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Ein Morgen in Berlin, ein Treffen von Freunden

Ein Morgen in Berlin, ein Treffen von Freunden

Cem Özdemir zog 1994 als einer der beiden ersten deutschen Politiker:innen mit türkischen Eltern in den Bundestag ein, zusammen mit Leyla Onur (SPD). Von 2008 bis 2018 war er Bundesvorsitzender der Grünen, wäre gern Außenminister geworden und wird als Nachfolger des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann gehandelt. Özdemir gilt als politisches Schwergewicht. Und weil er sagt, was er denkt, auch vielen Nazis als Hassfigur.


Eine Erfahrung, die Anetta Kahane kennt. Die beiden verbindet eine langjährige Freundschaft, Özdemir war Gründungskurator der Stiftung. Und beide werden seit Jahren bedroht. Özdemir stand zeitweise unter Polizeischutz. „Augen auf bei der Berufswahl“, sagt der Politiker, „ich muss damit leben.“ Das Gespräch der Streitbaren im August 2019 beginnt also mit einer liebevoll-sarkastischen Selbstvergewisserung über den Stand der Dinge.

Cem Özdemir und Anetta Kahane. Foto: © Peter van Heesen

Cem Ozdemir (C.Ö.): Anetta, machen wir es wie immer bei unseren Treffen? Erstmal ein paar böse Witze auf unsere Kosten?


Anetta Kahane (A.K.): Du meinst wie meinen Spruch kürzlich: „Eine Todesliste, auf der ich nicht stehe, ist nicht der Rede wert.“


C.Ö.: So einen Satz muss man erstmal raushauen!

 

A.K.: Es ist ja nicht so, dass ich mich über derartige Todeslisten freue. Aber andererseits wäre es ja auch wirklich fatal, wenn ich da nicht draufstünde, was würde das über mich sagen? Diese Art von Galgenhumor kenne ich schon mein Leben lang. Meine Eltern hatten ihn auch, sie haben auf diese Weise sozusagen die NS-Zeit überlebt.


C.Ö.: Du hast mir beigebracht, dass, wenn wir gewinnen wollen gegen die Hässlichkeit, wir uns nicht in deren Methoden angleichen dürfen; sondern dass wir unseren Humor niemals verlieren dürfen. Und der beginnt immer damit, dass man über sich selbst lacht. Nur dann ist man in der Lage, sich der Gesellschaft mit den Mundwinkeln nach oben zuzuwenden.

 

A.K.: Ich muss allerdings sagen, manchmal erschrecke ich dann auch ein bisschen, wenn ich auf meine Feststellung eine Antwort erhalte. In diesem Fall einen hasserfüllten Brief: „Keine Sorge: Sie stehen ganz oben auf unserer Liste.“

 

C.Ö.: Ist es „ein bisschen erschrecken“? Oder hast du dann Angst?

 

A.K.: Ich kenne eigentlich keine Angst. Es ist eher so, dass es Tage gibt, an denen ich mich einfach nicht so gut fühle. Und dann merke ich, das muss so etwas wie Angst sein, so ein düsteres Gefühl. Vielleicht ist es auch schlicht ein Mangel an Fantasie. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass da wirklich einer kommt und mich abknallt. Möglicherweise hat auch das mit meiner Kindheit zu tun. Verstehst du, ich habe schon immer irgendwie gedacht, was ist das, was wir hier durchmachen, im Vergleich zu dem, was meine Eltern erlebt haben? Ich weiß natürlich nicht, wie das ist, wenn da jetzt wirklich mal einer kommt. Aber bis dahin ... Ich bin nun mal eine Hassfigur. Bist du ja auch für deine türkischen Nationalisten, Faschisten und wer weiß nicht wen alles. Es reicht doch in der Regel, unsere Namen zu nennen – und schon schreien alle auf. Du bist auch Jude, oder? Haben sie das nicht immer zu dir gesagt?

