Rechtspopulist*innen und Rechtsradikale lieben Belege für den „Untergang“ des „Abendlandes“, den sie seit Jahren imaginieren. Wenn man ihn populistisch mit Kindern, Essen und Religion kombinieren kann, trendet eine komplette Nichtigkeit sogar tagelang bei Twitter: Die #Schweinefleisch-Debatte erregt die deutschsprachige Social Media-Gemeinde. Wie wird argumentiert?
Der Artikel erschien zuerst auf belltower.news
Am 23.07.2019 ist #Schweinefleisch Nummer 1 der Twitter-Trends in Deutschland, auch am folgenden Tag schwillt die Debatte kaum ab. Passiert war: Eigentlich nichts. Zwei private Kindergärten in Leipzig wollen auf ihrem Speiseplan kein Schweinefleisch mehr anbieten, weil auch zwei muslimische Mädchen die Kita besuchen. Die Eltern wurden darüber in einem Brief informiert. Auf nicht belegten Wegen hat der Brief seinen Weg in die Redaktion der Boulevardzeitung BILD gefunden, und dort war jemand empört oder hat zumindest die Vermutung entwickelt, dass sich hier mit Islamfeindlichkeit und nationalistischen Ressentiments Klicks machen lassen. Diese Annahme teilte offenbar die BILD-Redaktion bundesweit und setzte die Geschichte, die eigentlich nicht einmal eine ist, auf die Titelseite der bundesweiten BILD-Ausgabe, und titelte: „Aus Rücksicht auf das ‘Seelenheil’: Kita streicht Schweinefleisch für alle Kinder “. Auf der BILD-Internetseite war die Geschichte sogleich ein Bezahlinhalt, so dass sich die These, dass hier mit Islamfeindlichkeit und Ressentiments Geld gemacht werden sollte, sogleich belegen lässt. Leider geht das Kalkül auf: Allein auf Facebook hat der Hauptpost innerhalb eines Tages rund 19.000 Interaktionen – eine wirklich hohe Zahl. Die #Schweinefleisch-Debatte explodiert auch auf Twitter. Diverse weitere Medien nehmen das Thema auf.
Wer in Deutschland ein Kind in der Kita hat, weiß allerdings, dass dieses Thema eigentlich keines ist: Denn dass in Kindergärten im Rahmen der Möglichkeiten auf die Ernährungsbedürfnisse der betreuten Kinder eingegangen wird, ist eine Selbstverständlichkeit. Wenn ein Kind mit Nussallergie in eine Kitagruppe geht, sind Nüsse auch für die anderen Kinder der Gruppe tabu, und wenn sie darüber jemand aufregen würde, müsste er oder sie sich zu Recht als rücksichtsloser Mensch bezeichnen lassen. Überhaupt steht Schweinefleisch spätestens seit Zeiten der Schweinepest und aufgrund Überlegungen zu gesunder Ernährung kaum noch auf Kita-Speiseplänen (vgl. Berliner Morgenpost). Aus gesundheitlichen, aber auch finanziellen und praktischen Gründen (vgl. Watson.de) bieten viele Kitas vermehrt fleischloses Essen an. Noch weniger akut ist das angebliche Gummibärchen-Verbot: In Kitas gibt es in der Regel ein grundsätzliches Süßigkeiten-Verbot, denn in der Kita sollen die Kleinen gesundes Essen bekommen. Die Gummibärchenthematik stellt sich also höchstens bei Festen.
Offenkundig geht es also bei der Schweinefleisch-Debatte weder um Kita-Ernährung noch um das Wohl von Kindern. Spätestens, seit Shitstorm und Bedrohungen gegen die zwei Leipziger Kitas so groß geworden sind, dass die Polizei zu Sicherheitsgesprächen vorbeikam, wird augenfällig, wie wenig den Diskutierenden Kinder am Herzen liegen, die nun sogar mit Angst vor Übergriffen der Schweinefleischverteidigerfraktion in die Kita gehen müssen.
