Juni 2022 schließt. Das ist ein sehr reales Problem, denn für Sicherheitsmaßnahmen aufgrund von Bedrohungen gibt es im deutschsprachigen Raum kaum finanzielle oder praktische Hilfen (Ausnahmen sind der Opferfonds Cura, der Sheroes-Fund und der Fonds „Berlin gegen Hassgewalt – Soforthilfefonds für Betroffene“).

Dazu kommt aber auch die Reaktionen der Polizeibehörden und der Ärztekammer, die die Ärztin nicht ernst nehmen, ihre Bedrängnis, ihre Ängste. So muss sich die 36-Jährige vorwerfen lassen, sie wolle sich doch nur wichtig machen, als sie die Bedrohungen öffentlich macht (vgl. Standard). Als vermeintlich beste Strategie wird ihr angetragen, sie solle doch bitte weniger twittern.

Mosaiksteine der Verzweiflung

Die Polizeiarbeit in diesem Fall ist leider auch symptomatisch für den Umgang mit Hass und Bedrohung online: Die österreichische Polizei gibt an, die Täter nicht ermitteln zu können. Als eine Hackerin und Journalist*innen des Standards zeigen, dass dies nicht so schwer ist, stellen die Ermittlungsbehörden fest: Die Täter kämen ja aus Deutschland. Da seien sie gar nicht zuständig. Die deutschen Strafverfolgungsbehörden ermitteln noch im Fall von „Claas“, im Falle des Täters aus Oberbayern wurden die Ermittlungen im Juni 2022 eingestellt: Sein Wunsch, sie vor „ein Volkstribunal“ zu stellen, sei von der Meinungsfreiheit gedeckt (vgl. RND).

Am 29. Juni 2022 wird die 36-jährige Allgemeinmedizinerin Dr. Lisa-Maria Kellermayr tot in ihrer Arztpraxis in Seewalchen am Attersee gefunden. Sie hat ihr Leben beendet, drei Abschiedsbriefe hinterlassen: An die Polizei, an die Ärztekammer und ein Dankesbrief an ihre Mitarbeiter*innen. Die Kronenzeitung zitiert auch aus den Briefen an Ermittlungsbehörden und Ärztekammer. In beiden gibt sie detailliert an, wie alleingelassen sie sich gefühlt hat, wie sehr sie sich Hilfe erhofft hat – und immer wieder enttäuscht wurde. Und damit auch, dass dieser Tod vermeidbar gewesen wäre, wenn jemand in Dr. Lisa-Maria Kellermayrs Umgebung den Hass im Netz und ihre Beklemmung ob des hilflosen Umgangs damit ernst genommen hätte. Erst jetzt wurde auch bekannt, dass sie bereits vor zwei Wochen versuchte, sich das Leben zu nehmen – ohne, dass der Amtsarzt den dringlichen Handlungsbedarf erkannte. Er entschied, eine Einweisung in die Psychiatrie sei nicht notwendig (vgl. n-tv). Ein weiterer Mosaikstein der Verzweiflung.

 

Anmerkung zu Suizidberichterstattung: Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten Medien in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, suchen Sie sich bitte Hilfe. Die Telefonseelsorge ist etwa telefonisch unter 0800/111-0-111 und y0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de zu erreichen. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.

* CN steht für Content Note, TW für Trigger Warnung: Beides dient zur Warnung, dass nun ein Text zum Thema folgt, dass dahinter steht. Damit Menschen den Text nicht lesen, wenn sie wissen, dass dieses Thema ihnen nicht gut tut.

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Was tun?

