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Analyse

Mord in Idar-Oberstein: Online zeigt sich der Täter rechtsalternativ radikalisiert

Der 49-Jährige Softwareentwickler, der den 20-jährigen Studenten Alexander W. in Idar-Oberstein ermordet hat, zeigt sich in Sozialen Netzwerken rechtsalternativ radikalisiert.

Ein Mann nimmt einem jungen Menschen das Leben, weil dieser ihn bittet, zum Schutz und aus Rücksichtnahme eine Maske in einer Tankstelle zu tragen. Er tut dies nicht im Affekt. Der Täter fährt extra nach Hause, als der junge Kassierer sich weigert, ihm ohne Maske zwei Sixpacks Bier zu verkaufen. Er bleibt dort anderthalb Stunden, nimmt dann eine Waffe, die er – nach aktuellem Ermittlungsstand illegal – besitzt, fährt zurück zur Tankstelle, die er wieder ohne Maske betritt. Als der Kassierer, der 20-jährige Student Alexander W., ihn wieder auf die Maskenpflicht hinweist, schießt er dem jungen Mann gezielt in den Kopf. Er ist sofort tot. (vgl. zur Tat ZEIT)

CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet kommentierte die Tat bei einem Wahlkampf-Auftritt in Stralsund  mit dem Satz: „Diese Gewalt wollen wir in unserem Land nicht. Wir verurteilen diese Aggression und fordern jeden auf, das zu lassen.“

Kann jeder so etwas machen?

Einen solche Tat begeht aber potenziell nicht jede:r. Dazu braucht es schon ein menschenverachtendes und wahnhaftes Weltbild. Ein Welt-Verständnis, dass die eigenen Bedürfnisse – hier: ohne Maske Bier zu kaufen – über das Recht eines anderen Menschen stellt – sogar über das Recht, überhaupt zu leben. Der Täter sagte nach der Tat, die Corona-Pandemie belaste ihn stark. Er habe sich immer weiter in die Ecke gedrängt gefühlt und habe ein „Zeichen“ setzen wollen. „Dabei schien ihm auch das Opfer verantwortlich für die Gesamtsituation, da es die Regeln durchgesetzt habe“, so Staatsanwalt Fuhrmann (vgl. ZEIT). Er attackiert also den  20-jährigen Studenten und Kassierer Alexander W. als Vertreter des Systems, das er offenbar verachtete. Bei einigermaßen objektiver Betrachtung klingt dies so absurd, dass etwa auf Spiegel Online bereits ein Kriminalpsychologe äußert, der Maskenvorfall könne nicht die eigentliche Motivation des Täters sein.

Sich fortlaufend mit rechtsextremer Ideologie, Demokratieverachtung, Untergangsfantasien zu beschäftigen, führt allerdings zu einem solchen menschenverachtenden Weltbild, in dem ein Handlungszwang entsteht, das Gefühl, nun läge es an einem selbst und es gäbe keine andere Option mehr als Gewalt, selbst gegen Unschuldige und eigentlich Unbeteiligte. Belltower.News ist der Name des Täters bekannt, wir nennen ihn aber nicht, um einen rechtsextremen Kult-Status, den solche Täter schnell bekommen, nicht zu befeuern, und ihm den Ruhm zu nehmen, den er sich vielleicht durch eine solche Tat zudem erhofft. Allerdings lassen sich mit Kenntnissen zum Täter Social-Media-Profile in diversen großen Netzwerken finden – für einen Software-Entwickler mit Affinität zum Internet kein Wunder.

Der Täter auf Twitter: Ein rechtsalternatives Profil

Für politische Kommunikation hat er, nach aktuellem Recherchestand, nachweisbar vor allem Twitter verwendet. Ob der Täter auch ein durch die Pandemie gebeutelter Selbstständiger ist, der sich im „Querdenken”-Millieu herumgetrieben hat, um sich über Maßnahmen der Regierung wie Maskenpflicht zu erregen, zeigt der Twitter-Feed nicht. Der letzte Tweet ist von Oktober 2019, also weit vor der Pandemie.

