Vor 10 Jahren, am 1. Juli 2009, wurde Marwa el-Sherbini aus rassistischen und antimuslimischen Motiven in Dresden im Gerichtssaal mit 18 Messerstichen ermordet. Sie war zu diesem Zeitpunkt das zweite Mal schwanger und der tödliche Angriff geschah vor den Augen ihres Sohnes. Ihr zur Hilfe eilender Mann wurde mit drei Messerstichen lebensgefährlich verletzt und von einem Polizisten am Bein angeschossen, weil er für den Täter gehalten wurde. An die Ermordung von Marwa el-Sherbini wird seit Jahren mit bundesweiten Aktionen als Tag gegen antimuslimischen Rassismus erinnert. Wir gedenken an die Ermordung von Marwa el-Sherbini und teilen die Rede unserer Kollegin Kiana Ghaffarizad, die sie anlässlich der Neugestaltung und Wiedereröffnung des Bremer Gedenkpavillons für die Opfer rechter Gewalt sowie anlässlich der Platzbenennung nach Marwa el-Sherbini gehalten hat. Der Platz wurde vom Jugendprojekt Köfte Kosher gestaltet.
Weitere Informationen zu dem Köfte-Kosher-Gedenkpavillon auf dem Marwa-El-Sherbini-Platz finden Sie hier https://koefte-kosher.de/
Desintegrieren – Empowern – in Utopien denken
Rede von Kiana Ghaffarizad,
anlässlich der Neugestaltung und Wiedereröffnung des Bremer Gedenkpavillons für die Opfer rechter Gewalt, entwickelt und gestaltet durch das Jugendprojekt Köfte Kosher sowie anlässlich der Platzbenennung nach Marwa el-Sherbini – Bremen, 18.10.2018
„[…] Ich spreche von radikaler Menschenliebe. Menschenliebe.
Ich spreche davon, eine Welt mitzukreieren, wo wir alle Platz
haben können
Ich spreche davon, dass wir uns vor den Problemen dieser Welt nicht verschließen können, weil sie uns alle angehen
dich und mich
Ich spreche davon, dass ich das alleine nicht schaffe und dich
bitte, mich zu unterstützen, indem du deinen Anteil daran findest“[1]
Die Zeilen, die ich eben vorlas, stammen aus einem Gedicht von Stefanie Lahya Aukongo – einer in Berlin lebenden Künstlerin, Lyrikerin und Aktivistin die – wie sie selbst erzählt – in ihren Texten über Erfahrungen aus einer Welt schreibt, die für sie, für eine queere Schwarze Frau, die von gesellschaftlicher Behinderung betroffen ist, die über Erfahrungen aus einer Welt schreibt, die nicht für sie gemacht ist.
Eine Welt, die für viele von uns nicht gemacht zu sein scheint. Eine Welt, die nicht gemacht zu sein scheint für Belaid Baylal. Mehmet Kubaşık, Ahmet Sarlak. Francoise Makodila Landu. Helmut Sackers. Klaus-Peter Beer. Alfred Salomon. Karl-Hans Rohn. Dragomir Christinel. Andreas Oertel. Alberto Adriano. Und für Marwa el-Sherbini.
Eine Welt, die für viele von uns, eigentlich die meisten von uns nicht gemacht zu sein scheint. Nicht für die, deren Körper, deren Religion, deren Selbstbilder nicht dem Bild, dem als Ideal phantasierten Bild eines weißen, heterosexuellen, heterosexuell begehrendem, gesellschaftlich nicht behindertem, cis- geschlechtlichen und irgendwie christlichen oder wenigstens christlich sozialisierten, aber bloß nicht jüdischen oder muslimischen „Normdeutschen“ entsprechen. Die, die diesem als Norm, als Ideal bloß phantasierten und doch so wirkmächtigen Bild überhaupt nicht entsprechen wollen.
Doch.
Diese Welt ist auch für sie gemacht. Diese Welt ist auch für uns gemacht. Sie wurde uns nur weggenommen. Und wir holen sie uns zurück. Wir sind schon längst dabei, sie uns zurückzuholen.