 

C.Ö.: Jaja, ein dreckiger Jude ... Es ist ja nicht so, dass man sich darum bewirbt, eine Hassperson zu werden. Es passiert eher durch äußere Faktoren. Bei mir war das relativ schnell nach meiner Wahl in den Deutschen Bundestag. Für manche Deutsche war es eine unglaubliche Provokation, dass ich sage, ich bin deutscher Staatsbürger, es ist mein Land, meine Heimat. Ich gebe zu, ich unterstreiche das vielleicht deutlicher als andere. Auch weil es mir auch eine bübische Freude bereitet, zum Beispiel AfD-Politikern zu erklären, wie man sich in Deutschland gefälligst benimmt. Was unsere Traditionen sind und dass wir diese nicht ändern werden wegen des Aufkommens der AfD. Weder, wie wir über die Vergangenheit reden, noch wie wir den Geist des Grundgesetzes hochhalten. Ich habe jetzt übrigens neben der Europa- auch eine Deutschlandfahne in meinem Büro. Ich finde es wichtig, dass man diese Fahne in Schutz nimmt. Die Nazis haben sie gehasst und verachtet. Und darum ist es wichtig, dass gerade wir, die wir für ein liberales Deutschland stehen, diese Fahnen nicht denen überlassen, sondern uns der Symbole dieses Landes bemächtigen. Das sind unsere Symbole, das sind keine exklusiven, sondern inklusive Symbole. Und ich muss sagen dürfen: Ich bin Deutscher, auch wenn meine Eltern aus einem anderen Land kamen.

 

A.K.: Damit hast du dir in der Türkei auch keine Freunde gemacht ...

 

C.Ö.: Stimmt. Am Tag meiner Wahl in den Bundestag titelte eine türkische Zeitung „Wir haben Bonn eingenommen“. Da dachte ich, habe ich irgendein Fußballspiel verpasst oder einen Krieg? Bis ich gemerkt habe, es geht um mich. Bei meiner ersten Türkeireise wollten sie mich dann dort feiern – als verlorenen Sohn, der durchkam und jetzt für die Rechte der armen, unterdrücken Türken kämpft. Aber ich habe von Anfang an gesagt, natürlich haben wir auch in Deutschland Probleme, wir haben Rassismus, Diskriminierung. Aber diese Probleme lösen wir in Deutschland zusammen. Und dabei sortiert sich die Konfliktlinie nicht entlang der Ethnie. Sie sortiert sich entlang der Werte und der Grundüberzeugung. Mit dir, Anetta, die weder einen türkischen noch einen muslimischen Hintergrund hat, verbindet mich weit mehr als mit jemandem, der zufällig dieselbe Muttersprache spricht und möglicherweise sunnitischer Muslim ist, der aber ein Fascho ist oder ein reaktionärer Drecksack. Das habe ich dort sehr deutlich gemacht – und es hat dazu geführt, dass nach meiner Türkeireise dort aus großen Sympathien zum Teil das Gegenteil wurde. Ich habe einfach alles gemacht, um die Leute vor den Kopf zu stoßen.

 

A.K.: Darin bin ich auch richtig gut. Ich bin viel zu impulsiv, wenn ich irgendetwas sage – von dem dann irgendein Minister oder sonst jemand schockiert ist. Ich kann einfach nicht mit meiner Meinung hinter dem Berg halten. Vielleicht, weil es auch in der DDR einfach so unfassbar zäh war. Es war alles so indirekt. Es musste immer alles über Umwege gesagt, gemacht, gedeutet werden. Und dann war die Mauer weg. Weißt du, das ist so, wie wenn man ein Leben lang gegen eine Mauer rennt und dann ist die plötzlich weg. Dann schießt du los. Das ist auch die Politik der Stiftung. Es geht nicht um Haudrauf, aber an den Stellen, wo Klarheit nötig ist, da sind wir auch klar.