Was der Twitter-Feed aber zeigt: Der Täter bewegt sich seit Jahren im rechtspopulistischen bis rechtsextremen Online-Kreisen, liest dabei nicht nur mit und liked Beiträge, sondern kommentiert aktiv und zeigt so recht deutlich ein antidemokratisches und antimodernes Weltbild – mit allen Stichworten, die die rechtsalternative Szene online gern verfolgt. Radikalisierung wird dabei auch kenntlich, die Aussagen werden potenziell immer unversöhnlicher – auch wenn Gewaltfantasien schon früher ein Thema sind.

Der Täter beschäftigt sich mit Publizisten der amerikanischen Alt-Right-Bewegung, schreibt auch auf Twitter direkt an Donald Trump. Er konsumiert Medien wie BILD, rechtsalternative Grauzonen-Medien wie die „Junge Freiheit”, „Tichys Einblick” oder die „Achse des Guten” oder den „Deutschlandkurier”, interagiert mit AfD-Politiker:innen wie Björn Höcke und Beatrix von Storch und AfD-nahen Akteuren wie Birgit Kelle oder Erika Steinbach. Das heißt: Er bewegt sich (hier) in einem Feld rechtsalternativer bis rechtsradikaler Agitation, keineswegs in rechtsextremen, terrorinteressierten Abgründen des Internets. Doch das menschenverachtende, antidemokratische Weltbild ist in den verschiedenen Szenen grundsätzlich ähnlich.

Entsprechend kommentiert der Täter zunächst abwägend, tastend. Er findet sich in die Szene ein. Seine Themen entwickeln sich von 2016 bis 2019:

  • Keine Meinungsfreiheit:
    Er prangert „Zensur” in Sozialen Netzwerken an, wenn die gegen Hate Speech vorgehen wollen.

  • Pressefeindlichkeit:
    Die Presse lüge und manipuliere.

 

  • Brexit:
    Die Engländer wollen den Brexit; dass dies in Europa negativ kommentiert wird, stellt das Ende der Demokratie in Europa dar.

  • Es gibt keine Nazis:
    Er habe noch nie einen Nazi gesehen.

  • Behindertenfeindlichkeit:
    beschimpft Greta Thunberg, versucht, aber, das durch ein „(leider)“ zu vertuschen.

  • Klimawandelleugnung:
    Fridays for Future zerstörten die Zukunft. Menschengemachten Klimawandel gäbe es nicht.

  • Vernichtungsfantasien, Menschenverachtung:
    Er freue sich auf Krieg, auf den „wir” unwiderruflich zusteuern würden. Ohne Krieg wären die Überbevölkerung und Dekadenz nicht in den Griff zu bekommen.

  • Hitler:
    Er argumentiert gern mit Hitler: Hitler habe auch Tierschutz eingeführt, sei dann Tierschutz schlecht? Überhaupt sei Hitler selbst ein Linker gewesen, weil ja Sozialismus.

  • Politikverdrossenheit:
    CDU vertrete keine christlichen Werte mehr; keine Partei könne man mehr wählen; Politiker:innen bereichern sich nur. Selbst Schuld, wenn sie bedroht werden.
  • Rassismus, Flüchtlingsfeindlichkeit:
    Wenn er von Geflüchteten liest „geht im das Messer in der Tasche auf“. „Wir werden sehen wohin dies führt.“

  • Der Staat ist zu schwach
    Polizisten seien in Deutschland nicht hart genug, griffen zu wenig  durch

  • Dämonisierung der „Grünen” und Kinderschutz:

  • Feindbild Antifa:
    Antifaschismus sei der wahre Faschismus
    Sozialismus und Bolschewismus hätten mehr Menschen umgebracht als der Nationalsozialismus.

