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Der Hass und die Vergangenheit: Das Projekt GeschichtsCheck

Mit einiger Verzögerung ist das Thema Hate Speech im Jahr 2016 endlich mit Macht im Mainstream angekommen – ganz Deutschland (mit Ausnahme der Trägermedien wie Facebook und Twitter) ist sich einig, dass dagegen etwas getan werden müsse, lediglich die Mittel der Wahl unterscheiden sich. Dass dem Problem flächendeckend mit dem Strafrecht beizukommen sei, glauben die wenigsten, auch das Löschen kann keine nachhaltige und umfassende Lösung sein.

Mittel gegen den Hass

Den Trägermedien wäre grundsätzlich Counter Speech am liebsten, weil sie sich damit jeglicher Verantwortung entziehen und die Community machen lassen könnten. Wie deutlich dieser vulgäranarchistische Ansatz zum Scheitern verurteilt ist, kann man aktuell auf der Forenplattform Reddit sehen: Weil dort lange überhaupt nicht und später nur zögerlich ganze (von User*innen eingerichtete und moderierte) Unterforen für Neonazis („Coontown“), Pädophile („Jailbait“) und Lookist*innen („FatPeopleHate“) gelöscht wurden, konnte sich eine zahlenmäßig sehr starke Userschaft auf Reddit zusammenfinden, die nun auch die dem organisierten Hass unverdächtigen Unterforen prägt.

Hass ist nie rational, er folgt nicht den Regeln der Vernunft und der Logik, er ist nicht auf dem Boden der fundierten Argumentation zuhause. Hass braucht den Widerspruch, denn wenn er für sich alleine steht, ob im Internet oder gedruckt, dann kann er sich ungehindert ausbreiten, er verschiebt die Grenzen des Sagbaren kontinuierlich nach außen. In diesem Zusammenhang ist Gegenrede unbedingt notwendig, weil sie sich nicht an die Urheber*innen wendet, sondern an die ungezählten teilnahmslosen Leser*innen im Netz. Aus diesem Grund ist es unbedingt notwendig, zum Thema Hate Speech auch auf inhaltliche Expert*innen zu setzen.

Negativer Gründungsmythos als Ausgangspunkt

Zu diesem Zweck hat der Verein Open History das Projekt „GeschichtsCheck“ ins Leben gerufen, in dem ein Team von sechs studierten Historiker*innen ein bislang unbeachtetes Element von Hate Speech in den Blick nimmt: Die historische Hassrede. Unsere Projektdefinition dieses Begriffes lautet:
„Historische Hassrede ist der Versuch, menschenfeindliche Äußerungen mithilfe von Argumenten aus der Geschichte zu belegen. Diese Argumente sind meist verfälscht, erfunden oder werden in einen falschen Zusammenhang gestellt.“
Dem zugrunde liegen unsere eigenen Erfahrungen mit der Instrumentalisierung Geschichte zur Begründung verschiedenster Äußerungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Geschichtskenntnis dient immer auch als Ausweis besonderer Bildung, Argumente aus der Geschichte somit als besonders schwerwiegend und zugkräftig. Gleichzeitig ist die Vergangenheit überall, aber insbesondere in Deutschland, ein Gravitationspunkt, um den auch politische Debatten und Entscheidungen immer wieder in mal engeren, mal weiteren Umlaufbahnen kreisen. Denn während Länder wie die USA und Frankreich ihren positiven Gründungserzählungen frönen, wurde die Bundesrepublik auf dem negativen Gründungsmythos Nationalsozialismus erbaut. Um also vom (in mitunter sehr kreativer Auslegung existierenden) Vorrang der Menschenwürde abzukehren, bedarf es für Hassredner*innen auch einer Abkehr von diesem negativen Gründungsmythos. Nicht durch Zufall steht in einem Großteil der von uns gesammelten Beispiele für historische Hassrede die Abwehr von deutscher Schuld aus Holocaust und Zweitem Weltkrieg ganz am Anfang.