Cem Özdemir. Foto: © Peter van Heesen

C.Ö.: Das ist so wichtig. Und vielleicht noch eine Sache, die uns beide in besonderer Weise verbindet: Den Kampf gegen Ausgrenzung und Rassismus, den führen wir ja nicht, weil wir der Meinung sind, dass es sich bei Zugewanderten und deren Nachfahren um per se bessere Menschen handelt. Sondern weil jedem Menschen eine Würde innewohnt. Das hindert uns aber nicht daran, dieselben Menschen, die wir in Schutz nehmen, auch heftig zu kritisieren und durchzuschütteln, wenn sich herausstellt, dass wir es bei ihnen mit Antisemiten zu tun haben. Oder mit Leuten, die den Kurden absprechen, dass sie eine eigene Sprache haben, die den Aleviten absprechen, dass sie eine eigene Kultur oder Religion sind. Oder die glauben, dass Frauen Menschen zweiter Klasse sind.

A.K.: Im Grunde bedeutet das, egal ob jemand einer Minderheit angehört oder nicht, egal ob jemand einen deutschen oder nicht-deutschen Hintergrund hat: Diskriminiert werden darf man nicht. Beleidigt oder geschlagen werden darf man nicht. Das muss einfach Rechtskonsens sein. Wer Hass verbreitet, wer jemanden angreift, beleidigt oder physisch schädigt, muss bestraft werden. Egal, ob er selbst Diskriminierung erfahren hat, egal ob er selbst einer Minderheit angehört, Mann, Frau oder sonst was ist. Es ist einfach nicht erlaubt.


C.Ö.: Ich glaube, das ist die Voraussetzung für die funktionierende Gesellschaft. Dazu gehören auch viele weitere Dinge, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollten: dass man Menschen ausreden lässt, dass man sie nicht anbrüllt oder niederbrüllt, dass man ihre Würde nicht infrage stellt. Das gilt auch für die Politik und für die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Die Voraussetzung für ein ernsthaftes Gespräch ist, dass man sich an gemeinsam vereinbarte Spielregeln hält. Zum Beispiel, dass man gerne über die Schlussfolgerung aus Fakten diskutieren kann, aber man kann die Fakten nicht diskutieren. Ich kann nicht darüber diskutieren, ob ein Tisch Tisch genannt wird. Darauf hat man sich irgendwann mal geeinigt, und wenn die AfD den Tisch Stuhl nennen möchte, dann werden wir das nicht machen. Und Statistiken kann man interpretieren und auch unterschiedlich auslegen, aber die Statistik als solche infrage zu stellen, führt dazu, dass ein Gespräch keinen Sinn mehr macht. Weil man dann die Wissenschaft selbst infrage stellt. Und das ist die große Gefahr, in der wir jetzt sind. Und da sind wir nicht allein, das passiert ja auch in den USA, da gibt’s sogar einen Präsidenten, der von alternativen Fakten spricht.


A.K.: So wie: „Wissenschaft ist auch nur eine Meinung“ ...


C.Ö.: ... umso wichtiger, dass wir hier auf unsere Spielregeln bestehen. Ich bin ein großer Anhänger des ehrlichen Diskurses, des Gespräches, des Streites, das muss sein. Aber Fakten sind Fakten.


A.K.: Die Immunisierung gegen diese Art von Faktenverleugnung und die Wiederherstellung des menschlichen Umgangs miteinander – das sind zwei der vielen wichtigen Aufgaben, derer wir uns angenommen haben. Eines unserer großen Projekte hieß debate//de:hate, also Debattieren und Enthassen. Man muss Debatte wieder neu lernen, das ist eine Kulturtechnik, die den Menschen in seiner Würde lässt, die nur über die Meinung streitet.

C.Ö.: Und noch etwas müssen wir übrigens besser machen als die USA. Dort spricht man an der Ost- und Westküste vom Rest des Landes als den sogenannten flyover states, wo man möglichst wenig Zeit verbringen will – zu rückständig und zu reaktionär. Bei uns besteht zur Zeit die Gefahr, dass etwas Ähnliches passiert – mit der ehemaligen DDR. Wir haben in Deutschland den Generationenkonflikt über 60/unter 60, wir haben zusätzlich noch die Stadt-Land-Dimension. All das kommt in den neuen Ländern zum Teil in massiver Form zusammen. Die Mauer ist in mancherlei Hinsicht quasi fast wiedererrichtet. Die AfD-Wahlergebnisse gehen im Westen runter und im Osten hoch.