  • Menschenverachtung:
    Die Weltbevölkerung müsse reduziert werden – auch mit Mitteln, die er lieber nicht ausschreiben möchte

  • Flüchtlingsfeindlichkeit, rechtsextreme Verschwörungserzählung des „Großen Austauschs“:
  • Fluchtbewegungen werden als gesteuert dargestellt

  • Rechtsterrorismus:
    Die Attacke auf die Synagoge von Halle wäre kein rechtes Attentat gewesen, die Tat werde nur instrumentalisiert, um gegen die AfD zu hetzen. Bei Björn Höcke kommentiert er: Der wisse doch genau, das Attentat geschehe nicht ohne Grund.

 

  • Der letzte Post verbreiten Endzeit-Stimmung.

Es ist über größere Strecken ein Weltbild, dass viele Menschen teilen, die sich online in rechtsalternativen Kreisen bewegen und dessen Komponenten rechtsalternative Medien täglich bespielen, mit klar benannten Feindbildern, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Flüchtlingsfeindlichkeit und Behindertenfeindlichkeit, Hass auf Parteiendemokratie und politisch Andersdenkende. Immer wieder nutzt der Täter auch Beschimpfungen und gewaltvolle Sprache, pöbelt andere in Diskussionen an. Hier werden über Jahre latent gewaltoffene und antidemokratische Inhalte verbreitet. Dies rufen aber wenig Resonanz hervor, weder Zustimmung noch Widerspruch. Mehrmals liked der Täter Berichte, in denen es darum geht, das Menschen ausgeschlossen, nicht gehört werden. Auffällig ist der zunehmende Wandel ins Wahnhafte, die Ablösung von der Realität.

Und Pandemieleugnung?

Vielleicht auch ein Grund, warum der Täter Twitter verlies? Er hat ein Telegram-Profil, mit dem aber keine Gruppen oder Kanäle abonniert wurden. Zum Mitlesen reicht ein solcher Account aber aus. Aktiv war er im Berufsnetzwerk Linkedin, mit seiner Firmenadresse im Profil. Hier äußerte er sich laut einem Bericht bei T-Online ab April 2020 pandemieleugnend, verbreitet Videos mit falschen medizinischen Aussagen oder mit der Verschwörungserzählung, 5G-Masten verstärkten oder erzeugten den Coronavirus. Er kommentiert gegen das Masketragen und gegen Lockdowns. Ob er auch offline bei Pandemieleugner-Demonstrationen mitgelaufen ist, ist noch unklar. Es gibt „Spaziergänge” dieses Spektrums im Nahe gelegenen Simmertal, die nach der Tat eine Pause angekündigt haben.

Verschwörungserzählungen um die Coronavirus-Pandemie haben in 2020 und 2021 viele Menschen online verbreitet. Das allein erklärt die Gewalt nicht, doch mit der rechtsradikalen Ideologie kommt eine Gemengelage zusammen, die offenbar dazu führt, dass beim Täter das Gefühl reift, selbst etwas tun zu müssen. Erfahrung mit dem Einschüchtern von anderen hatte er offenbar bereits. Eine Nachbarin beschreibt den Täter gegenüber RTL als aggressiv, frauenfeindlich, vulgär; sie habe Angst vor ihm gehabt. Sie sagt: „Es war eine Frage der Zeit, bis der so eskaliert.“ Die Polizei fand bei ihm weitere illegale Waffen im Haus – zusätzlich zu dem ebenfalls illegalen Revolver, mit dem der Täter das Opfer berechnend und mit Planung hinrichtete. Dies macht einen Unterschied aus: Die Besorgung illegaler Waffen – und die Tat, der geplante Mord. Damit hat der Täter die Grenze von der rechtsalternativen Social Media-Blase zum Rechtsextremismus endgültig überschritten.

Ein Opfer rechtsextremer Gewalt

Über das Opfer Alexander W. ist bisher nicht viel bekannt. Auf Fotos trägt er eine längeres Deckhaar und rasierten Seiten, einen moderner Iro – und passte damit optisch in die Feindbilder des Täters, der offenkundig nicht nur ein empörter Maßnahmengegner war, sondern ein Mörder mit rechtsextremer Motivation und Menschenverachtung. Alexander W. ist somit nicht nur das tragische Opfer eines verwirrten Pandemieleugners, sondern ein Opfer rechsextremer Gewalt.

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