Doch nicht nur der Nationalsozialismus ist ein beliebtes Ziel historischer Hassrede: Unter dem Eindruck der Debatte über Geflüchtete werden die eigentlich schon im 19. Jahrhundert zu den Akten gelegten Vorstellungen eines reinrassigen Germanentums wieder hervorgeholt, wird Migration zum Grund für den Untergang des Römischen Reiches stilisiert, werden die Kreuzzüge des Mittelalters umgedichtet zu einem „verteidigenden Erstschlag“ gegen einen vermeintlich ganz Europa bedrohenden Islam. Bislang standen solche Kommentare, die oft sorgfältig formuliert sind, in den Facebook-Kommentarspalten von großen deutschen Medienhäusern für sich allein. Sie hatten für Menschen, die hauptsächlich Soziale Medien konsumieren und kein darüberhinausgehendes Interesse an Geschichte haben, das Monopol auf die Deutungshoheit über die Geschichte. Mit GeschichtsCheck versuchen wir dieses Monopol aufzubrechen und uns ganz bewusst als für Diskussionen offene Expert*innen einzuschalten. Wo immer wir hassproduzierende Instrumentalisierungen von Geschichte finden, mischen wir uns ein und betreiben aktive, wissenschaftlich fundierte und trotzdem allgemeinverständliche Gegenrede. Dass wir damit die Schreiber*innen von Hate Speech überzeugen, ist unwahrscheinlich. Doch wichtiger sind all jene, die nun wählen können zwischen unbelegtem Hass und aktuellem historischem Forschungsstand.

Faktisches zerlegen von antisemitischen Verschwörungsmythen: Holocaustleugnung

Denn politisch motivierte Sender historischer Hassrede sind oft erstaunlich gut motiviert und können in vielen Fällen aus einem fast unerschöpflichen Fundus an vermeintlichen Argumenten schöpfen. Die mittlerweile fast 70 Jahre alte antisemitische Verschwörungstheorie der Holocaustleugnung ist dafür ein prägnantes Beispiel. Als simple Negierung von Vernichtungslagern gestartet, stützt sie sich heute auf vermeintliche Zeugenaussagen, auf Falschinformationen der Alliierten direkt nach dem Krieg und auch auf pseudo-naturwissenschaftliche Gutachten. Gerade auf letztere haben selbst erfahrene Historiker*innen oft nicht auf Anhieb eine Antwort, da sie keine biologische Expertise haben. Dabei ist es ganz einfach: Die am häufigsten verwendete Form der Holocaustleugnung behauptet, das Vernichtungsgas Zyklon B sei in Auschwitz nur zur Entlausung von Kleidung verwendet worden (wofür es tatsächlich ursprünglich verwendet wurde), die Rückstände des Gases an den Mauern der Gaskammern seien zu gering, um damit Menschen ermordet zu haben. Tatsächlich aber belegt dieses scheinbare Leugnerargument erst, dass in Auschwitz massenhaft Menschen ermordet wurden: da die Blausäure des Zyklon B auf Menschen um ein Vielfaches giftiger ist als für Läuse, sind geringe Rückstände in den Gaskammern im Vergleich zu den Entlausungsräumen ein Beleg für das Gegenteil dessen, was die Hassredner*innen eigentlich aussagen wollen. Doch um solche Argumente zu dekonstruieren und zu widerlegen, braucht es Fachwissen in der Gegenrede sowie, für alle, an leicht findbaren Orten im Netz.

Mythen dekonstruieren

Daher haben wir neben der Gegenrede auf GeschichtsCheck.de ein Blogportal gegründet, in dem wir die häufigsten für historische Hassrede verwendeten Mythen aufgreifen, in knappen Stichpunkten dekonstruieren und in einem umfangreicheren Artikel erklären. Dieser „Werkzeugkasten“ soll perspektivisch auch über den bisherigen Projektzeitraum hinaus stetig wachsen und eine Anlaufstelle für all jene sein, die selbst gegen historische Hassrede anreden wollen und dafür verlässliche Informationen benötigen.

Weil wir aber auch als Expert*innen eben nicht zum Träger von Herrschaftswissen aus dem Elfenbeinturm werden wollen, ist das Kernstück des Projektes GeschichtsCheck, das von der Bundeszentrale für politische Bildung bis Ende Januar 2017 finanziert wird, die Kompetenzvermittlung in Workshops. In allen weiterführenden Schulformen, in außerschulischen Workshops und Webinaren möchten wir junge Menschen zwischen 14 und 24 Jahren für das Thema „Historische Hassrede“ sensibilisieren und ihnen das Handwerkszeug vermitteln, mit dem sie solche Kommentare erkennen, dekonstruieren und widerlegen können. Für alle Veranstaltungsformen suchen wir noch im gesamten Bundesgebiet Kooperationspartner – wir freuen uns über jede Kontaktaufnahme!

Gastautor: Moritz Hoffman, GeschichstCheck

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