Liebe Freund_innen, Liebe Politisch Verbündete und vor allem: Liebe Jugendliche aus dem Projekt Köfte Kosher: heute habt ihr wieder die Welt ein kleines Stück für uns zurückgeholt.
Dazu gehört die Benennung des Platzes hier nach Marwa el-Sherbini, deren Leben durch einen antimuslimisch rassistisch motivierten Mord vor 9 Jahren ausgelöscht wurde. Der Mörder von Marwa el-Sherbini fand, dass es für sie, für eine muslimische Frau keinen Platz auf dieser Welt gäbe. Wie falsch er doch lag. Liebe Marwa el-Sherbini, dein Leben wurde ausgelöscht. Doch weder dein Name, noch die Erinnerung an deine Person. An diesem Platz. Und an ganz vielen anderen Plätzen auf dieser Welt.
Den Platz nach Marwa el-Sherbini zu benennen, ist nicht nur deswegen ein wichtiger Akt, weil er dafür sorgt, dass sie nicht in Vergessenheit gerät. Dass rassistische Morde nicht einfach in Vergessenheit geraten.
Für mich steht die Platzbenennung auch für einen wichtigen Akt der Dekolonisierung und der Entnazifizierung des Bremer Stadtbilds. Eine Stadt, in der so viele Straßen die Namen derjenigen tragen, die als Täter_innen am deutschen Kolonialismus und am Nationalsozialismus mitgewirkt haben. Eine Stadt, die mit ihren Straßennamen rassistische und antisemitische Handlungen von Menschen bis heute würdigt, während Betroffene von Antisemitismus, Rassismus und anderen Gewalterfahrungen noch viel zu wenig Anerkennung erfahren. Ich wünsche mir und ich hoffe, dass die Benennung dieses Platzes nach Marwa el-Sherbini einen weiteren Schritt darstellt für die Umbenennung all der Straßen und Orte, die bis dato Antisemitismus und Rassismus verharmlosen, die sie normalisieren. Dass der heutige Tag einen weiteren Schritt darstellt, für die Umbenennung von Straßen nach denjenigen Menschen, die gegen Gewalt und Unterdrückung ihre Stimmen erhoben haben. Für die Umbenennung nach Personen, deren Worte, deren Handlungen uns allen Mut machen, dass auch wir unsere Stimmen immer wieder und weiterhin erheben.
Dass die Welt ein kleines Stück für uns alle zurückgeholt wurde, das haben wir heute euch zu verdanken, liebe Jugendliche des Köfte Kosher-Projekts und liebe Initiator_innen und Projektleitende.
Heute spreche ich zu euch in Vertretung für Anetta Kahane, der Gründerin und Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. Und ich erinnere mich an eine meiner ersten Begegnungen mit ihr. Da erklärte sie mir in einem Gespräch das Konzept Tikkun Olam, eines der wesentlichen Bausteine des Judentums bzw. ein wesentliches Lebensprinzip für viele Juden_Jüdinnen. Tikkun Olam, erklärte sie mir, bedeutet wortwörtlich so viel wie die Welt zu reparieren, sie zu heilen. Tikkun Olam ist das Versprechen, mit dem eigenen Handeln auf die Verbesserung der Welt hinzuwirken, eine Verbesserung der Welt in Hinblick auf soziale Gerechtigkeit.[ii] Eine Welt, in der für alle ein menschenwürdiges Leben möglich ist, für Juden_Jüdinnen wie für Nicht-Juden_Jüdinnen. Denn Tikkun Olam beinhaltet einen universalistischen Grundgedanken: Die Verbesserung der Welt soll allen Individuen auf dieser Welt dienen. Das Judentum, erklärte mir Anetta, verpflichtet zugleich nur Jüdinnen_Juden dazu, sich Tikkun Olam zu widmen. Anetta meinte noch, es wäre selbstverständlich schön, wenn auch Nicht-Juden_Jüdinnen sich Tikkun Olam widmen würden. Doch, so Anetta, wir können wir ja nicht Andere, sondern nur uns selbst zu etwas verpflichten. Gestern rief ich Anetta an, um sie zu fragen, welche Grußworte ich euch in ihrem Namen überbringen kann. Sie bat mich, liebe Menschen von Köfte Kosher, euch mitzuteilen, dass für sie das Projekt genau unter dieser Idee des Tikkun Olam steht.