Anetta Kahane. Foto: © Peter van Heesen

A.K.: Das Schlimme ist, dass die DDR im Grunde nie als Nachfolgestaat des Nationalsozialismus wahrgenommen wurde. Die DDR hat damals erklärt, „Ich, DDR, bin antifaschistisch“, und dann war das Thema erledigt. Dass es natürlich für eine Aufarbeitung von Nationalsozialismus eine andere Art von Diskussion und Konfliktbearbeitung, von schmerzhaften Prozessen braucht, ist klar. Das ist in der DDR nicht passiert, das ist nach der Wende nicht passiert. Jedenfalls nicht ausreichend. Und deswegen muss man sich nicht wundern, wenn rechte Parolen durch die Gesellschaft gehen wie ein Messer durch die Butter. Es gibt so wenig Widerstand dagegen, weil es die Leute nicht berührt, weil sie eine ehrliche Auseinandersetzung nicht kannten. Auf der persönlichen Ebene nicht, auf der politischen Ebene nicht, auf der gesellschaftlichen Ebene nicht. Und warum sollen sie es jetzt auf einmal können, es hat ja nie jemand von ihnen verlangt.


C.Ö.: Ich denke, die Zivilgesellschaft steht so vor einer Aufgabe, die sie gar nicht alleine leisten kann. Wir Politiker sind aufgefordert, sie zu unterstützen. Wenn wir in einem gemeinsamen Deutschland leben, dann ist die Sächsische Schweiz auch Teil meiner Heimat. Also habe ich als Politiker da gefälligst hinzugehen und mich mit den dortigen Sorgen und Nöten zu beschäftigen, mal abgesehen davon, dass es einfach ein wunderschöner Flecken Deutschlands ist. Aber es ist eben auch so, dass nicht alle dort bei der AfD sind. Und diese Menschen haben es auch verdient, dass man sie nicht alleine lässt, sondern sich mit ihnen beschäftigt. Und um die, die in der Gefahr stehen, zur AfD zu gehen, müssen wir ringen. Auch diese Aufgabe ist nicht ausschließlich die Aufgabe derer, die von dort kommen oder dort wohnen, das ist mindestens genauso mein Job.


A.K. Da hast du Recht. Die Politik, die Parteien sollen mitwirken. Aber sie sollen es eben nicht alleine machen. Da kommen wir nochmal auf die Rolle der Stiftung. Wenn man sich mal ansieht, wie viele Unternehmen es gibt, die viel Geld in zivilgesellschaftliche Arbeit stecken, auch in lokale Arbeit. Wem gehören die? Westdeutschen. Wo investieren die? In Westdeutschland. Es gibt so viel Geld, in so vielen Stiftungen. Und das wird alles mehr oder weniger im Westen investiert. Aber gerade im Osten braucht es einen finanziellen Wumms, um dem Bedarf gerecht zu werden.


C.Ö.: Ja, eine demokratische Kultur ist nicht weniger wichtig als eine ausgebaute Autobahn.


A.K.: Das habe ich ja immer gesagt. Da werden Brücken gebaut, die von A nach B, führen, aber vielleicht gar nicht benutzt werden. Weißt du noch, wir haben ja immer diese Zahlenspiele gemacht: Lass doch mal eine Brücke weniger bauen – was würden wir damit anstellen... Es ist so viel möglich! Für die Zivilgesellschaft. Wir bräuchten eine neue Form von Aufbau Ost. Milliarden von Euros sind in den Osten geflossen. Die Zuwendungen für den Aufbau sind an so viele Kriterien gebunden, warum gibt’s da nicht ein Demokratie-Parameter? Ihr kriegt das Geld nur, wenn ihr in eurer Kommune dafür sorgt, dass die und die Leute beschützt werden, dass dies und jenes nicht abgewickelt wird. Man kann Anreize schaffen. Kurz und gut – Aufbau Ost auf eine andere Weise. Das wäre mein Wunsch!

Das Gespräch erschien zuerst zum 20-jährigen Bestehen der Aktion „Mut gegen rechte Gewalt“ von stern und Amadeu Antonio Stiftung.

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