Die großen Demos gegen Rechts machen Mut, aber oft bleibt es zu ruhig in Deutschland. Zum Beispiel nach dem 7. Oktober. Empathielosigkeit war die Antwort der Meisten, wo Mitgefühl und Solidarität mit Jüdinnen*Juden angemessen gewesen wäre. Dabei gehört der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus zum Kampf gegen Rechts dazu.
Ein Kommentar von Dr. Nikolas Lelle, Leiter der bundesweiten Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus.
Vor zwei Wochen telefonierte ich mit einer Journalistin aus Hessen. Sie wollte wissen, wo die Mobilisierung zum Rechtsruck stattfindet. Wie heißen die Bündnisse, die etwas gegen die Wahlerfolge der AfD bei den anstehenden Landtags- und Kommunalwahlen tun wollen, fragte sie mich. Ich hatte keine Antwort. Größere Bündnisse waren mir nicht bekannt, Mobilisierungen waren lokal fokussiert und anlassbezogen. Es war still in Deutschland. Zu still, wenn man bedenkt, was uns bevorstehen könnte.
Es brauchte nicht viel, um die Situation grundlegend zu ändern. Die Rechercheplattform Correctiv offenbarte einige Tage später, was alle hätten wissen können: Deutsche Rechte grölen und raunen nicht nur, sie organisieren sich, verabreden sich, um ihre Taten zu planen. “Remigration” heißt das rechte Stichwort, das fortan in aller Munde war. Deutsche und österreichische Rechtsextreme hatten sich nämlich im November in Potsdam getroffen, um darüber zu beraten, wie nach einer Machtübernahme Millionen Menschen vertrieben und die Gewaltenteilung aufgehoben werden könnte. Ein „Masterplan für Deutschland“ müsse her. Da waren sich deutsche Unternehmer*innen, Neonazis und AfD-ler*innen einig.
Daraufhin wurde es endlich laut. In ganz Deutschland gingen in den vergangenen Tagen Hunderttausende auf die Straße, nicht nur in Hamburg, Berlin, Köln, Dresden und München, sondern auch in Pirna, Chemnitz und Fürstenwalde. Endlich formiert sich eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die die Demokratie gegen die Angriffe von Rechts verteidigen will. Angesichts der anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ist das dringend notwendig. Die Amadeu Antonio Stiftung hat sich dazu entschieden, dieses Jahr mit einem beachtlichen Schwerpunkt Projekte im Osten des Landes finanziell zu unterstützen, die sich gegen den Rechtsruck organisieren.
Zu den Angriffen der Rechten gehören seit jeher auch Angriffe auf die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten. Der AfD-Politiker Björn Höcke sprach bekanntlich schon 2017 in Dresden von der „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad”. Auch hier bleibt es nicht beim Reden und Raunen. Die deutsche Rechte versucht, aus dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus eines an die deutschen Helden und Märtyrer zu machen. Die Erinnerung an Auschwitz soll z.B. durch die an die Bombardierung Dresdens ersetzt werden.
Die diskursiven Angriffe auf die Erinnerung bildeten ein Klima, in dem auch praktische Angriffe auf Gedenkstätten alltäglich wurden. Im Sommer 2023 wendeten sich große, deutsche Gedenkstätten wie die in Buchenwald an die Öffentlichkeit: Beinahe täglich tauchten dort Hakenkreuz-Schmierereien auf. Seit dem 7. Oktober nehmen auch Angriffe auf die Erinnerung zu, die nicht ausschließlich der extremen Rechten zuzuordnen sind. Auf die genozidale Gewalt der Hamas folgte hier in Deutschland eine Welle des Antisemitismus. In Saarbrücken wurde ein Gedenkstein an die Opfer des Faschismus mit einer Palästina-Fahne übermalt. In Hannover klebten unbekannte Aufkleber mit der Parole „Free Palestine from German guilt“ an eine Gedenkstätte. Jeder Antisemitismus, so ließ sich in diesen Wochen verstehen, bringt Rufe nach einem Schlussstrich mit sich.
Nach dem 7. Oktober blieb es ruhig in Deutschland. Zu ruhig. Empathielosigkeit war die Antwort der Meisten, wo Mitgefühl und Solidarität mit Jüdinnen*Juden angemessen gewesen wäre. Denn noch immer befinden sich mehr als 130 Geiseln in der Hand palästinensischer Terroristen. „Nie wieder ist jetzt“ heißt die Parole, die als Antwort auf den 7. Oktober etabliert wurde. Sie taucht jetzt im Rahmen der Massendemonstrationen gegen Rechts wieder auf.
Denn die deutschen Rechtsextremen haben auf ihrer Tagung in Potsdam bewiesen, dass sie nicht nur die Erinnerung an die Verbrechen des NS torpedieren wollen. Sie wollen an sie anknüpfen. In ihrem Masterplan für Deutschland setzen sie auf Vertreibung und Ausbürgerung. Das erinnert an düstere Zeiten. Diesem Rechtsruck zu begegnen, wird nicht einfach sein. Es braucht mehr als Hunderttausende auf deutschen Straßen. Es braucht nachhaltiges und langfristiges Engagement vor Ort, es braucht eine Unterstützung derjenigen, die sich im Osten wie Westen dieses Landes in den Kommunen und Landkreisen rechtem Hass und Hetze entgegenstellen. Um zu begreifen, wohin dieses Land gerade steuert, braucht es auch historisches Wissen und eine kritische Erinnerung von unten.
Nach dem Gespräch mit der hessischen Journalistin war ich niedergeschlagen. Wie kann es sein, dachte ich, dass es so still in diesem Land ist. Wieviel größer muss die Bedrohungslage noch werden? Wie viel mehr Rassismus und Antisemitismus muss es geben, bis Menschen gemeinsam auf die Straße gehen? Am Ende brauchte es nur einen Anlass und Hunderttausende fluteten deutsche Städte. Die Zukunft wird zeigen, wie nachhaltig diese Bewegung ist. Immerhin startet 2024 mit ein wenig Hoffnung. Die neue Bewegung darf aber nicht vergessen, dass der Kampf gegen Rechts immer auch einer gegen Rassismus und Antisemitismus sein muss.
Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 79. Mal. Einen Tag vorher, am 26. Januar, gedenkt die Amadeu Antonio Stiftung, das Anne Frank Zentrum, der Bundesverband RIAS, AMCHA Deutschland und andere Organisationen der sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden mit dem Entzünden von Kerzen. Sie wollen teilnehmen? Alle Informationen finden Sie hier.