  • Opfer digitaler Gewalt brauchen praktischen Schutz, sie brauchen Solidarität und das Gefühl, ernst genommen zu werden. Sie brauchen eine Strafverfolgung, die willens und in der Lage ist, Täter zu ermitteln, zu bestrafen und damit auch Nachahmungstäter abzuschrecken. Sie brauchen Soziale Netzwerke, die die Gefährdungslagen ernst nehmen und Policys und Tools zu entwickeln, die Opfern ermöglichen, sich weiter als handlungsfähig zu erleben.
  • Es macht wütend, die Hilflosigkeit, zum Teil auch Resignation der Strafverfolgungsbehörden angesichts von Hass und Bedrohungen online zu sehen. Trotzdem sind sie ein wichtiger Faktor in der Bearbeitung von Hass im Netz.
  • Die Amadeu Antonio Stiftung und andere Organisationen fordern es bereits seit mehr als zehn Jahren, doch die Forderung bleibt, weil sie immer noch nicht erfüllt ist: Wir brauchen besser ausgebildete und geschulte Schwerpunktstellen für Hasskriminalität online bei Polizei und Staatsanwaltschaften. Die in der Lage sind, Täter*innen zu ermitteln und auch die Zeit und technische Ausstattung haben, das zu tun. Jeder Schritt in diese Richtung ist wichtig, aber es geschieht immer noch zu punktuell und mit zu wenig Menschen und Budget.
  • Diese Verurteilungen halten nicht einzelne Gewalttäter ab, reduzieren aber die Masse an Morddrohungen online und damit auch die Inspirationsmenge für potenzielle Täter*innen.

 

  • Wir haben kompetente Beratungsstellen zu Rechtsextremismus und Hass im Netz, die Betroffenen weiterhelfen könnten, wenn die Polizei es nicht tut. Diese brauchen eine Öffentlichkeits-Kampagne für, damit Betroffenen wissen, an wen sie sich außer der Polizei wenden können. Am besten sollte die Polizei bei Anzeigen dieser Art über lokale Angebote informiert sein und direkt an Opferberatungsstellen und Mobile Beratungen verweisen.
  • Eine Liste dieser Initiativen auf Belltower.News

 

  •  Wir brauchen mehr Hilfsfonds für Opfer digitaler Gewalt. Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen oder Umzüge bei akuter Bedrohung kosten Geld. Bisher gibt es private Initiativen wie:
  •  Opferfonds Cura
  •  Sheroes-Fund
  •  Und sporadisch staatliche Mittel wie in Berlin mit dem Fonds „Berlin gegen Hassgewalt – Soforthilfefonds für Betroffene“.
  • Dies sollte als Vorbild für andere (Bundes-)Länder dienen, Verantwortung und Schutz der Bürger*innen ernst zu nehmen.


Bitte nicht aufgeben

  • Nach Bekanntwerden des Todes von Dr. Lisa-Mary Kellermayr haben einige prominente deutschsprachige Twitter-Accounts angekündigt, das Netzwerk aufgrund seiner Toxizität zu verlassen. Das ist völlig legitim: Wer merkt, an seine persönlichen Belastungsgrenzen zu stoßen, sollte dies ernstnehmen und entsprechend pausieren oder den Account löschen.
  • Weil damit aber wichtige Stimmen im digitalen Diskurs verloren gehen, hier noch ganz praktische technische Empfehlungen für ein weniger toxisches Twitter des Social-Media-Analysten Luca Hammer:
  • Twitter bietet eine Reihe von Funktionen, um sich weniger angreifbar zu machen oder um im Falle eines Angriffs die Wirkung zu reduzieren.
  • Es ist völlig legitim, Menschen auf Twitter zu blocken. Dies hilft vor allem, um mit denen zu sprechen, an deren Meinung man interessiert ist, ohne dabei permanent von Hater*innen gegängelt zu werden.
  • Natürlich lassen sich Accounts auf Privat stellen. Wer dies aber nicht möchte: Es lassen sich aber auch die Benachrichtigungen über Erwähnungen reglementieren – damit man nicht jeden Hass-Tweet selbst lesen muss (Hier: https://twitter.com/settings/notifications/advanced_filters)
  • Auch die Blockparty-App hilft, sich dem Hass nicht ungefiltert aussetzen zu müssen.
  • Auf Twitter lässt sich beschränken, wer auf Tweets antworten kann. Dann können Hater*innen zwar noch mit Screenshots hassen, aber nicht mehr auf dem eigenen Account.
  • Wer merkt, dass es zu viel wird: Eine Pause machen. Twitter verlassen, in der Offline-Welt Menschen treffen, Abstand gewinnen.
  • Wer Twitter auch dann nutzen möchte, wenn auf dem Hauptaccount ein Hass-Sturm wütet: Einen zweiten Account eröffnen, den man nur mit handverlesenen Freund*innen teilt.

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