Für Anetta als Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, die bundesweit bereits über 1000 zivilgesellschaftliche Projekte gefördert hat, die sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus einsetzen, für sie und für uns Stiftungsmitarbeiter_innen gilt Köfte Kosher als ein Herzensprojekt. Liebe Köfte Kosher: ihr seid 2012 im Rahmen der Aktion „Mut gegen rechte Gewalt“ als Projekt gestartet: eine Aktion, die die Stiftung gemeinsam mit dem Magazin Stern im Jahr 2000 ins Leben gerufen hat. Ihr wart junge Schüler_innen, die sich selbst als Juden_Jüdinnen und Muslim_innen verstanden. Ihr habt euch im Projekt intensiv mit Alltagsdiskriminierung auseinandergesetzt, ihr habt euch dabei gegenseitig zugehört, eure Erfahrungen geteilt, was es heißt, von Antisemitismus, Rassismus und anderen Diskriminierungen betroffen zu sein. Ihr habt die Erfahrungen der Anderen anerkannt, egal, ob sie euren ähnlich waren oder ganz anders. Ihr habt euch gegenseitig gestärkt. Ihr habt euch miteinander solidarisiert. Ihr habt euch dann dazu entschlossen, Betroffenen von rechter Gewalt in Deutschland eine besondere Würdigung zukommen zu lassen und habt gemeinsam eine Gedenkwand für sie gestaltet.
Das Projekt Köfte Kosher war mit der Gestaltung der Gedenktafel nicht zu Ende. Heute, 6 Jahre später, seid ihr, die Gruppe, die sich bei Köfte Kosher engagiert, eine ganz andere als damals. Doch die Idee ist die gleiche geblieben. Vernetzung und Solidarisierung untereinander. Gegenseitige Stärkung. Sichtbarmachung von antisemitischer, rassistischer, homo- und transfeindlicher und behindertenfeindlicher Gewalt in Deutschland. Anerkennung für und Würdigung der Menschen, die dieser Gewalt zum Opfer fielen, die ihnen tagtäglich zum Opfer fallen. Ihr habt mit der Gestaltung der Gedenktafel und mit der heutigen Wiedereröffnung Menschen Namen und Gesicht wiedergegeben, die in den Kriminalitätsstatistiken nur noch als eine Zahl auftauchen, die in den öffentlichen und medialen Debatten um rechte Gewalt oft nur als eine anonyme Masse verhandelt werden.
Köfte Kosher war und ist ein Herzensprojekt der Amadeu Antonio Stiftung. Es ist ein herausragendes Beispiel dafür, was lokales Engagement bewegen kann. Ein Beispiel für die Power, die junge Menschen mitbringen, um die gemachten Trennungen in verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu überwinden, um sich zu verbinden, um in dem Verbundensein gemeinsame Handlungsmöglichkeiten gegen Diskriminierung und rechte Gewalt zu visionieren und in die Praxis umzusetzen. Wir von der Amadeu Antonio Stiftung empfinden großen Respekt für euren Mut, für eure großartige Arbeit. Wir empfinden vor allem großen Respekt für eure solidarischen Haltungen.