Stattdessen geht es um die angebliche „Islamisierung“ Deutschland und um vorgebliche deutsche Leitkultur, die sich hier in Schweinefleischform manifestiert. Dabei ist es den Diskutierenden auch völlig egal, dass die angebliche „Islamisierung“ weder von den muslimischen Kleinkindern noch von deren Eltern ausging. Sehen wir uns die Argumentationsstränge an: Vor allem geht es darin um „deutsch“ und „fremd“ sein – und um das Demokratieverständnis in Bezug auf Mehrheitsverhältnisse und Minderheitenschutz:
Dass es eigentlich um ein seit den 1990er Jahren verbreitetes Konzept gesunder Ernährung geht, bei dem Kinder vor allem keine ungesunden Lebensmittel zum Frühstück mit in die Kita bringen sollen, wird hier auf muslimische Kinder projiziert und als „Islamisierung“ begriffen. Aber um die Ernährung geht es hier vielen Kommentator*innen nicht:
Wer nun denkt, wie diese Dramatisierung möglich ist, dass ein Speiseplan ohne Schweinefleisch zur Abschaffung von Weihnachten führen solle – die BILD verbreitet heute genau diese Erzählung über den Feiertagskalender der Kita. Dort gäbe es die christlichen Feste nicht mehr – eine Lüge, wie der BILDblog recherchiert hat, denn im interkulturellen Kalender der Kita werden nicht nur, aber natürlich auch christliche Feste gefeiert, neben muslimischen, jüdischen und buddhistischen.
Schweinefleisch wird zu dem stilisiert „was unserer Großeltern und Eltern geschafft haben“. Kein Schweinefleisch in der Kita wird als „Anpassung“ empfunden, der nächste Kommentar spitzt es weiter zu mit der auch bei Rechtsextremen beliebten Parolen nur „Gast im eigenen Land zu sein“. Das finden auch andere:
Warum das Gast-Sein hier vielleicht eine besonders gruselige Vorstellung ist, zeigt die Schweinefleisch-Diskussion auf dem Facebook-Profil von Beatrix von Storch, siehe weiter unten im Text.
Aber erst einmal weiter mit der BILD-Facebook-Diskussion. Hier wird weiter argumentiert, mit Schweinefleisch werde einem ALLES genommen:
Das hatte sich ein Kommentator sieht den Anlass, darauf hinzuweisen, dass sich dies „die Bürgerrechtler“ der DDR wohl anders vorgestellt hätten:
In weiteren Postings wird die Dringlichkeit der Erzählung, die „Islamisierung“ schreite voran, unterstrichen:
Auch die Erzählung der geplanten „Umerziehung“ aus religiösen Gründen kommt hier vor:
Einige Diskussionsteilnehmer*innen geben auch offen an, dass es ihnen nicht um den Fall in Leipzig geht:
Egal, wie sachlich Gegenargumente präsentiert werden: Im Grunde genommen laufen die Diskussionen auf dies Position hinaus:
Dass die AfD das Thema nutzt, verwundert nicht. Exemplarisch ein Beitrag von der Berliner AfD-Funktionärin Beatrix von Storch auf Facebook:
Weiter heißt es in ihrem Text: „Das Verbot ist kein Zeichen des respektvollen Miteinanders, sondern ein Akt der Unterwerfung. Elementare demokratische Prinzipien werden durch dieses Minderheiten-Diktat außer Kraft gesetzt. Es ist höchste Zeit, sich diesem Irrsinn entgegenzustellen. Mettbrötchen, Schweineschnitzel und nicht-halal Gummibärchen sind normal in Deutschland – alles andere ist nicht normal und wird auch mit der AfD niemals die Norm werden. Und wer sich nicht an unsere Leitkultur anpassen mag oder kann, darf seine Gewohnheiten und Normen gerne leben – aber eben nicht bei uns.“
Wenig verwunderlich ist die Diskussion unter diesem Post nicht sehr zielführend. Ein User versucht sich dennoch an einem ironischen Kommentar, was aber nicht gut ankommt:
Ein Konter kommt:
Dass zur Demokratie auch Minderheitenschutz gehört, nicht die absolute Bestimmungsvollmacht der Mehrheit, ist in diesem Umfeld offenbar eine neue Information.
Wer Muslim ist, so geht hier die Erzählung, ist erst mal ein „Gast“, und das Verständnis von „Gast“ ist hier auch bezeichnend: Während anderswo Gäste mit besonderer Zuvorkommenheit behandelt werden, muss sich bei „Franz“ der „Gast“ anpassen. Schließlich hat noch ein Teilnehmer einen wenig sinnvollen Vorschlag – doch selbst der findet Zustimmung:
Ist Schweinefleisch ein Ausdruck „deutscher“ Kultur? Etliche Politiker*innen auch konservativer Parteien steigen in die Debatte emotional und ohne Prüfung der Faktenlage ein (denn es gibt ja kein Verbot, nur eine Streichung vom Speiseplan):
So twittert die CDU Sachsen:
Dass im Bild allerdings Hühnchen statt Schweine-Spieße zu sehen sind, führte zu einiger ironischer Kommentierung.
