Jüdisches Leben, das ist mehr als Kippa, Shoa und Antisemitismus: Unter dem Titel „Jüdisches Berlin. Mein, Euer, Unser?“ zeigt das Centrum Judaicum eine lebendige Collage von Geschichte und Gegenwart der Hauptstadt, gefördert durch die Amadeu Antonio Stiftung. Die zusammengetragenen Erzählungen zeigen die Vielfalt und Diversität jüdischen Lebens in Berlin und stellen gleichzeitig die Frage nach der Deutungshoheit auf dem Feld der Erinnerung.
von Yannik Böckenförde
Es waren gleich drei Jubiläen, die den Anlass für die umfangreiche Wechselausstellung im Centrum Judaicum boten: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, 350 Jahre Neugründung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und nicht zu vergessen: 25 Jahre (plus 1) Eröffnung des Centrum Judaicum selbst. Gut ein Jahr zuvor begonnen die Kuratorinnen mit den Vorbereitungen der Ausstellung. Unter der Leitfrage „Und was ist ihr jüdisches Berlin?“ waren die Bewohner:innen der Hauptstadt, jüdische wie auch nicht-jüdische, dazu aufgerufen, ihre persönlichen Geschichten zu teilen – ob in der Form persönlicher Anekdoten oder bedeutsamer Gegenstände.
„Jüdisches Leben ist immer noch eher Sache von Historiker:innen, Jüdische Gegenwart, das ist relativ neu“, sagt Anja Siegemund, Direktorin des Centrum Judaicums und eine der drei Kuratorinnen. Die Ausstellung des Centrums schafft beides: Durch die Augen heutiger Berliner:innen sollen die Geschichten, die Orte, die Institutionen jüdischen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart lebendig werden. Im Zentrum stehen aber immer ganz klar die individuellen Erzählungen und persönlichen Beziehungen. Sie vereinen verschiedenste Generationen, soziale Hintergründe und Migrationsgeschichten.
Jüdisches Leben und “Berliner Schnauze”
Im ersten der beiden Ausstellungsräume zeugen Alltagsgegenstände, Fotos, Gemälde, und familiäre Erinnerungen von der Vielfalt jüdischer Biografien in Berlin – „Geschichten-Kaleidoskop“ nennen es die Kuratorinnen. Das bunte Mosaik sprengt die abgedroschenen Bilder und Stereotype und auch „ein Museum der Hochkultur“ will das Centrum Judaicum hier nicht sein. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Heinz Holl, Überlebender des KZs Theresienstadt: Ab den 1950ern war er Betreiber berühmter Berliner Lokale, erst im Wedding, später in Charlottenburg: Seine Bars und Restaurants waren beliebte Treffpunkte für Künstler:innen und Prominente. Mit seiner unverkennbaren „Berliner Schnauze“ schrieb er eine Kolumne für die BZ und übernahm immer wieder Rollen in größeren Kinofilmen. Erzählt wird Holls Biografie durch die Worte seiner Tochter; Zeitungsausschnitte, Fotos, aber auch sein Häftlingsausweis aus Theresienstadt machen sie greifbar. Einprägsame Puzzleteile eines mannigfaltigen Lebens.
Kontinuität in Brüchen erzählt
Mit der eigens produzierten Videoinstallation „Jüdische Welten seit 1800” erwartet die Besucher im zweiten Raum der Höhepunkt der Ausstellung: Auf fünf großen, hochformatigen Monitoren begegnet man den Protagonist:innen der verschiedenen Videosequenzen in Lebensgröße. Erzählt wird von Betreiberinnen jüdischer Salons um 1800, der Geschichte des jüdischen Krankenhauses, oder einer „post-sowjetischen“ Familie im Berlin des Jahres 2021. Immer wieder geht es dabei um das „Anknüpfen“ an vergangener jüdischer Geschichte in der Gegenwart. Ein „Anknüpfen“, das nie als Kontinuität erzählt werden kann, sondern immer wieder durch geschichtliche Brüche geprägt ist. Ergänzt werden die Videos durch große Vitrinen, die aus den individuellen Erinnerungen herauszoomen und thematische Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Erzählungen ziehen.
„Die eine Erinnerungskultur gibt es nicht”
Die Ausstellung belässt es aber nicht bei der reinen Darstellung des Vergangenen, die Macherinnen wollen abschließend auch zur Diskussion über das „Wie“ und „Wer“ des Erinnerns anregen. „Wer spricht? Wer erinnert?“, aber auch „An wen wird erinnert?“ lauten die aufgeworfenen Fragen, die die Besucher:innen dazu bringen, sich kritisch mit der möglichen Zukunft des Erinnerns auseinanderzusetzen. In einem ausgestellten Videomitschnitt diskutieren hierüber fünf Kulturwissenschaftlerinnen und Künstlerinnen ganz unterschiedlicher Hintergründe.
Was deutlich wird: Auch Erinnerungskultur ist kein statischer Zustand, sondern ebenso vielschichtig und im Wandel begriffen. Es ist ein stetiger Prozess, den es zu gestalten gilt. Wie Anja Siegemund sagt: „Die eine Erinnerungskultur gibt es nicht“. Gerade in einer immer diverser werdenden Migrationsgesellschaft stelle sich die Frage des Erinnerns aus der Sicht unterschiedlicher biographischer Hintergründe immer wieder neu. Wie dieser vielfältige Aushandlungsprozess des Erinnerns, mit all seinen Stimmen und Hintergründe aussehen kann, dazu regt die Ausstellung an, indem sie sich eben nicht auf etablierte Bilder und Klischees verlässt, sondern ein vielfältiges Mosaik verschiedener Perspektiven schafft.
Noch bis zum 12. Juni läuft die Ausstellung „Jüdisches Berlin. Mein, Euer, Unser?“ im Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße. Weitere Information zum Besuch unter https://centrumjudaicum.de/portfolio-items/juedisches-berlin-erzaehlen-mein-euer-unser