Für Anetta Kahane verkörpert Köfte Kosher die Idee des Tikkun Olam. Für mich verkörpert Köfte Kosher noch eine weitere Idee, und zwar eine Idee, zu der mich unter anderem Max Czollek[iii] inspiriert hat, ein jüdischer Essayist und Lyriker, in dessen kürzlich erschienenem Buch ich folgende Aufforderung las: Desintegriert euch! Desintegration als Handlungsprinzip für die Verbesserung der Welt. In den Bäuchen derjenigen, für die das Wort Integration sehr positiv klingt und die „Integration“ als die Leitidee unserer heutigen Gesellschaft, als die Lösung für die meisten gesellschaftlichen Probleme auf- und abdeklinieren, denen mag es gerade gehörig im Bauch grummeln. Es darf ruhig grummeln. Ich erkläre kurz, was Max Czollek unter der Idee der Desintegration versteht. Ich hoffe, dass die Bäuche dann weniger grummeln: Mit dem Aufruf Desintegriert euch! wendet Max Czollek sich an diejenigen von uns, von denen die weiße christlich-sozialisierte Mehrheitsgesellschaft meint, dass wir nicht selbstverständlicherweise dazugehören. Sein Aufruf Desintegriert euch! richtet sich ermutigend an die in Deutschland lebenden Juden_Jüdinnen und meint: Befreit euch von den Rollenerwartungen, die die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft an euch heranträgt. Sein Aufruf Desintegriert euch! richtet sich an People of Color, Schwarze Menschen, an queere Personen und möchte sie ermutigen, jene einengenden Rollenzuschreibungen und gesellschaftlichen Platzzuweisungen, die die weiße christlich- sozialisierte Mehrheitsgesellschaft für sie bereithält, kritisch zu reflektieren. Jene einengenden Rollenzuschreibungen nicht anzunehmen und gesellschaftliche Platzzuweisungen zurückzuweisen. Sich zu Des-Integrieren.
Denn, wenn wir uns die politischen Rufe nach Integration in Deutschland genauer anschauen, was wird da eigentlich immer wieder – manchmal ganz offensichtlich manchmal sehr subtil – gefordert von den Menschen, die als integrationsbedürftig adressiert werden? Die Forderung lautet: Passt euch an ein Gesellschaftssystem an, das einige wenige zur absoluten Norm gesellschaftlichen Zusammenlebens erklärt haben, während alle anderen Lebensformen und Lebensentscheidungen als Abweichung, als das Andere, das nicht Passende, als das passend zu Machende oder gänzlich Auszuschließende definiert haben: Wenn wir Muslim_innen in Deutschland sein wollen, dann bitte nur ganz unauffällig, Klappe halten und irgendwie am besten ohne Kopftuch. Wenn wir Juden_Jüdinnen in Deutschland sein wollen, dann bitte der christlich-sozialisierten weißen Mehrheitsgesellschaft den Persilschein aushändigen, dass sie das mit der Entnazifizierung schon ganz ordentlich hingekriegt haben und dann am besten im gleichen Atemzug auch noch Israel ‚kritisieren‘. Dann erst gelten wir als integriert. Dann erst wird uns einigermaßen gesellschaftliche Anerkennung, wird uns gesellschaftliche Teilhabe – zumindest in Teilen – zugestanden. Max Czollek fragt mit Blick auf dieses Integrationsparadigma: Welche Teile der Geschichte, welche Teile der Gegenwart müssen dafür unsichtbar gemacht werden? Und formuliert darauf hin: Desintegriert euch! Von der Erwartung der Mehrheitsgesellschaft, dass wir Betroffene bei eurem Unsichtbarmachen mitmachen.
Liebe Menschen des Köfte Kosher-Projekt, für mich steht euer Engagement für die Idee der Desintegration, wie sie unter anderem Max Czollek formuliert und zwar deswegen: Weil ihr mit der Gestaltung der Gedenktafel nicht zulasst, dass die Opfer rechtsextremer Gewalt vergessen werden. Weil ihr euch selbstbestimmt und selbstbewusst für ein Sichtbarmachen einsetzt. Weil ihr euch des-integriert von den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft, wann Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung zum Thema gemacht werden soll und wann aber auch bitteschön nicht, weil’s dann irgendwie immer ungemütlich wird und viel lieber will man doch jetzt die eingestaubte deutsche Nationalflagge sauberbürsten und aus unseren Küchenfenstern flattern sehen. Weil ihr nicht schweigt, obwohl es ungemütlich wird. Weil ihr nicht die Rolle der angepassten Schweigenden annehmt, der Wegzuschweigenden, von dem, was in diesem Land an rechter Gewalt passiert. Und weil ihr uns anderen damit ein Vorbild seid, uns auch und weiterhin für das Sichtbarmachen und das Überwinden dieser Gewalt einzusetzen.
In diesem Land wird so einiges unsichtbar gemacht. Insbesondere wird unsichtbar gemacht, wie viele Menschen tagtäglich Opfer von rassistischer, antisemitischer und homo- und transfeindlicher Gewalt werden. Es wird unsichtbar gemacht, welche Rolle Antisemitismus, Rassismus und andere Diskriminierungen im Alltag von Schwarzen Menschen, People of Color, Juden_Jüdinnen und LGBITQ-Personen spielen. Allein zwischen Januar und April des Jahres 2018 wurden bei der Polizei 3714 Straftaten registriert, die von Rechtsextremist_innen begannen wurden[iv]. Erst vor wenigen Wochen wurde in Chemnitz die rechtsextreme Terrorgruppe „Revolution Chemnitz“ aufgedeckt; in der Stadt, in der zeitweise die Mitglieder des NSU untergetaucht waren. Die Terrorgruppe hatte offensichtlich für den 3. Oktober Anschläge auf People of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte geplant. Vor wenigen Wochen, das heißt, nur wenige Monate nachdem nach Münchener Oberlandesgericht in seinem Abschlussurteil des NSU-Prozesses darauf beharrte, dass der NSU ein isoliert agierendes Trio mit nur wenigen Unterstützer_innen war gewesen sei. Pro Asyl dokumentiert täglich mehrere Angriffe auf geflüchtete Personen und Geflüchtenunterkünfte.
Deutschland im Herbst. Deutschland im Herbst seit Jahren und Jahrzehnten.[v] Deutschland, die Akteure deines Integrationstheaters brüllen mir die Ohren taub, während die Rechtsextremen geschützt durch dein Brüllen weiter ihr braunes Süppchen kochen, an dem unsere Seelen und unsere Körper verbrennen.
Während die strafrechtliche Erfassung rechtsextremer Gewalttaten oft lückenhaft bleibt, während in der juristischen Ahndung noch viel zu oft lieber von „individuellen Gründen“, „Nachbarschaftsstreit“ und „die Motive sind unklar“ gesprochen wird, während ein breiter Teil der medialen Landschaft sich nach wie vor viel zu oft darum drückt, Rassismus, Antisemitismus, Homo- und Transfeindlichkeit als gesamtgesellschaftliche Probleme anzuerkennen und dementsprechend zu berichten, und während es vor allem gesamtgesellschaftlich ein viel zu geringes Interesse an den Schicksälen der Opfer rechter Gewalt gibt und insbesondere an den Perspektiven und Reflexionen von People of Color, Schwarzen Menschen und Juden_Jüdinnen, bemühen sich unter anderem verschiedene Opferverbände und Selbstorganisationen bundesweit darum, diese Leerstellen zu füllen. Unsichtbares sichtbar zu machen. Die Perspektiven der Betroffenen hörbar zu machen.
Die breit gefächerte Existenz von Diskriminierungsformen und rechter Gewalt zeigen mit aller Deutlichkeit auf, welche Bedeutung Anlauf- und Beratungsstellen, welche Bedeutung mobilen Beratungsteams und weiteren Verbänden zukommt, die Betroffene unterstützen, sie juristisch wie psychologisch betreuen und ihre Interessen vertreten. Doch in der Beratungslandschaft herrscht noch viel Luft nach oben. Bundesweit gibt es nach wie vor keine flächendeckenden Netzwerke – je ländlicher wir schauen, desto weniger finden wir sie. Viele der Beratungsstellen sind mit viel zu geringen Mitteln finanziert, arbeiten oft nur mit anderthalb bis zwei vollen Stellen. Damit Opferberatungsstellen in Bremen und bundesweit professionell, parteilich und solidarisch mit den Betroffenen arbeiten können, brauchen sie mehr Unterstützung, mehr finanzielle Förderungen. Und das ist mein klarer Appell an die Politik! In dieser Stadt. Und auf Bundesebene. Ein Appell, den ich im Namen der Amadeu Antonio Stiftung an die zuständige Politiker_innen, die hier anwesend sind, formuliere: Setzen Sie sich dafür ein, dass Opferverbände in dieser Stadt und bundesweit besser gefördert, besser unterstützt werden. Setzen Sie sich für die Einrichtung flächendeckender Anlauf- und Meldestellen ein. Unterstützen Sie auf diesem Wege Betroffene rechter Gewalt, indem Sie, wie Lahya Aukongo es formuliert, Ihren Anteil daran finden.
Ich komme zum Ende meiner Worte.
Es gab Zeiten, da habe ich, als Frau of Color in dieser Gesellschaft, mich sehr darum bemüht, mich in jene gesellschaftlichen Rollenerwartungen hineinzuzwängen, die an mich herangetragenen wurden. Mich schweigend an jenen Platz, in jene Ecke zu stellen, zu der die freundlich winkende weiße Hand der hiesigen Mehrheitsgesellschaft mich hin delegiert. Heute nicht mehr. Den Rassist_innen und Rechten zum Trotz. Den Integrationsliebhaber_innen zum Trotz. Ich werde nicht mehr fremdbestimmt in dieser kleinen Ecke des gesellschaftlichen Raumes stehen bleiben. Ich werde selbstbestimmt durch das gesamte Haus tanzen. Und ich hoffe, dass ihr, liebe Jugendliche, liebe Freund_innen und politisch Verbündeten und all die Menschen, denen weißgemacht wird, dass ihre selbstgewählten Lebensformen, ihre Lebensentscheidungen in dieser Gesellschaft keinen Platz haben, dass ihr alle euch eurer Kraft, eurer Stärke, eurer Power vergewissert, Rassismus, Antisemitismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit zu trotzen, dass ihr euch eurer Power bewusst seid, die euch hilft, selbstbestimmt zu entscheiden, wie ihr leben wollt, wie ihr lieben wollt, woran ihr glauben wollt. Dass wir alle gemeinsam durch das Haus tanzen – ein Haus, in dem der Grundsatz Tikkun Olam lebendig ist.
Liebe Freund_innen, liebe politisch Verbündete, liebe Jugendliche vom Köfte Kosher Projekt: Heute haben wir uns gegen das Unsichtbarmachen entschieden. Gegen das Schweigen entschieden. Heute haben wir gesprochen. Und wir werden wieder und wieder und wieder unsere Stimmen erheben. Ich danke euch für euren Mut.
[1] Auszug aus dem Gedicht „Radikal“ von Stefanie-Lahya Aukongo. In: Stefanie-Lahya Aukongo (2018): Buchstabengefühle. Eine poetische Einmischung. Berlin: w_orten & meer, S. 41 – 44.
[ii] Siehe auch : Miriam Burzlaff/ Jonathan Rafael Balling (2017): Rainbow Chavurah. Ein Empowerment-Raum für queere jüdische Menschen. In: Micha Brumlik/ Marina Chernivsky/ Max Czollek/ Hanna Peaceman / Anna Schapiro/ Lea Wohl von Haselberg (Hg.): Selbstermächtigung. Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart 1/2017 ~ 1/5777. Berlin: Neofelis Verlag, S. 138 – 139, hier S. 139.
[iii] Der folgende Absatz bezieht sich auf: Max Czollek (2018): Desintegriert euch! München: Carl Hanser Verlag, insb. S. 43 – 45. Siehe auch: Micha Brumlik/Marina Chernivsky/Max Czollek/Hannah Peaceman/Anna Schapiro/Lea Wohl von Haselberg (Hg.): Desintegration. Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart 2/2017 ~ 2/5778. Berlin: Neofelis Verlag.
[iv] Quelle: https://www.tagesschau.de/inland/rechtsextremegewalt-101.html (Stand 17-10-2018).
[v] Die beiden Sätze sind eine Referenz auf das Gedicht Deutschland im Herbst der Afrodeutschen Poetin May Ayim. In: May Ayim (2016): Weitergehen. Gedichte. Aufl. 2. Berlin: Orlanda Frauenverlag, S. 72 – 74.