Ähnlich ergeht es allerdings der FPÖ. Deren Jugendorganisation fordert vorsorglich:
Dazu folgte der passende Kommentar:
Die Leipziger Kitas haben inzwischen vor der Wucht der Schweinefleischdebatte kapituliert – nicht zuletzt, weil sie massive Drohungen erhalten hat. Inzwischen hat die Kita-Leitung die Streichung des Schweinefleisches auf einen Elternabend nach den Sommerferien vertagt – obwohl sich bisher keine Eltern aus den Kitas beschwert haben, sondern auch Journalist*innen gegenüber nur Positives äußern.
Die rechtsradikale Szene gibt sich allerdings mit der Versicherungen der Kita, die Kinder dürften weiterhin Salami-Brötchen und Gummibärchen von zu Hause mitbringen, nicht zufrieden: Die Rechtsaußen-Splitterpartei „Aufbruch deutscher Patrioten Mitteldeutschland“ (ADPM)‘“ von Ex-AfDler André Poggenburg kündigt für den morgigen Freitag eine Kundgebung an („Keine Indoktrination und Islamisierung an Kitas und Schulen“) – natürlich direkt vor den Kindertagesstätten „Konfuzius“ und „Rolando Toro“, um Kindern, Erzieher*innen und Eltern gleich richtig einzuschüchtern. Eine Gegenkundgebung „Gesunde Toleranz statt Deutschtümelei“ ist ebenfalls angemeldet, unter anderem von „Leipzig nimmt Platz“. Nun liegt der Ball bei der Stadtverwaltung Leipzig – nur die könnte den Ort der Kundgebung verschieben, damit die Kinder nicht von einer rechten Demo in Angst versetzt werden.
Dass Rechtsaußen-Internet verarbeitet Schweinefleischgate natürlich auch online. Dabei kommen Sharepics heraus wie dieses:
Der nach eigenen Angaben Ex-Polizist und YouTuber Tim Kellner verbreitet hier seine „Leitkultur“.
Die rechtspopulistische Demo-Rednerin „Myriam – Stimme von Kandel“ hat diese Ansicht:
Die Täter? Sind für sie Menschen, die Schweinefleisch vom Speiseplan streichen Verbrecher? Offenkundig.
Auf dem islamfeindlichen Blog PI-News gibt es einen Text des AfD-Bundestagsabgeordneten Gottfried Curio. Dessen Titelzeile ist zwar auch frei von Fakten, klingt allerdings, als habe er bereits kapituliert:
Im Text allerdings wird es unschön, denn da erläutert Curio, warum ein Schweinefleischverzicht in einer Kita in seiner Logik mit Dschihad und Scharia zu tun hat: „Es gibt ihn mittlerweile tatsächlich, den täglichen „Dschihad im Kleinen“, der sich in der Besetzung des öffentlichen Raumes durch Migranten mit ihren fremdkulturellen Eigenheiten manifestiert.“ Für ihn die Folge: „Das gesellschaftliche Einknicken vor dem Islam führt auf deutscher Seite zusehends zu dem Gefühl, hier nicht mehr heimisch zu sein.“ So ist der Handlungszwang, der immer mehr Islamfeinde bis zur Gewaltanwendungen treibt, treffend beschrieben.
Vollends ins Wahnhafte kippt die Erzählung beim Kopf der rechtsextremen „Identitären Bewegung“, Martin Sellner, dessen Videos aktuell teilweise nicht mehr auf YouTube zu sehen sind, weil sie gesperrt wurden. Zum Schweinefleischfall sagt Sellner: „Es geht nicht um Schweinefleisch, es geht um den Akt der Unterwerfung. Es ist auch wurscht, ob man jetzt Bevölkerungsaustausch, Strukturwandel oder Großer Austausch dazu sagt.“ Die Gesellschaft solle sich jetzt nicht zurücklehnen, nur weil die Kita das (nicht vorhandene) „Schweinefleischverbot“ zurückgezogen habe: „Noch geht das, denn es sind nur zwei muslimische Mädchen. Aber was ist, wenn es mal mehr als 50 Prozent der Kinder sind, dann kann die Kita das nicht mehr zurückziehen, dann ist es ein Akt der zwanghaften Unterwerfung.“ Wenn die Realität nicht ausreicht, werden eben Visionen verwendet, um den Hass auf Muslime zu schüren.
Enden wir mit einer Tortengrafik: